1.600 km in 24 Stunden (Berlin-Bordeaux und weiter - 2001)


Idee und
Aufbruch                             nach oben

Tag 1, Berlin - Bordeaux (1.600 km)


Im Winter 2000/2001 bin ich während der vorbereitenden Recherchen zu meiner Doktorarbeit zufällig auf die Website der ›Iron Butt Association®‹ (https://www.ironbutt.org/) gestoßen (die verwendeten, mit ® gekennzeichneten Namen sind eingetragene Warenzeichen der ›Iron Butt Association®‹).


Der in Chicago ansässige Verein organisiert Langstreckenreisen mit dem Motorrad, die einzige Möglichkeit, Mitglied zu werden, besteht darin, eine der vom Verein ausgelobten Herausforderungen zu bestehen. Die Basisvariante und Mindestanforderung besteht darin nachweislich 1.000 Meilen in 24 Stunden auf dem Motorrad zurückzulegen (›Saddlesore 1000®‹). Für Europa entspricht dies 1.600 km, was ziemlich genau die Entfernung von Berlin nach Bordeaux ist. Da ich sowieso geplant hatte, im Sommer endlich mal wieder mit dem Motorrad zu meinem Lieblingsdorf in Süd-Portugal zu fahren, und mein üblicher Weg über die französische Atlantikküste führt, wollte ich bei der Gelegenheit auch den ›Saddlesore 1000®‹ absolvieren. Um über eine maximale Tageslichtlänge zu verfügen, habe ich den Beginn der Portugalreise auf das letzte Juni-Drittel gelegt. Ich habe mich zu den notwendigen Beweisen der Fahrt informiert und bei einer nahegelegenen Polzeiwache angefragt, ob sie mir Datum und Uhrzeit meiner Abfahrt auf einem vorbereiteten Formular bestätigen würden. Ein ähnliches Formular, mit einer kurzen Erläuterung, worum es geht, für das Ende der Herausforderung habe ich in Französisch - und für den Fall, dass möglicherweise ein ›Bunburner 1.500®‹ in erreichbare Nähe kommt in Spanisch vorbereitet. Auch das Motorrad habe ich entsprechend vorbereitet und bin Ende Juni 2001 kurz vor Sonnenaufgang bei der Polizeiwache erschienen. Die Beamten untershreiben und stempeln mein Formular belustigt, dann geht es auf die Autobahn Richtung Westen. Trotz guten Wetters ist es morgens um halb sechs bitterkalt auf der Autobahn. Schon nach 200 km muss ich die erste Rast für einen heißen Kaffee einlegen. Kurz hinter Hannover dann der zweite Stopp, diesmal zum Tanken.



Fortwährende Verzögerungen                    nach oben


Auf der A2 zwischen Hannover und dem Kamener Kreuz gerate ich dann in den hier fast immer üblichen Stau. Ich hatte den Ferienbeginn in den verschiedenen Bundesländern berücksichtigt, aber nicht, dass die Autobahnverwaltung vor Ferienbeginn noch schnell die Autobahnen reparieren wollte. Die ganze Zeit über berechne ich meinen bisherigen Stundenschnitt und aus der fehlenden Strecke bis Bordeaux die voraussichtliche Akunftszeit. Ich habe schon einige Stunden verloren, bin aber noch immer sicher im 24-Stunden-Fenster.


Die A1 hinter dem Kamener Kreuz ist trotz Berufsverkehr staufrei und ich komme schnell voran. Noch vor Mittag halte ich hinter Aachen zum Tanken und passiere die Grenze nach Belgien. Ich habe Hunger, aber keine Zeit. Hinter Mons erlaube ich mir einen Kaffee in der Sonne hinter einer Tankstelle. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden erst mitten in der Nacht in Bordeaux anzukommen.


Am Abzweig von der französischen A2 (Brüssel) auf die A1 (Paris-Lille) beginnt es zu regnen. Der Regen drückt meinen Stundenschnitt weiter. Den ›Périphérique‹ von Paris erreiche ich im nachmittäglichen Feierabendverkehr. In einem der vielen Tunnels hat es einen Auffahrunfall gegeben. Ich folge dem Beispiel der einheimischen Motorräder und schlängele mich zwischen den Autos hindurch. An der Unfallstelle steht ein Polizist, der mich mit dem Zeigefinger ermahnt, auf meiner Spur zu bleiben.


