Wien - Nizza, August 2008

Alpen (© Georg Westermann Verlag, 1976)
Inhaltsverzeichnis

Fr., 1. August 2008, Wien - Turracher Höhe (A)
Der kleine rundliche, ungarische Schalfwagenschaffner klopft, steckt den Kopf ins Abeil und meldet in unnachahmlichem k.u.k.-Deutsch: „Leipzig Hauptbahnhof. 15 Minuten Aufenthalt.“ Die Fahrgäste sortieren sich in Raucher und Nichtraucher. Erstere eilen zu den Türen und auf den Bahnsteig, letztere bleiben ruhig im Nichtrauchernachtzug sitzen oder liegen. Die erste Zigarette seit Berlin und die letzte bis Wien. Der Kopfbahnhof in Leipzig ist bis auf die Raucher aus dem Nachtzug leer. Ich bin das erste Mal seit 2001 wieder in einem längeren Motorradurlaub. Sieben Uhr Frühstück im Abteil. Grenzübertritt nach Österreich ohne Formalitäten. Die mitreisenden Österreicher erklären, was man durch die Fenster sieht, und geben Prognosen für die anstehenden Wahlen ab. Ich studiere den Stadtplan von Wien und die Österreichkarte, um die heutige Etappe zu verinnerlichen. Erster Schritt heute: die Strudlhofstiege in Wien.

Fr., 1. August 2008, Wien, Sztrudelhofstiege
Dann südlich aus der Stadt und vor Wiener Neustadt westlich in die Berge. Fünf Stunden später Mittagspause im Panoramarestaurant Mödling an der Weinstraße mit Blick auf die große Stadt in der Mittagssonne. Das Restaurant bietet die übliche österreichische Küche. Ich entscheide mich für den Schweinsbraten. Wieder die Österreichkarten: es geht weiter über den Rohrer Sattel und Maria Zell, die Salza entlang und der Enns folgend durch das Gesäuse, Tagesziel heute ist die Turracher Höhe auf der Grenze zwischen der Steiermark und Kärnten. Dort empfiehlt der Tourenfahrer das Hotel Seewirt. Bei der Auffahrt zum Rohrer Sattel beginnt der Regen. Für die Goretext Hose scheint es zu warm. Der Regen hört sicher gleich wieder auf. 50 Kilometer und eine Stunde später hört er wirklich wieder auf. Halstuch, Nierengurt und Handschuhe trocknen auf dem heißen Motor. Die Zigaretten sind halbwegs trocken geblieben. Während der kurzen Pause torkelt ein 50er-Jahre-Gespann um die Kurve. Der Fahrer grüßt. Das Mädchen im Beiwagen prostet mir mit einer Dose Bier zu. Weiter geht’s. Nach zehn Kurven habe ich die Beiden eingeholt und ihre Solofreunde mich. Noch eine alte BMW und ein älteres Crossmotorrad. Soweit ich sehen und hören kann, ein großvolumiges Zwei-Takt-Motorrad von Maico oder Puch. Vor mir im Gespann werden Zigaretten geraucht und noch mehr Bierdosen geöffnet. In Maria Zell biegen sie ab. Meine Fahrt geht weiter. Es fehlen noch gute 200 km bis zum Feierabend. Die nasse Hose trocknet langsam, mir ist durch und durch kalt. In Admont am westlichen Ende des Gesäuses geht’s an einen Geldautomaten, den ich in Wien nicht finden konnte, dann ein kleiner Laden: Postkarte, Briefmarke und Schokoriegel. Ich habe meinem Sohn Finn versprochen, jeden Tag eine Postkarte zu schreiben, damit er weiß wo ich bin. Am Küchenschrank hängt eine Übersichtskarte der Alpen, auf der täglich mein Standort eingetragen werden kann – aber nicht wird, weil die Postkarten zwar täglich geschrieben , aber nicht zugestellt werden, so gibt es, als ich nach Hause komme nur einige Markierungen aus den ersten Tagen. Heute also die erste Karte Österreich. Vor dem Sölkpass wird die Landschaft wirklich alpin.

Fr., 1. August 2008, Sölkpass, Nordrampe
Raue, karge Almen, Kühe auf der Straße, Wasserfälle. Auf der Scheitelhöhe beginnt der Regen wieder. Nur noch knapp 100 km bis zur Turracher Höhe. Im Hotel Seewirt ein herzlicher Empfang, ein schönes, warmes Zimmer und ein Grillbuffet, Fleisch wird auf Teller geladen. Ein großes Bier hilft, den Regen und die Kilometer aus dem Körper zu spülen. Nach dem Essen gehe ich in die Kaminbar zum Rauchen. Schnell muss ich an den Mitarbeitertisch umziehen, von meinem Motorrad, der geplanten und früheren Reisen berichten. Der Chef erzählt Anekdoten aus den anderen Hotels im Ort. Er und seine Frau verabschieden sich gegen Mitternacht. Ein Koch und eine Kellnerin bleiben noch. Es wird viel Wein getrunken und so bleibt der frühmorgendliche Aufbruch ein Plan, der sich nicht umsetzen lässt.

Sa., 2. August 2008, Turracher Höhe - Kötschach (A)
Dennoch scheint beim Aufwachen die Sonne. Ein reichhaltiges Frühstücksbuffet weckt die Lebensgeister. Der Versuch, den rechten Blinker zu reparieren, scheitert. Das Motorad ist danach schnell wieder reisefertig gemacht. Ölkontrolle, Anziehen, Packen. Erst als ich schon lange wieder zu Hause bin, stelle ich bei den TÜV- Vorbereitungen Anfang des nächsten Jahres fest, dass ich das Blinkerkabel mit dem Kofferhalter abgeklemmt und so einen Kurzschluss verursacht habe. Die Turracher Höhe ist größer als ich dachte und bisher gesehen habe. Hinter dem eigentlichen Pass folgt noch eine kleine Hochebene mit einem großen See, etlichen Hotels und einer Ladenzeile. Die Südrampe der Turracher Höhe beeindruckt mit spektakulären 23 % Gefälle. Ich fahre bis kurz hinter Winkl dann nach rechts zur Nockalmstraße. Das zwei Jahre gültige Tourenticket für Nockalm, Großglockner und Gerlosstraße habe ich bereits zu Hause beim ADAC für 20 Euro gekauft.

Sa., 2. August 2008, Nockalmstraße
Nockalm: runde grüne Hügel und sanfte Berge, Kühe, Murmeltiere,Bäche, perfekt ausgebaute Straßen, wenige Autos, viele Motorräder.

Sa., 2. August 2008, Nockalmstraße, Eisentalhöhe, Richtung Süden
Das erste Mal seit meinem kleinen Unfall vor dem Bundeskanzleramt im vorletzten Winter schleifen die Stiefelspitzen in den Kurven wieder über den Asphalt. Am Ende der Nockalmstraße entschließe ich mich für die Nebenstrecke nach Innerkrems Kurz vor der Krems zieht der Himmel sich wieder zu. Heute ziehe ich das volle Programm Funktionsbekleidung an. Gut so, einige Kilometer weiter in Mauterndorf bricht das Unwetter los und endet erst kurz vor Obertauern wieder.

