Irgendjemand wartet immer (April 1998)


»Was? Ähh — ja.« Die Frau mit dem T-Shirt, das knapp über dem Bauchnabel aufhörte, hatte die Whiskyflasche zwischen Daumen und Ringfinger am Hals gefaßt und ließ sie vor Borks Gesicht hin und her pendeln. Ihr Nicken zeigte Anerkennung und Genugtuung. So als sei sie stolz darauf, es schon immer gewusst zu haben, und froh darüber, daß er es zu würdigen wusste. Zum ersten Mal fielen ihm jetzt die zarten Falten an ihren Armen auf. Sie musste älter sein, als die fast unmerkliche Rundung ihres Bauches vermuten ließ. Zum ersten Mal diesen Abend fragte er sich, ob er etwas mehr Energie in diesen Abend, in diese Bar-Situation, in diese Frau dort investieren sollte. Vielleicht wäre ein bißchen Nähe, ein bißchen Wärme ganz gut für ihn. Wenn Lucky Luke auch am Ende immer allein aus dem Bild reitet, heißt das schließlich nicht, daß er jede Nacht alleine einschläft. — Oder wahrscheinlich doch. Irgendwer ist immer allein. Das war doch aus irgendeinem verdammten Film: er konnte sich beim bestem Willen nicht erinnern.


Die Frau mit dem Bauchnabel wandte sich anderen Gästen zu. Die redeten mit ihr. Er hörte sie lachen. Er hatte nichts gesagt. Fast nichts, jedenfalls nicht mehr als er zu sagen hatte, heute. Ihm fiel ein, daß er vor ein paar Wochen hier in dieser Bar eine neue Geschichte aus seinem Leben destilliert hatte. Er wunderte sich immer noch darüber, daß ihm diese pathetischen Worte für seine Vergangenheit erst nach so langer Zeit eingefallen waren. »Ich habe schon zwei Kinder verloren. Nochmal will ich das nicht.« Er hatte beide Male keine Kinder verloren, aber es klang doch recht dramatisch und was gäbe es größeres für einen Abend in einer Bar als ein Drama. Er fragte sich, in welcher Art von Drama die Geschichten wohl geendet wären, wenn er seine Kinder bekommen hätte oder eher: wenn sie seine Kinder bekommen hätten, oder noch viel eher: wenn sie ihre Kinder bekommen hätten. Aber das war wie die Frage, was geschehen wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte ... unnötig — gemein und brutal. Manchmal ertappte er sich in der Freude des Gedankens, für immer nur der ›Onkel‹ zu sein und so das Gleichgewicht zwischen befreiender Kinderliebe und bedrängender Verantwortung selbst balancieren zu können. Und manchmal machte ihn die Vorstellung verlorener Erbfreundschaft tief traurig. Er mußte dann immer an diesen Song denken: »Nothing runs thicker than blood on blood.« Er kannte diese tiefste Solidarität nur aus der passiven Perspektive und wäre so gerne ebenfalls der Inbegriff des stets kritischen Allesverzeihers gewesen, immer Verrat witternd und immer Vertrauen schenkend, immer: — Vater.


Nein, das war nicht der Grund für das leere Gefühl, das sich nicht einmal zu einem anständigen Hass auswachsen konnte. Es war nur der überlaute Startschuß zu einer Reihe von kleinen Verletzungen, die jede einzeln überwindbar, in ihrer Summe aber tödlich gewesen waren. Das war nicht die Wunde, die ihn unheilbar verletzte. Es war nicht wie der Stolchstoß des Brutus, von dem der Dichter sagt, kein Stich schmerzte so wie der. Denn als der edle Caesar Brutus sah, warf Undank, stärker als Verräterwaffen, ganz nieder ihn: da brach sein großes Herz. Nein, all das war es nicht, nur der Anfang eines langsamen Schwindens. Und vielleicht war es nicht einmal die Ursache, vielleicht war es nur zufällig der Anfang; vielleicht war es nicht einmal der Anfang, vielleicht kam es ihm nur heute so vor.