Endlich biege ich auf die A10 nach Süden ein, aber es regnet immer noch. In Orleans folge ich der A10 Richtung Südwest. Der Blick von der Autobahn auf die Silhouette von Tours ist wie immer beeindruckend. Hinter Tours hört der Regen auf, aber alles ist nass und mit der beginnenden Dämmerung wird es kalt - mir ist furchtbar kalt und ich bin totmüde. Als ich die Raststätte Nior passiere, wo vor sechs Jahren mein gebliebter Chevrolet Malibu mit Pleuellagerschaden gestrandet ist, ist es vollständig dunkel. Bis Bordeaux sind es nur noch rund 150 km, eine gute Stunde. 30 km vor Bordeaux an der Einmündung der N10 halte ich an einer Total-Tankstelle und tanke nochmals voll. Bei einem Automatenkaffee denke ich darüber nach, wo und wie ich mir in Bordeaux meine Ankunftsbestätigung ausstellen lassen soll. Ich setzte mich neben die BMW auf den Asphalt des Parkplatzes, ich bin jetzt seit zwanzig Stunden unterwegs und habe die geplanten 1600 km praktisch geschafft.


Planänderungen                               
nach oben

2. Tag, Bordeaux - Salamanca (700 km)


Ich überlege, ob ich nicht tatsächlich direkt zur nächsten Schwierigkeitsstufe, dem ›Bunburner 2500K®‹, 2.500 km in 36 Stunden, wechseln soll. Das wären nur noch weitere 900 km in den nächsten 16 Stunden. Damit könnte ich jetzt 4 oder 5 Stunden schlafen. Ich gehe im Kopf die nächsten paar Hundert Kilometer durch. Hinter Bordeaux beginnt die stinklangweilige vierspurig ausgebaute N10 nach Bayonne und zur spanischen Grenze. Diese Strecke kann und will ich heute nicht mehr abreißen. Und nach ein bisschen Schlaf bis kurz hinter Caceres zu fahren, erscheint mir ganz leicht.


Ich schiebe die BMW auf den Fußweg vor den Parkbuchten und lege meine Isomatte daneben. Ich lege mich, wie ich bin, auf die Isomatte und schlafe sofort ein. Gegen sechs beginnt es, hell zu werden. Die 24 Stunden für den ›Saddlesore 1000®‹ sind abgelaufen. Ich stehe auf und wasche mir notdürftig Hände, Gesicht und Hals. Nach einem weiteren Automatenkaffee in der Raststätte bin ich wieder unterwegs. Die 160 km durch die Pinienwälder der südlichen Atlantikküste von Bordeaux bis Bayonne sind auch nach sechs Stunden Schlaf nur schwer zu ertragen. Immerhin wird es jetzt zügig warm und die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel. Hinter Bayonne beginnt das verwirrende Netz von Autobahnkreuzen und -abfahrten bis zur Grenze nach Spanien, zumindest ist die Strecke jetzt nicht mehr langweilig. Gegen neun kommt rechts der Atlantik in Sicht, ich entscheide mich, die Autobahn zu verlassen und in San Sebastian an der Strandpromenade zu frühstücken. Ich sitze mit Blick auf das Meer und trinke ›Café con leche‹ und esse eine ›Tortilla francesa‹, ein Omelette. Ich genieße das Essen und die ruhige Stimmung in dem kleinen Café am Meer, und ich stelle fest, dass ich im Urlaub bin und meine ›Iron Butt®‹-Idee lustig, aber blödsinnig war. Ich gebe auch den ›Saddlesore 2500k®‹-Plan auf und will nun einfach nur noch entspannt nach Carrapateira fahren.


Urlaub                              nach oben

Erleichtert und beschwingt bezahle ich mein Frühstück und fahre zurück Richtung Autobahn, nehme jedoch nicht die Auffahrt, sondern überquere die Autobahn auf der Nationalstraße und fahre geradeaus in die Berge. Was sich allerdings nicht als gute Idee erweist, schon nach wenigen Minuten stehe ich im Stau einer Baustelle. Hinter der abwechselnd für den Verkehr bergab und bergauf freigegebenen Engstelle führt mich eine neue breite Nationalstraße über Tolosa auf den westlichsten Pyrennäenpass und hinab ins Navarra, im Tal biege ich nach rechts Richtung Vitoria ab, wo ich wieder auf meiner Hauptstrecke , der N1 Richtung Südwesten bin, hinter Vitoria entscheide ich mich für die langsamere, aber unterhaltsamere Nationalstraße, statt der mautpflichtigen, langweiligen Autobahn. Am frühen Abend bin ich in Valladolid und biege auf die E80 Richtung Portugal ab. Vor Salamanca geht rechts von mir spektakulär die Sonne hinter den Hügel Westspaniens unter.