Sa., 2. August 2008, Obertauern, Nordrampe
Hinter Radstadt werde ich von einer Gruppe Harley-Fahrer in Leder und Kutten überholt. In Fusch wird getankt. Die Sonne scheint. Ein Café und eine Zigarette in der Sonne. Aufstieg zum Großglockner. Auf dem Parkplatz an der kopfsteingepflasterten Edelweißspitze

Sa., 2. August 2008, Edelweißspitze, Richtung Fuscher Törl
die erste der nun üblich werdenden Motorradkonversationen: »Das ist eine BMW?« – Nicken – »Eine alte GS?« – »Nee, R 60/5.« – »Was ist das denn für ein Baujahr?«- »’73« – »Ach so. Und was hat die runter?« – »Gute 300.000, jetzt.« – »Das ist ja ordentlich.« Daneben auf dem Parkplatz eine R 1150. Vor ein paar Tagen mit einem neuen Zündschloss versehen, weil nichts mehr ging. 3.000 km auf dem Tacho. Das übliche Lamento, das früher alles besser war. Auch und vor allem die Motorräder. Mein kaputter Blinker, der Ölverlust am rechten Zylinder und das ausgelutschte Fahrwerk zählen da nicht. Die Temperatur auf der Edelweißspitze (2.577 m Höhe) ist nur knapp über dem Gefrierpunkt.

Sa., 2. August 2008, Fuscher Törl
Der leichte Regen geht manchmal in Schnee über. Es ist so windig, das man sich sorgen kann, ob die Motorräder auf dem Hauptständer stehen bleiben. Aber die grandiose Aussicht auf die vergletscherten Berge, das Fuscher Törl und das Hochtor – der eigentliche Großglocknerpass und mein erster Übergang über den Alpen- Hauptkamm – entschädigen für das bescheidene Wetter. Der hervorragende Straßenzustand und die geringe Verkehrsdichte werden mit der Maut erkauft.

Sa., 2. August 2008, Großglockner Pass, Hochtor
In der Ferne ist der alte, seit der Antike genutzte Saumpfad auszumachen. Südlich des Hochtortunnels scheint wieder die Sonne. Trotzdem entscheide ich mich gegen den Abzweig zur Kaiser-Franz-Josef-Höhe und fahre ins Tal nach Heiligenblut und zum Iselsbergpass. Als Tagesziel für heute habe ich gestern das Hotel Birkenhof in Kötschach kurz vor der italienschen Grenze auserkoren. Kurz vorher in Lienz beginnt wieder der Regen. Diesmal so heftig wie noch nie in den letzten Tagen. Ich freue mich über die GoreTex-Trockenheit. Aber das Wasser läuft die Ärmel hinab in die Handschuhe. Nach einer kleiner Irrfahrt durch das Dorf ist das Hotel östlich etwas außerhalb des Ortes an der B 111 Richtung Hermegor dann doch rasch gefunden. Es wohnen dort heute viele Motorradfahrer. Ein freundlicher Empfang durch die Wirtsleute (scheinbar gastronomisierende Landwirte) und die Mitgäste. Ich entscheide mich für ein großes Bier und ein Schnitzel mit Bratkartoffeln. Nach der Aufzeichnung der Erlebnisse des vergangenen Tags und der Detaillplanung des folgenden gönne ich mir noch einen lokalen Kräuterschnaps. Hotel und Küche sind gut, aber preislich und qualitativ lange nicht auf dem Niveau des Hotel Seewirt auf der Turracher Höhe. Heute habe ich rund 300 km und sieben Hochpunkte über 1.000 m geschafft.

So., 3. August 2008, Kötschach - Wolkenstein (I)
Am nächsten Tag dampfen der Wald und die Wiesen den Regen der letzten Tage aus. Vor dem Plöckenpass dichter Nebel. Auf der italienischen Südrampe beeindrucken die engen Kehrentunnel.

So., 3. August 2008, Plöckenpass, Südrampe
Es ist gefühlte 15° wärmer als in Österreich. Auch hier geht es wegen der vielen Photostopps nicht so schnell vorwärts wie gedacht. Hinter Paluzza biege ich nach rechts Richtung Comeglians ab. In Ravascletto wieder nach rechts zur Panoramica delle Vette. Einer geschotterten Rundtour durch die Karnischen Alpen auf rd. 2.000 m Höhe. Der steile Aufstieg durch den dunklen Wald ist noch asphaltiert, aber dennoch anstrengend. Oberhalb der Baumgrenze erreiche ich eine sehr sanfte

So., 3. August 2008, Panoramica delle Vette
Almenlandschaft. An einer Quelle endet der Asphalt und eine Schotterstrecke mit tiefen großen Pfützen beginnt. Teilweise blockieren Kühe den schmalen ungesicherten Fahrweg.

So., 3. August 2008, Panoramica delle Vette, mittleres Teilstück
Im westlichen Teil der Panoramica wird der Schotter gröber und erfordert mehr Körpereinsatz. Auf der Staatsstraße durch das Val Pesarina steigt der Stundenschnitt wieder über 50 km/h. Die gut ausgebaute Straße führt durch eine liebliche Alpenlandschaft mit weiten Wiesen und viel Wald. An der Forcella Lavardet nehme ich die Nordrampe, eine breite grobe Schotterpiste, die ab kurz nach der Passhöhe einem Wildbach folgt, der mit primitiven Röhrenbrücken gequert wird.

So., 3. August 2008, Forcella Lavardet
Dann beginnt wieder Asphalt, eine hohe gemauerte Kehrenanlage führt hinab zu einer langen Stahlbrücke.

So., 3. August 2008, Forcella Lavardet, Nordrampe
Dort steht ein Paar auf einer japanischen Straßen-Enduro mit deutscher Zulassung. Die Strecke sei gesperrt, rufen sie mir zu. Natürlich fahre ich weiter bis das Wenden fast unmöglich ist, weil ich das nicht glaube und mit eigenen Augen sehen will. Auf der Rückfahrt begegnet mir das Paar erneut. Wir kennen eine Umfahrung rufen sie. Ich wende und folge ihnen. Vor der Sperrung geht es links in den Wald und auf einem schmalen Pfad zu einem Parkplatz an der Staatsstraße. Über San Stefano und Santa Catarina gelange ich wieder auf die Strecke nach Cortina d’Ampezo. Vor dem Passo Tri Croce (1.805m)mache ich eine ausgedehnte Rast an einer provisorischen Brücke.

So., 3. August 2008, Passo Tri Croce, Ostrampe
Ich bin nun unübersehbar in den Dolomiten. Hinter Cortina d'Ampezzo geht es weiter zum Passo di Giau (2.333m). Vor dem Scheitel fahre ich durch eine weite grüne Almenlandschaft, die von den typischen Dolomiten-Gipfeln eingerahmt wird.

So., 3. August 2008, Passo die Giau, Ostrampe
Hinter der Passhöhe die Abfahrt Richtung Selva di Cadure und Piau, über den Colle la Luca direkt weiter zum Passo Falzarego, dessen Westrampe ich kaum oben, sofort wieder hinabfahre und mich nördlich zum Passo di Valparola wende. Über Stern und Corvara geht’s zum Passo Campolongo und zum grandiosen Dolomitenpanorama des Passo Pordoi.

So., 3. August 2008, Passo Pordoi, Richtung Westen
Dann folgt das Sellajoch, der landschaftliche Höhepunkt des Tages. Die Abfahrt nach Wolkenstein macht ihrem Namen alle Ehre – von der sicherlich schönen Aussicht ist nicht viel zu sehen.