Sie veränderte sich, ihre Prioritäten verschoben sich. Langsam, Stück für Stück wurde ihr Zukunft wichtiger als Gegenwart. Doch statt ihre Energie auf diese Zukunft zu richten, zog sie sie nur aus ihrer Gegenwart ab. Wo immer diese Energie hingeflossen sein mag, es muß ein sehr starker Ort sein, jetzt. Viele Monate Leben haben sich dort angesammelt. Für sie blieb nur unbestimmtes Unglück, ungerichtete Unruhe und — selten — Wut über ihre eigene Trägheit. Für ihn blieben Tränen und Schweigen.


Der Blonde stellte die Barhocker auf den Tresen und die Frau mit dem Bauchnabel deutete noch einmal auf die Whiskyflasche. Sie hatte sich gerade einen Joint angezündet und wurde plötzlich sehr redselig. Außer ihm waren nur noch zwei andere Gäste in dem Laden.


Einer verkaufte pappige Baguettebrote und Laugenstangen und zählte eben sein Kleingeld, er trank Rotwein. Der andere war ein bißchen zu alt für diese Bar, er war sehr betrunken und redete wirres Zeug in gebrochenem Deutsch. Vor ein paar Stunden war er mitsamt seinem Bier und Barhocker umgekippt, lachend wieder aufgestanden und hatte ein neues Bier bestellt. Jetzt sah er so aus, als würde er gleich über den Tresen kotzen — er schaffte es gerade noch bis vor die Tür. Na prächtig, die Stadt hatte ihn wieder. Genau solche Leute waren der Grund, warum er diese Gegend der Stadt nicht mochte. Das alles konnte den Blonden und die Frau mit dem Joint nicht aus der Ruhe bringen. Er fegte die Erdnussschalen zusammen und sie redete unaufhörlich auf ihn ein, von China und irgendeiner Party und, daß sie da unbedingt noch hinwollte. Er war sich nicht sicher, ob sie China oder die Party meinte, und sagte irgendetwas wenig geistreiches. Sie lachte. Er wollte ins Bett und seine kalten Hände um den warmen Bauch einer Frau legen. Wollte ihr vorsichtig aufs Ohr küssen und Geruch von einigen Stunden Schlaf einatmen.


Die Party war, wie er es erwartet hatte: Scheiße. Die Musik war so stumpfsinnig, daß man das Klappern eines kalten, alten Dieselmotors dagegen als melodisch empfinden würde. Er wurde drei mal gefragt, ob er Pillen kaufen wolle und einige Male öfter, ob er welche zu verkaufen habe. Er kannte nicht mal die Namen.


Irgendwann verzog sie sich mit ein paar Freunden auf die Toilette. Er kannte dieses aufgeregte Grinsen, das nie befriedigt werden kann. Es gab wirklich nicht viel, was er haßte; dieses Zeug stand ziemlich weit oben auf der kurzen Liste. Er machte sich auf den Weg zum Ausgang oder besser »Ausstieg« aus diesem verdammten Kellerloch. Unterwegs schnorrte er sich eine Zigarette. Irgendwie beruhigte es ihn ein bißchen, daß es in dieser Welt von Musik aus dem Computer und Drogen aus dem Chemielabor noch ehrliche Raucher gab, Menschen, die einfach nur fermentierte Blätter anzündeten und den Rauch einatmeten — vielleicht waren die auch nur aus Versehen hier, vielleicht hörten die sonst auch anständige Musik.


Der nächste Morgen war schauderhaft. Er rief gegen zehn im Büro an und erzählte was von Problemen mit dem Wagen und, daß er sich später noch mal melden würde. Als er das nächste mal aufwachte war es nach zwei. Das Hämmern im Kopf war nicht mehr so schlimm, aber er verfluchte sich dafür, daß er vor ein paar Stunden das Fenster aufgemacht hatte. Vor seinem Bett schwammen scheußlich bunte Birkenblätter in einer erstaunlich großen Pfütze. Die Temperatur außerhalb der Bettdecke lag knapp über dem Gefrierpunkt. Er schaltete den Fernseher ein und ein paar Kinder mit Augenbinden und Schildkrötenpanzern auf dem Rücken stritten sich um ein Stück Pizza. Da wurde ihm klar, daß er für diesen Scheiß wirklich schon ein bißchen zu alt war.


Plötzlich sah er eine Tür aufgehen, draußen ist heller Sonnenschein. Claudia Cardinale sagt, daß Sweet Water warten werde. Im Weggehen dreht sich Charles Bronson halb zu ihr um und sagt:


»Irgendjemand wartet immer.«