In Salamanca fahre ich in die Stadt und suche mir ein billiges Hotel. Die Rezeption ist zugleich eine ›Bar‹, was in Spanien bedeutet, dass man Getränke und Kleinigkeiten zu essen bekommt. Ich buche ein Zimmer und bestelle ›Albondigas‹ und eine kleine Karaffe Rotwein. Es ist Mitternacht und inzwischen sind auch die 36 Stunden seit dem Start in Berlin abgelaufen, ohne dass ich die 2.500 km für den ›Saddlesore 2500K®‹ geschafft hätte. Das ist mir inzwischen aber völlig egal. Ich bin froh, dass ich endlich im Urlaub und im freundlichen Spanien bin.


Carrapateira                          nach oben

3. Tag, Salamanca - Carrapateira (650 km)


Ich wache früh, aber erholt auf, nehme eine Dusche, und bin am frühen Vormittag auf der hügeligen Landstraße Richtung Süden. Nach wenigen Kilometern sehe ich in einem kleinen Dorf links der Straße ein Café und halte für ein Frühstück. Ich setzte mich an einen Tisch  zwischen blühenden Blumen in den kleinen Vorgarten des Cafés und bestelle ein ›Bocadillo con lomo‹ und einen ›Café con lece‹. Die Kellnerin bringt eine große leere Tasse und erscheint kurz darauf mit einer silbernen Kaffeekanne und einem kleinen weißen Porzellankännchen. Sie gießt Kaffee und heiße Milch gleichzeitig in meine Tasse, ein junger Mann bringt einen Teller mit einem unterarmlangen Baguette mit einem gebratenen Schweinefilet darin. Das Baguette ist frisch und das Filet perfekt gebraten. Ich bin glücklich.

3. Tag, Dorf südlich von Salamanca


Nach einer Stunde Fahrt führen mich zwei Pässe von Kastilien in die Extremadura. Im Tal führt eine lange hohe Brücke über den hier zu einem langen See aufgestauten Tajo, der in Portugal Tejo heißt und in Lissabon in den Atlantik fließt. Kurz darauf bin ich in Cáceres und biege auf die ›Straße jenseits der Zaungrenze‹ ein, die nach Badajoz an der portugiesischen Grenze führt.


Die Landschaft ist weit und hügelig. Die Erde ist rot, und durchsetzt mit grünen Inseln unter den vereinzelten Korkeichen. Viel zu schnell habe ich die knapp 100 km zur Grenze hinter mir und fahre langsam an den erst kürzlich errichteten  Abfertigungsanlagen vorbei nach Portugal.


Die Autobahn nach Lissabon ist inzwischen fertig, aber ich entscheide mich für die hügelige N1, die gerade nach Westen verläuft. In Montemor biege ich auf eine kleine Landstraße Richtung Südwesten ab. Es ist noch immer bestes Sommerwetter. Nach schnurgeraden 15 Minuten auf der neuen N120 nehme ich in Grândola den Abzweig nach rechts auf eine weitere kleine Landstraße, die durch waldiges Bergland über Santiago do Cacém zurück auf die N120 führt. Jetzt sind es nur noch knapp 100 km bis Carrapateira. Vor Odeceixe führt die Straße wieder in die Berge, kurz darauf passiere ich die Grenze der Region Algarve. In Aljezur leuchtet die Ladekontrolllampe ein paar Mal kurz auf, geht dann aber wieder dauerhaft aus. Ich biege nach rechts auf die kleine Küstenstraße ab, die zum Cabo de São Vicente führt. In Bordeira, kurz vor Carrapateira, staut sich der Verkehr vor einer Trauerprozession - jemand aus einem der Dörfer ist gestorben. Zehn Minuten später parke ich die BMW auf dem Platz zwischen dem Mercado Municipal und Antonios ›Bravo Bar‹. Der Platz ist inzwischen mit Verbundsteinen gepflastert, die ehemals steile Abfahrt von der Hauptstraße hat sich in eine halbrunde gepflasterte Treppe verwandelt, an den Pfosten der neuen Laternen hängen genormte grüne Plastikmülleimer, neben Antonios Bar ist jetzt ein Laden für Surf-Zubehör, auch an der Seite der Markthalle gibt es einen kleinen Laden für Tourismusbedarf. Wo früher die Telefonzelle gestanden hatte, steht jetzt ein Kiosk mit einigen Tischen und Stühlen davor. Ich betrachte erstaunt die Veränderungen, die sich in den letzten zwei Jahren in dem kleinen Dorf vollzogen haben, und setze mich an einen Tisch vor Antonios Bar. Antonio begrüßt mich lachend und zeigt auf die BMW, »Chevy kaputt.«. Ich bestelle ein Bier und ein Sandwich.