So., 3. August 2008, Sellajoch
In Wolkenstein kehre ich am westlichen Ende des Ortes im Hotel Florian ein. Das Abendessen genieße ich mit einem Herrn, der aus Köln mit dem Fahrrad angereist ist. Mein Tacho zeigt für heute 260 km, die Karte berichtet von elf Hochpunkten über 1.000m, insgesamt liegt meine Bilanz nun bei 21 Hochpunkten auf knapp 1.000 km.

Mo., 4. August 2008, Wolkenstein - Schlanders (I)
Der nächste Morgen sieht mich erholt und voller Tatendrang. Das Wetter ist prima – eben Südtirol. Kurz hinter St. Ulrich biege ich links nach Castell rotto ab. Hinter Völs beginnt eine spektakuläre Hangstrecke bis zur Mündung des Eisack in die Etsch/Adige. Von Blumau fahre ich nach Bozen, von dort Richtung Norden zum Penser Joch, unterwegs kann man an vielen Stellen die neue Straße verlassen und für eine Pause die alte Straße, die inzwischen mit Tunnels abgekürzt wird, benutzen. Die engen Kurven durch das tiefeingeschnittene Sarntal bieten schöne Aussichten und pitoreske Rastplätze. Kurz vor dem Scheitel wird das Tal ein letztes Mal gequeert und bietet eine wunderschöne Aussicht zurück auf die Südrampe des Penser Joches.

Mo., 4. August 2008, Penserjoch, Südrampe
Nach Norden geht es weiter Richtung Sterzing und kurz vor dem Ort nach links in den Wald hinauf zum Jaufenpass (2099m). Von dort habe ich bei schönstem Wetter von der Jausenstation nördlich der Scheitelhöhe eine prächtige Fernsicht auf die Nordrampe des Jaufenpasses und in der Ferne auf die Berge rund um den Brenner.

Mo., 4. August 2008, Jaufenpass, Richtung Norden
Ich trinke zwei Cappuccino und schreibe mehrere Postkarten. Im Tal in St. Leonhard zweigt rechts die Timmelsjochstraße ab. Ein großartiger knapp 2.500m hoher Alpenübergang. Im oberen Bereich mit teilweise recht schmaler Fahrbahn, die nur durch ein niedriges Mäuerchen von dem viele hundert Meter tiefen Abgrund getrennt ist.

Mo., 4. August 2008, Timmelsjoch, Ostrampe
Die Passstraße bahnt sich ihren Weg durch eine Reihe von dunklen grob in den Berg gehauenen Tunnels. Kurz vor der Scheitelhöhe folgt ein mit bunten Lichtern auf dem Boden beleuchteter langer schnurgerader Tunnel, der zum Winterschutz über große Tore verfügt.

Mo., 4. August 2008, Timmelsjoch, Tnnel auf der Ostrampe
Am Ostportaldes Tunnels steht ein kleiner Imbiss mit phänomenaler Aussicht auf die Passstrecke und die umgebende Bergwelt. Auf der Passhöhe empfangen mich tief hängende graue Wolken und ein kalter Wind. Ein kurzer Spaziergang führt mich in die hügelige Umgebung des Überganges. Die Westrampe glänzt mit einer kilometerlangen Abfahrt entlang des fast gefällefreien Timmelsbaches.

Mo., 4. August 2008, Timmelsjoch, Timmelsbach auf der oberen Westrampe
Ich folge der Westrampe hinab bis zur Mautstation kurz vor dem österreichischen Obergurgel, kehre dort um und fahre zurück zur Passhöhe und von dort wieder hinab nach Südtirol.
Im unteren Abschnitt der Ostrampe packt mich der Kurvenrausch, aber Vorsicht vor den dunklen Tunnels! Und entgegenkommenden Motorrädern.

Mo., 4. August 2008, Timmelsjoch, untere Ostrampe
Ich hatte einen Beinahezusammenstoß mit einer – natürlich! – roten Ducati in einer
Rechtskurve auf meiner Fahrbahnseite. Die weitere Strecke nach Bozen führt durch hügelige Wiesen und freundliche Obstplantagen. Die Temperatur steigt beständig, vor Bozen zeigt das Thermometer an einer Apotheke 31°. In Bozen biege ich der Etsch/Adige folgend nach rechts ins Vinschgau ab. Auch hier ist es sehr warm. Vor mir fährt eine BMW R 1150 GS aus Griechenland. Die Sozia raucht. Ich halte Abstand, weil ich keine Glut ins Gesicht bekommen will. Tagesziel heute ist Schlanders, kurz vorher muss ich noch tanken. In Schlanders finde ich das Hotel Vinschger Hof schnell. Ein Haus mit hohem Standard und einer sehr schönen überdachten Terrasse. Dort esse ich und sitze bis spät am Abend über den Karten und Denzels Alpenstraßenführer. Den Plan für morgen habe ich grundlegend geändert: nachdem ich inzwischen etwa einen Tag hinter meinem ursprünglichen Plan zurückliege und das Ende der Reise durch den bereits gebuchten Autozug von München eindeutig definiert ist, muss ich ein bisschen aufs Tempo drücken: morgen also Stelvio, Umbrail, Ofenpass, Livigno, Gavia und Passo di Foppa und Guspessa, Bernina,, St. Moritz und Übernachtung schließlich in Maloja.

Di., 5. August 2008, Schlanders (I) - Maloja (CH) (© Carte Routière et Touristique Michelin, No. 428, 1992)
Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Ich frühstücke auf der Terrasse. Im Westen hängen dicke dunkle Wolken. Ich breche früh auf, bin schnell auf der Ostrampe des Stelvio. Einer der spektakulärsten Alpenpässe. Der 1820–25 erbaute damals Kaiserstraße genannte Übergang mit seinen vielen Kehren gilt noch immer als Meisterwerk des Alpenstraßenbaus.

Di., 5. August 2008, Stilfser Joch, Ostrampe
Die Passhöhe war bis zum I. Weltkrieg Grenze zwischen dem habsburgischen Südtirol und dem italienischen Königreich Venetien-Lombardei, heute ist sie deutsch-italienische Sprachgrenze zwischen der Autonomen Provinz Alto Adige und der Regione Lombardia. Zwischen 1914 und 18 tobte hier oben der sogenannte Weiße Krieg, heute hüllen sich die Kehren in photofeindliche Wolken. Das Museo storico auf der Passhöhe zeigt die kriegerische und zivile Geschichte des Passes anschaulich mit vielen Originaldokumenten und Ausstellungsstücken. Die Ostrampe wird im Sommer vor allem an den Vormittagen von sehr vielen Radfahrern benutzt, die wegen der Steigung zum Teil extrem langsam fahren und entsprechend viel Platz auf der Straße beanspruchen. Ich zähle an einem Dienstag zwischen zehn und elf Uhr über 100 Fahrräder.
Kurz hinter der Scheitelhöhe des Stelvio zweigt am Umbrailpass die Grenze zur Schweiz rechts ab. Der Denzel spricht von einer Schotterpiste auf der Nordrampe, was ich aber nicht glauben kann, bis ich sie tatsächlich unter mir habe. Kurz hinter der Station der schweizer Grenzwacht hört der Asphalt auf und feiner gleichmäßiger Schotter – fast wie die Aschebahn auf einem Sportplatz – beginnt, in sanften Kehren führt die Strecke talwärts nach Graubünden. Kurz vor dem Ende der Nordrampe beginnt der Asphalt erneut. Über den Ofenpass und durch den Schweizer Nationalpark führt eine breite, gut ausgebaute Bundesstraße.
Hinter dem Ofenpass an einer Brücke über den Fuorn – rätoromanisch für Ofen – liegt links das Ostportal des Munt-la-Schera–Tunnels, der einspurig und abwechselnd ampelgesteuert vom schweizerischen Graubünden ins italienische Zollsondergebiet Livigno führt. Das Westportal des Tunnels liegt am Staudamm des Lago di Gallo, zum dem der Spöl aufgestaut wird . Auf dessen Südseite sichert eine zwölf Kilometer lange Gallerie zusamen mit dem Tunnel den winterlichen Zugang nach Livigno. Die Berge der Livigno-Alpen spiegeln sich im stillen Wasser des langgezogenen Sees. Die erste Tankstelle nutze ich, um zollfreies Benzin, das rd. 50 Cent billiger ist als in Deutschland, in maximaler Menge zu tanken. Zigaretten verkauft der Tankwart leider nicht und die Tabakgeschäfte haben im Moment alle Mittagspause. Die Suche nach einer Tabaccheria bestimmt die restliche Zeit in Livigno. Erst kurz vor dem Fosagnopass, der die Grenze zur Lombardei markiert, finde ich einen geöffneten Laden. Ich kaufe eine Stange ›MS‹ für 15 € und verstaue sie reisetauglich im Tankrucksack. Der Fosagnopass ist verhältnismäßig unspektukulär, wer nicht wie ich nach Süden zum Gavia-Pass will, ist mit der Forcella de Livigno, die zum Berninapass und somit direkt zurück in die Schweiz führt, besser bedient. Hinter dem Passo Fosagno folgt eine nicht enden wollende Abfahrt nach Bormio und eine schnelle Verbindungsetappe nach Sta. Catharina, dem nördlichen Ausgangspunkt zum Passo di Gavia. Die Nordrampe weist einen rumpligen Straßenzustand auf. Glänzt aber mit beeindruckenden Aussichten, sofern Wolken und Nebel das zulassen.

Di., 5. August 2008, Passo di Gavia, Passebene, Richtung Süden
Wie erwartet führt der obere Abschnitt der Passstraße durch eine karge Almenlandschaft. Die Temperatur ist in den einstelligen positiven Bereich gefallen, die Sonne bahnt sich nur noch gelegentlich den Weg durch die dichten Wolken. Nach einer engen Hochebene beginnt die spektakuläre Südrampe des Gavia: eine drei bis vier Meter breite fast neue Asphaltstraße ohne nennenswerte Randsicherung – alle zehn Meter markiert ein weißer Quader das Ende der Straße und den Beginn des teilweise einige hundert Meter tiefen Abhanges.

Di., 5. August 2008, Passo di Gavia, Südrampe
Nicht schwindelfreien Personen ist der Gaviapass nicht unbedingt zu empfehlen, ich bin weite Strecken der Südrampe auf der bergseitigen Fahrbahnhälfte gefahren. Vor einigen Jahren ist in einer inzwischen von einem Tunnel abgekürzten Steilhangkurve
ein Militär-LKW vollbesetzt mit Alpini abgestürzt.»Lohn der Angst« scheint der Film zum Pass zu sein. Im Tal geht es auf schneller Staatsstraßezügig nach Monno und von dort rechts in die Berge zum Passo de Foppa. Eine stille Kammstraße führt zumPasso Cunesio und einem kleinen Almrestaurant. Von dort führt eine rumpelige Abfahrt nach ins Veltlintal hinab. von dort geht es auf einer zügigen Staatsstraße nach Tirano, demEinstieg zur Berninastraße, im unteren Abschnitt führt die Straße auf der bzw. parallel zur Bernina-Schmalspurbahn. Der Aufstieg auf der Südrampe bietet prächtige Ausblicke zurück ins Veltlin. Die vergletscherten Flanken des Piz Bernina und der grün schimmernde Berninasee entschädigen etwas für die wieder gefallenen Temperaturen Es ist kalt geworden und die vier Pässe auf den letzten 250 km fordern ihren Tribut: Nacken und Schultern schmerzen. Auf der Abfahrt nach St. Moritz beginnt es für einige Minuten zu regnen. Ich lege noch einen kurzen Halt am Geldautomaten in Celerina ein und fahre dann ohne weiteren Stopp in das Hotel in Maloja. Ich fahre an der Werkstatt vorbei, die 1996 die Kupplung meines VW Passat repariert hat. Kurz darauf bin ich auf der Malojastraße und folge der Seenkette des Oberengadin.

Di., 5. August 2008, Oberengadin, Silser See, Richtung Maloja
Es ist Nietzsche-Land hier, aber dieses Jahr können mich die Orte der europäischen Geistesgeschichte nicht locken: der See von Silvaplana, an dem Nietzsche den Gedanken der Ewigen Wiederkehr hatte, das beschauliche Sils Maria, wo er in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts einige Sommer wohnte und arbeitete. Ich bin heilfroh, als ich das Hotel in Maloja am Ende der Engadiner Hochebene erreiche. Das Zimmer im Hotel Schweizerhof hatte ich schon nachmittags reserviert; das erste Mal, dass ich eine Kredditkartennummer zur Reservierung angeben musste. Das Hotel ist alt , schön und teuer, die Zimmer sind klein und gemütlich. Zum Essen gehe ich in die Tratoria gegenüber. Pasta mit Waldpilzen und Ragu passt mir besser als das komplizierte Menü im vornehmen Hotel-Restaurant. Hinterher gönne ich mir noch einen Espresso und einen Grappa auf der Hotel-Terrasse.

Mi., 6. August 2008, Maloja - Ulrichen (CH) (© Carte Routièreet Touristique Michelin, No. 428, 1992)
Nach einer erholsamen Nacht geht es am nächsten Morgen früh wieder los. Das reichhaltige Frühstücksbuffett auf der Terrasse hilft beim Start in den Tag. Nach wenigen Metern erster Photostopp am kuriosen Malojapass – kurios, weil er nur eine Rampe hat. Vom Oberengadin geht es nur wenige Höhenmeter hinauf, ins Bergell hinab aber einige hundert. Als ich zurück zum Motorrad komme, steht eine BMW aus Berlin daneben. »Ist das eine alte GS?« – »Nee, eine R60/5.« »Ach,so. Was issen das fürn Baujahr?« »1973« » Oft gewaschen haste se seitdem aber nicht?« »Nee, is ja ne BMW, die fährt auch ungewaschen.« Der Lacher geht auf mich. Wir verabschieden uns fröhlich. Ich fahre den Pass hinab ins Bergell und ins italienische Chiavenna Nach einigen Kilometern auf der Südrampe des Splügenpasses halte ich für einen Cappuccino in der Sonne. Der Splügen wartet im oberen Bereich mit engen dunklen Kehrentunnels auf. Vor der Scheitelhöhe liegt ein großer See.

Mi., 6. August 2008, Splügenpass, Südrampe mit Splügensee
Die Abfahrt ins schweizerische Rheintal führt auf einer schnellen
Verbindungsetappe zur Nordrampe des Bernardinopasses. Eine kurze zügige Auffahrt führt zum großen Scheitelsee mit der kleinen Insel und der langen Abfahrt.