3. Tag, Carrapateira


Nach Bier und Sandwich gehe ich die steile Dorfstraße  hinauf  zum Hotel-Restaurant von Madame Olivia, ich buche ein kleines Zimmer im ersten Stock. Beim Rückweg zur BMW stoppe ich kurz an einem Restaurant, das mir in all' den Jahren noch nie aufgefallen war, obwohl mir der Name ›Delfino‹ bekannt vorkommt, und studiere die im Fenster hängende Speisekarte. Hier will ich heute Abend essen, falls ich nicht - wie üblich - bei Manuel oben auf den Klippen esse.


Nach einem weiteren Bier bei Antonio mache ich mich auf den Weg, die Klippen und die Veränderungen dort zu begutachten. Die ehemals wilde Sandpiste, ist inzwischen zumindest für die ersten paar Hundert Meter breit ausgebaut und geschottert. Ein großes Plakat verkündet, dass hier Mittel des europäischen Regional-Entwicklungsfonds eingesetzt werden. Eigentlich ist das ganze Areal zwischen Landstraße und Küste Naturschutzgebiet und jegliche Neubauten sind verboten. Die ehemaligen  Fischerhütten auf den Klippen am Westrand Europas sind jetzt ein modern wirkendes Restaurant mit großer naturstein-gefließter Terrasse.

Carrapateira, Restaurant von Manuel


Die steile enge Schotterpiste hinab zum kleinen Hafen ist jetzt eine schmale asphaltierte Straße. Ich beschließe, im Dorf zu essen und Manuel an einem anderen Tag zu besuchen.


Enttäuscht über die ›Gentrifizierung‹ des kleinen Dorfs fahre ich zurück nach Carrapateira. Auf dem Rückweg flammt die Ladekontrolle erneut ein paar Mal auf. Irgendetwas ist gerade dabei kaputtzugehen, da muss ich mich in den nächsten Tagen d'rum kümmern. Bei Antonio sitzen die üblichen ›Estrangeiros‹, Ausländer, die dauerhaft in Portugal leben, viele der Deutschen kenne ich aus den letzten Jahren. Ich setze mich an einen Tisch nahe bei Gottfried und seiner Frau. Das Gespräch dreht sich um die Beerdigung heute Nachmittag. Der Bruder eines alten Einheimischen, mit dem ich in den letzten Jahren oft getrunken und geplaudert habe, ist vor ein paar Tagen am frühen Morgen beim Angeln von den Klippen gestürzt.


Außerdem lästern alle über Manuel, der irgendwie eine Baugenehmigung für sein neues Restaurant mitten im Naturschutzgebiet bekommen hat, während die dichter an der Straße liegenden halbfertigen Häuser der Estrangeiros seit Jahren einem Baustopp unterliegen. Einen Tisch weiter schimpft Rainer, der schon in den 80er Jahren, bevor das Naturschutzgebiet eingerichtet wurde, sein perfekt über dem südlichen Strand gelegenes Haus fast fertig gebaut hatte, lautstark über die Korruption und den unlauteren Einfluss, den Manuel ausgeübt haben muss. Angeblich arbeitet ein Cousin Manuels in der Kreisverwaltung in Aljezur...


Beim Zigarettenkaufen an der Bar spricht mich eine junge deutsche Frau an und sagt, dass sie Ari heißt. Sie wohnt bei Freunden, die vor ein paar Jahren südlich von Carrapateira einen kleinen Bauernhof mit einigen Wohngebäuden, Ställen und Hütten gekauft haben. Wir unterhalten uns kurz und ich ziehe von den Estrangeiros an ihren Tisch mit aderen Estrageiros und deutschen Touristen um.