Mi., 6. August 2008, Bernardinopass, Scheitelsee
Hinter dem Bernardino wende ich mich wieder Richtung Norden zum
Lukmanierpass, bei dessen Auffahrt ich die Benzinhähne auf Reserve stellen muss, keine Tankstelle, nirgends. Während der Abfahrt schließe ich die Benzinhähne und stelle den Motor ab, lasse aber einen niedrigen Gang – als Notbremse – eingelegt und fahre mit gezogener Kupplung den Berg hinab. Im kleinen Ort Curaglia erreiche ich die einzige Tankstelle beim Schließen zur Mittagspause Meine letzten 10 CHF Bargeld lassen mich weiter bis Disentis an der Bundestraße zum Oberalppass kommen, wo ich erneut für 10 CHF diesmal volltanke. Mineralisches Motoröl bekomme ich allerdings auch hier nicht – warum auch? Teilsynthetisches ist doch moderner, also besser und hat die Freigaben aller Hersteller. Von alten Motoren und deren Dichtungen hat man hier noch nicht gehört. Der Oberalppass hat eine lange flache Ostrampe und eine kurze steile Abfahrt ins westlich liegende Andermatt. In Andermatt werden nachmittags die Kühe durchs Dorf getrieben, wohl eher aus touristischen, denn aus praktischen Gründen. Hinter der Ortschaft im Tal liegt der Abzweig zum großen St. Bernhard- und zum Gotthardtpass Der obere Teil ist wegen der beiden Autobahntunnelröhren angenehm wenig befahren. Kurz vor der Passhöhe finde ich den Abzweig zur alten kopfsteingepflasterten Gotthardtstraße

Mi., 6. August 2008, Gotthardtpass, Nordrampe der alten Gotthardtstraße
Hinter dem Pass fahre ich einige hundert Meter auf der neuen Straße für einen guten Aussichtspunkt auf die alte Tremolastraße Die kehrenreiche nur wenig gesicherte Strecke macht schnell klar, warum sie im 19 Jahrhundert von den Reisenden der Postkutschen ›Straße des Zitterns‹ genannt wurde.

Mi., 6. August 2008, Gotthardtpass, Südrampe der alten Gotthardtstraße (Strada della Tremola)
Der Gotthardt ist der vierte 2.000er heute und Nacken und Schultern machen sich schmerzhaft bemerkbar. Im Tal in Airolo biege ich schnell wieder nach Norden ab, der Nufenenpass bringt mich nach Ulrichen, meinem heutigen Tagesziel. Die leicht ansteigende Südrampe führt in immer enger werdenden Kehren auf knapp 2.500 m Höhe . Von dort geht es zügig hinab ins Rhonetal. Die Passstraße endet mitten in Ulrichen gegenüber dem Tourenfahrer-Partnerhaus Hotel Astoria Das heute allerdings voll belegt ist, doch es gibt noch Zimmer im nebenan gelegenen Erweiterungshaus. Das Motorrad darf in der geräumigen Garage übernachten, ich esse, lese und schreibe auf der Terrassse. Ein gutes, reichhaltiges Abendessen und ein paar Gläser Bier vertreiben den anstrengenden Tag aus den Knochen.

Do., 7. August 2008, Ulrichen - Barraux (© Carte Routière et Touristique Michelin, No. 989, 1997)
Nach einer erholsamen Nacht und einem guten Frühstück stelle ich die Ventile der BMW ein und überprüfe die Zündkerzen und den Ölstand. Mein Ölvorrat reicht nicht mehr aus, um vorschriftsmäßig nachzufüllen. Für rein mineralisches Motoröl verweist der Wirt des Hotels mich an einen Motorradladen in Brig. Hohe Drehzahlen vermeidend fahre ich mit schlechtem Gewissen los. In Brig finde ich den genannten Laden zwar nicht, aber dafür ein Agroland, die schweizer Variante der Raiffeisengenossenschaft, die auch einfaches Mineralöl ohne Additive anbietetn. Ich kaufe 5 Liter und fülle den fehlenden Viertelliter nach. Die folgende Strecke bis Martigny ist eine fast durchgehende Ortsdurchfahrt. Der Verkehr fließt zäh in beide Richtungen. Eine mittlere Spur ist für den Abbiegeverkehr vorgesehen. Natürlich wird sie trotz Überholverbotes auch zum Überholen benutzt – natürlich auch von mir. Plötzlich Blaulicht und Sirenen vor mir. Die Polizei fordert mich zum Halten auf. 150 CHF, also gut 100€ Buße. Mein Argument, es sei kein Überholen, sondern nur Vorbeifahren an abbiegenden Wagen gewesen verfängt verständlicherweise nicht. Weiterfahrt nach Martigny im Stau, dort ein Cappucino vor der Auffahrt zum Gr. St. Bernhard, ein schöner Blick auf den See auf der Passebene, ich kaufe einen Stoffbernhardiner für meine Tochter und ein Schweizermesser für meinen Sohn.

Fr., 8. August 2008, Großer St. Bernhard, Souvenierstand
Die Sonne scheint, aber für einen Café auf der Terrasse ist es zu kalt.
Die schwungvolle Abfahrt ins Aostatal entschädigt leider nicht vollständig für den üblichen Dauerstau von Aosta bis zur Autobahnauffahrt in Courmayeur, an der Einfahrt zum Mont-Blanc-Tunnel(pro Tag befahren knapp 5.000 Autos den Mont-Blanc-Tunnel). Kurz vor Courmayeur zweigt die Auffahrt zum Kleinen St. Bernhard ab.

Fr. 8. August 2008, Kleiner St. Bernhard, Ostrampe, Blick auf den Mont Blanc
Während der Auffahrt rückt mehrfach der Monte Bianco in den Blick und erinnert mich an die wunderbare Aussicht von der Dachterrasse meiner Freunde in Barraux bei Grenoble. Während einer längeren Pause entscheide ich mich, schon heute und nicht erst auf der Rückfahrt mein Glück bei Ulli und Ralph zu versuchen. Telefonisch sind sie nicht zu erreichen, so schreibe ich zunächst eine sms, um meinen heutigen spontanen Besuch anzukündigen. Auf der Passhöhe versuche ich noch einmal, sie telefonisch zu erreichen. Die Westrampe des Kleinen St. Bernhard glänzt mit herrlichen Ausblicken auf das gegenüber liegende Vanoise-Massive mit dem nur über eine steile Stichstraße erreichbaren Skiort Arc 2000 und das obere Isère-Tal bis zu ihrem Quellgebiet am Col d’Isèran. Am Fuß des Passes in Seez entscheide ich mich, obwohl ich Ulli und Ralph noch immer nicht erreicht habe, auf gut Glück nach Barraux zu fahren. Ich folge also der Isère flussabwärts auf der schnellen RN90, die ab Moutiers sogar als Autobahn ausgebaut ist. Hinter Fontaine überquere ich die Isère und fahre über LaRochette nach Pontcharra und von dort nach Barraux. Ich klingele bei Ulli und Ralph und versuche noch einmal anzurufen – keine Reaktion. Ich klingele ein zweites Mal, warte ein paar Minuten und entscheide mich, da es langsam dunkel wird, zu ihrer Scheune etwas außerhalb des Ortes zu fahren und dort mein Zelt aufzubauen. Ein paar Stunden liege ich dort auf der Wiese und Schaue in die langsam erscheinenden Sterne am Himmel. Zum Glück habe ich noch reichlich Wasser und einen Schokoriegel für ein spartanisches Abendessen dabei. Gegen Elf wird es auf der Wiese so feucht, dass ich mich nun doch entscheide, das Zelt aufzubauen.

Sa., 9. August 2008, Barraux (F) - Ponte Marmora (I)
Am Morgen scheint die Sonne über der östlich liegenden Chaine de Belledonne. Ich beginne langsam mein Zeug zusammenzupacken bis ein heftiges Donnern mich erschreckt. Der Himmel über mir ist blau und wolkenlos. Es donnert noch einmal. Ich gehe ein paar Schritte bis zum Ende der Schheune und schaue Richtung Westen: über den Bergen der Chartreuse hängen dicke, schwarze Wolken, die dabei sind ins Isèretal hinab zu fallen. Ich beeile mich mit dem Packen und bin ein paar Minuten später auf dem Motorrad.

Sa., 9. August 2008, Barraux, Scheune von Ulli und Ralph
Der Regen beginnt als ich die Isère überquere, gleichzeitig klingelt mein Telefon. Über St. Martin d’Uriages fahre ich nach Vizille, wo ich bei einem Bäcker ein paar Croissants und einen Grand Crème frühstücke. Der Anruf war von Ulli, die gerade meine sms auf ihrem Handy entdeckt hatte. Sie waren abends zu Hause gewesen, hatten aber weder die Telefon- noch die Türklingel gehört, weil sie auf der Dachterrasse saßen. Wie sich später herausstellte, hatte Ralph allerdings die BMW gehört und sich gewundert, welcher Nachbar sich nun ein Motorrad gekauft hätte.
Die einzige Etappe der Tour de France, die ich dieses Jahr live im Fernsehen verfolgt hatte, führte über den Col d'Agnel, einen Kniepass auf der Grenze zwischen Frankreich und Italien. Die Bilder im Fernsehen sahen vielversprechend aus. Heute wollte ich sie in Wirklichkeit sehen. In Chateau-Queyras dem Abzweig zum Agnello-Pass staut sich der Verkehr vor einer Ampel. Der Ort selbst hat ein frühneuzeitliches Schloss zu bieten, das ich aber nur kurz von weitem photographiere, weil von hinten schon wieder dunkle Wolken drohen.

Sa., 9. August 2008, Chateau-Queyras am Abzweig zum Col d'Agnel
Der Anstieg zur Passhöhe zieht sich langsam auf tour-de-france-neuem Asphalt
durch eine karge Hochalmenlandschaft. Die durch die violetten Blüten der Alpen- Wildrose aufgelockert wird.

Sa., 9. August 2008, Col d'Agnel, Nordrampe
Der Colle dell'Agnello selbst ist ein reizvoller, steiniger Kniepasss mit schöner Aussicht nach Süden und dem üblichen Gedenkstein für die getöteten Straßenarbeiter und die hier gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Auf der Scheitelhöhe verläuft die Grenze nach Italien.

Sa., 9. August 2008, Col d'Agnel, Passhöhe
Der Grenzübertritt erfolgt fast unbemerkt. Auch die Südrampe wurde offenbar für die 2008er Tour de France neu asphaltiert, sie ist viel steiler als die Nordrampe. Im Tal in Chianale erwartet mich italienisches Wetter: Sonne und blauer Himmel. In Sampeyere zweigt die Auffahrt zum gleichnamigen Pass ab. Ein sehr schmaler Asphaltweg unterschiedlicher Qualität führt durch Wald und Wiesen auf eine öde Hochebene. unterwegs bieten sich schöne Aussichten auf die gegenüberliegenden Berge um die Cima delle Lobbie, in denen die Quelle des Po liegt und das Chianaletal hinauf Richtung Coll d'Agnello. Auf der Passhöhe beginnt es wieder zu regnen und wird dabei so stürmisch, dass ich bei Seitenwind die ganzen drei Meter Fahrbahnbreite ausnutzen muss. Es wird auch wieder sehr kalt. Während der Abfahrt kann ich über die Maira-Stura-Hochebene sehen und bin nicht erfreut von dem Anblick: dicke schwarze Wolken türmen sich dort auf. Ich beschließe den Plan für heute erneut zu ändern und im Tal nach einem Hotel Ausschau zu halten. Die Südrampe des Col de Sampeyere ist mit vielen dunklen Tunnels eng in den steilen Fels gehauen, die Randsicherung besteht aus rostigen Eisengeländern, die an einigen Stellen von Autos oder herabstürzenden Felsblöcken durchschlagen wurden.

Sa., 9. August 2008, Colle de Sampeyre, Südrampe
Vor mir ist ein großer Kieslaster, der in jeder Kehre rangieren muss und die Tunnels wegen seiner Höhe nur in der Fahrbahnmitte durchfahren kann. Im Tal der Maira biege ich nach rechts ab. Nach einigen Kilometern komme ich durch den Ort Ponte Marmora. Hier gibt es tatsächlich wenig mehr als eine Brücke über die Marmora: ein altes Kraftwerk und ein Hotel-Restaurant mit dem vielversprechenden Namen Gentil Locanda (freundliches Gasthaus).

Sa., 9. August 2008, Ponte Marmora, Gentil Locanda
Ich halte und frage nach einem Zimmer – »Yes, rooms we have«, antwortet ein junges Mädchen sehr stolz in einer Art Englisch auf meine in mäßigem Italienisch vorgetragene Frage. Ich werde in den ersten Stock geführt. Es handelt sich um kleine Zimmer mit Möbeln aus dem 19. Jahrhundert. Große Kachelöfen versprechen auch im Winter wohlige Wärme. Ob ich auch essen möchte.-– »Sehr gerne« - »45€, tutti completti.«, diesmal vorsichtshalber auf einen Zettel geschrieben. Das Zimmer mit Abendessen und Frühstück. Und das Motorrad kann ich später auf die überdachte und abschließbare Terrasse stellen. Jetzt setze ich mich dort erstmal selbst hin, bestelle einen Cappuccino und rekapituliere den nassen Tag. Bei Einbruch der Dämmerung gehe ich zur Planung des nächsten hoffentlich trockeneren Tages und zu Weißwein über – ausgerechnet heute entscheide ich mich gegen das übliche und meistens soviel teurere Feierabendbier, wo wie sich später herausstellt, sogar die Getränke in den 45€ Vollpension enthalten sind. Die unmittelbar am Hotel beginnende Auffahrt zur Maira-Stura-Straße ist bis morgen früh wegen Bauarbeiten gesperrt. Am Nebentisch sitzt eine lautstarke Gruppe deutscher Mountainbiker, die auch die Maira-Stura fahren wollen. Die meisten anderen Gäste, sind Geländewagenfahrer, die wie ich auf besseres Wetter und die Freigabe der Auffahrt warten. Ich sitze noch lange auf der Terrasse über meinen Büchern und Karten. Gegen Neun beginnt das Essen. Ich bekomme ein bodenständiges italienisches Menü, vor jedem Gang werde ich nach der von mir gewünschten Fortsetzung gefragt: es gibt eine kleine Auswahl Antipasti, hausgemachte Ravioli mit Steinpilzen, gegrilltes Fleisch mit Gemüse und zwei verschiedene Desserts, hinterher Espresso und Grappa. All das und auch die Getränke vom Nachmittag sind in den 45€ enthalten.

So., 10. August 2008, Ponte Marmora (I) - Beuil (F)
Am nächsten Tag erwache ich trotz der viel zu weichen Betten erholt und erfrischt. Lärm von der Straße hat mich geweckt. An der Kreuzung stehen zwei französische Geländewagen. Der Fahrer des vorderen diskutiert erregt mit dem Bauarbeiter, der die Absperrung bewacht. Nein, Autos kämen nicht an der Baustelle vorbei. Fahrräder könnten geschoben werden. Ich sehe die Gruppe Mountainbiker etwas aufwärts die Straße entlangfahren. der Franzose flucht, spricht kurz mit Fahrerdes zweiten Wagens, steigt ein und beide preschen das Maira-Tal aufwärts davon. Beim Frühstück sitzen einige Arbeiter der Baustelle auf der Terrasse bei ihrem Caffè. Ich frage, ob man mit einem Motorrad die Baustelle passieren und auf die Maira-Stura-Straße fahren kann. Sie machen Schlängelbewegungen mit den Händen und nicken euphorisch: »no problem!« Ich frühstücke, zahle und packe das Motorrad heute besonders sorgfältig für die erste längere Off-Road-Etappe meiner Tour. Der Chef wünscht mir eine gute Reise. Ich bedanke mich für alles und fahre an der Absperrung vorbei den Berg hinauf. Nach einigen hundert Metern fahre ich auf frischem noch weichem Asphalt. Wenige Kurven vor mir sehe ich die große Asphaltiermaschine. Ich fahre auf der Bergseite, halb im Straßengraben an der Maschine vorbei. ich bin auf dem Weg zur Maira-Stura-Straße. Hinter dem Colle del Preit (2.083m) endet der Asphalt und eine grobe Schotterpiste beginnt. Dann zweigt der Weg zum Gardetta-Pass ab. Ich bin froh, in Berlin eine Wanderkarte des ›Instituto Geografico Central‹ im Maßstab 1 : 50.0000 gekauft zu haben. So ist die Orientierung leicht und sicher. Mit etwas Off-Road-Erfahrung ist die Piste einfach zu meistern. Problematisch sind allenfalls die regelmäßig mit hoher Geschwindigkeit und ohne jegliche Rück- oder Vorsicht entgegenkommenden bzw. überholenden Geländewagen. Am Abzweig zum Passo della Gardetta beeindruckt die schöne Aussicht auf die Piano de Gardetta und den Rocca la Meja.

So., 10. August 2008, Piano de Gardetta, Richtung Rocca la Meja
Die Piste ist teilweise bis auf den Unterbau ausgewaschen,
aber noch immer leicht fahrbar. Viel zu schnell bin ich am Colle Valcavera: tolle Aussichten auf das Stura-Tal und die ligurischen Alpen. Zum ersten Mal sehe ich am Straßenrand ein Murmeltier, statt es nur pfeifen zu hören, aber für ein Photo bin ich dann doch nicht schnell genug. Am Colli di Morti steht ein sehr hässliches Denkmal für Marco Patani, der hier seine Trainingsstrecke hatte.

So., 10. August 2008, Colli di Morti, Denkmal für Marco Pantani
Ich wende am Pass und fahre zurück zum Colle Valcavera und von dort hinab nach Demonte im Stura-Tal.

So., 10. August 2008, Colle Valcavera, Blick ins Stura-Tal
Die Abfahrt ins Tal führt durch eine freundliche Wiesenlandschaft. Im Tal führt eine schnelle Staatsstraße nach Cuneo und zum Colle di Tenda. Den Abzweig zur alten Passstraße übersehe ich und fahre ungewollt durch den Tunnel nach Frankreich. Grenzformalitäten finden auch hier nicht statt.

So., 10. August 2008, Col de Tende, Südrampe
Auf der Südseite, fahre ich in der ersten Kurve rechts die Südrampe der alten Passstraße hinauf. nach einigen Kehren mache ich eine ausgedehnte Pause, genieße die wärmende Sonne und reserviere telefonisch ein Zimmer im Hotel Relais Bellevue in Beuil. Die südliche Abfahrt vom Col de Tende ist bereits sehr mediterran. Besonders der Ort Tende ist sehr schön.

So., 10. August 2008, Tende, südlich des gleichnamigen Passes
ber die sehr flüssig zu fahrenden Col de Brois und Col de Castillion fahre ich dem Umkehrpunkt meiner Reise entgegen: Nizza. Am Ortseingang von Castillion öffnet sich zum ersten Mal der Blick auf das Mittelmeer.

So., 10. August 2008, Castillion, Blick aufs Mittelmeer
Die schön und flüssig zu fahrende Talabfahrt folgt der interessanten Eisenbahntrasse bis kurz vor Menton. Aus purer Faulheit fahre ich auf die Autoroute A8 bis zur Abfahrt Nice Centre, schlage mich von dort in der brütenden Nachmittagshitze durch den Feierabendverkehr der Mittelmeermetropole mit einigen Orientierungsschwierigkeiten und zunehmend schlechter Laune bis zur Promenade des Anglais, der berühmten Strandpromenade mit ihren alten Luxushotels.

So., 10. August 2008, Nizza, Promenade des Anglais
Gegenüber des »Casino Ruhl« parke ich auf dem sehr breiten Fußweg und mache einige Beweisphotos. Noch während der ersten Zigarette kommen zwei Fahrradpolizisten auf mich zu und bestehen darauf, dass das Halteverbot auf dem Fußweg auch für Motorräder gilt. Sie gewähren mir »cinq minutes« und kündigen an, dann zurück zu kommen. ich ziehe mich wieder tourentauglich an, verpacke den Photoapparat und bin nach wenigen Minuten wieder unterwegs. Auf der Rückfahrt finde ich eine Tunnel-Schnellstraße Richtung Norden, die direkt an der Autobahnauffahrt endet. Ich folge jedoch der Landstraße Richtung Norden.

So., 10. August 2008, Col de Braus mit gemauerter Serpentinenanlage
Über den Col de Nice, den Col de Braus fahre ich nach Sospel, hier muss ich die Benzinhahnen auf Reserve stellen und
beginne die erfolglose Suche nach einer Tankstelle. Weder am Ortstein-, noch am -ausgang von Sospel gibt es eine Tankstelle, innerhalb des kleinen Ortes sowieso nicht. Die landschaftlich und straßenmäßig sehr schöne südliche Auffahrt durch die Gorges du Piaon zum durch die Anfang Januar stattfindende Rallye Monte Carlo berühmten Col de Turini, der traditionell nachts überquert wurde, wird mir durch die Treibstoffsorge vergällt. Auf der Passhöhe gibt es ein einladendes Café, auf das ich aus dem selben Grund verzichte. Die Abfahrt bewerkstellige ich erneut mit abgeschaltetem Motor und mit für Notfälle eingelegtem Gang und selbstverständlich gezogener Kupplung. Hinter La Bollène gelange ich auf eine gutausgebaute RouteNational durch das Tal der Vesubie. Ich entscheide mich für die südliche Richtung, da es hier leicht bergab geht. In Lantosque finde ich endlich eine kleine Werkstatt mit angeschlossener Tankstelle und großen Dieselpfützen rund um die Zapfsäulen. Ein schlechtgelaunter Mechaniker (der Chef?) kassiert den von mir genannten Betrag, ohne ihn auf der Zapfsäule zu überprüfen. Wieder mit ausreichend Sprit, dafür aber mit dieselverschmierten Reifen unterwegs fahre ich das Tal abwärts bis zur Kreuzung mit der RN 202 bei Plan du Var und biege dort Richtung Norden ab. Nach kurzer Fahrt auf der schnellen Strecke wird man vom Straßenverlauf zum Linksabbiegen in das Var-Tal gezwungen. Knapp 20 km weiter zweigt die Gorge du Cians nach rechts ab. Die engen Felsen führen innerhalb der Schlucht zum Zusammenfluss mit der Schlucht des Pierlas. Danach sind die Felswände in einem violetten Rot gefärbt.

So., 10. August 2008, Gorge du Cians
Die Straße steigt mit vielen Tunnels auf über 1.000 Höhenmeter an. Dann taucht auf der gegenüberliegenden Talseite das kleine Dorf Beuil auf. Das Hotel Relais Bellevue ist schnell gefunden.Der englischstämmige Inhaber ist immer für einen Plausch mit Motorradfahrern zu gewinnen, obwohl er wegen seiner neuen Bekanntheit durch den Tourenfahrer-Hotelführer etwas konsterniert zu sein scheint. Er erzählt gerne aus der ›guten alten Zeit‹ als er seine Triumph noch fuhr. Hotel und Restaurant sind nicht billig, aber der Aufenthalt ist sehr angenehm – nicht zuletzt weil ich mich hier problemlos auf Englisch verständigen kann.

Mo., 11. August 2008, Beuil - Barraux (F)
Morgens gibt es dennoch leider nur ein französisches Frühstück, aber zum Ausgleich eine schöne Schluchtstrecke, in freundlichem Sonnenlicht, zuerst auf dem Hochplateau, dann im Steilhang. Danach bei bestem Wetter und mit bester Laune der liebliche südliche Anstieg zur Cime de la Bonette.

Mo., 11. August 2008, Cime de la Bonette, Südrampe
In der kargen hochalpinen Landschaft oberhalb der Baumgrenze hält mich längere
Zeit eine gemischte Schaf- und Ziegenherde auf. Das Wetter erlaubt von der über 2.800m hohen Cime de la Bonnette eine Fernsicht wie aus dem Flugzeug.

Mo., 11. August 2008, Cime de la Bonette, Richtung Westen
Die verlassenen Militärlager auf dem Hochplateau der Südrampe sehen aus wie Spielzeughäuser. Im Norden reicht der Blick bis zum Col de Vars. Weiter geht es bei zähem Verkehr nach Briançon. Noch im Ort beginnt die Auffahrt zum Col de Lautaret, ein sanfter Pass in grüner Wiesenlandschaft, auf dessen Scheitelhöhe die Südrampe des Col de Galibier beginnt, heute biege ich hier nach rechts zum Galibier ab.

Mo., 11. August 2008, Col de Lautaret, Ostrampe, vom Col de Galibier aus
Mitten auf der Straße auf der Südrampe des Col de Galibier steht das heute wahrscheinlich am häufigsten photographierte Rindvieh der Welt. Alle Autos vor mir halten kurz an und photographieren. Eben weil es hier mitten auf der Straße steht. Einige halten sogar mehrfach. Auch zwanzig Minuten später, von der Passhöhe aus sehe ich noch Autos anhalten und die glotzende Kuh photographieren. Auch ohne Kuh lohnen sich bei der Auffahrt zum Galibier gelegentliche Stopps wegen der grandiosen rückwärtigen Aussicht auf die umgebenden Berge und Gletscher und das Tal von Briançon. Der Col de Galibier ist ein durch die Tour de France bekannter spektakulärer Pass. Unmittellbar vor der Scheitelhöhe steht auf der Südrampe eine Gedenkstele für den 1940 verstorbenen Henri Desgrange, den französischen Sportjornalisten und Begründer der Tour France. Auch am Galibier gibt es heute noch eine hervorragende Fernsicht.

Mo., 11. August 2008, Col de Galibier, Blick nach Südosten
Auf der nördlichen Abfahrt kaufe ich in einem der kleinen Bauernladen Käse für meine Freunde in Barraux. Im nächsten Tal liegt ein kleiner sehr touristisch geprägter Ort, den ich so schnell wie möglich wieder verlasse, allerdings nicht ohne vorher den Tank gefüllt zu haben. Sogar für französische Verhältnisse dieses Sommers ist das Benzin hier mit 1,72€/l sehr teuer. Direkt an der Tankstelle beginnt die Auffahrt zum Col de Télegraph, dessen sehr flüssige Nordrampe nach St. Michelle de Maurienne führt. Von dort geht es auf schneller Route National nach St. Jan de Maurienne und zum Col de la Croix de fèr, auf dessen Scheitelhöhe tatsächlich ein kleines gusseisernes Kreuz steht. Heute ist mein Besuch in Barraux angekündigt und bestätigt: wir tauschen seit dem Vormittag sms mit meinem aktuellen Standort und der voraussichtlichen Ankunftszeit aus. Kurz vor dem Col de croix de fèr liegt ein kleiner Wintersportort,in dem auch jetzt im August noch auf großen Plakaten die Vorteile des Ski-Verleihs angepriesen werden. Vom Pass aus ist der große langgezogene Stausee Grand Lac Maison bereits im Tal links voraus zu erkennen.

Mo., 11. August 2008, Col de croix de fèr, Richtung Grand Lac Maison
Die Straße führt hinter dem Abzweig zum Col du Glandon am westlichen Ufer entlang. Die Landschaft erinnert an norwegische Fjorde und am anderen Seeufer gibt es sogar kleine rotgestrichene Holzhäuser. Der Mond steht in einer schmalen Sichel malerisch über den Bergen. Eine kehrenreiche Straße führt die südliche Rampe des Staudammes hinab ins ursprüngliche Flusstal, dann wechselt die Straße von der rechten auf die linke Talseite, weil rechts ein paar tausend Kubikmeter Schutt und Geröll die Straße verschüttet haben. ›Danger-de-mort‹-Schilder warnen vor der Weiterfahrt auf der alten Straße. Wenige Kilometer vor dem Ende des Tal in Rochetaillée beginnt eine Wochenendsiedlung. Schließlich führt die Straße noch auf einer langen Stahlbrücke über die Romanche, um dann auf die Route National nach Grenoble zu münden. Kurz vor der Stadt kreuzt man die Autobahn. Nach wenigen Minuten bin ich an der Ausfahrt Pontcharra und kurz darauf in Barraux. Ulli und Ralph machen ihrem Ruf als beste Gastgeber der Welt alle Ehre und bewirten mich fürstlich, nach einem wunderbaren Essen sitzen wir bei Wein, Whisky und Café auf der Dachterrasse und sehen dem Mont Blanc und den ersten Sternen beim Leuchten zu. Wir lachen über den ersten fehlgeschlagenen Besuchsversuch von vor zwei Wochen. Dass gleich hinter der Bergkette auf der anderen Seite der Isère ein norwegischer Fjord liegt, erstaunt die Einheimischen und motiviert zu Wochenendausflugsplänen.
Dienstag
Am nächsten Tag fahren wir jedoch erstmal an den Lac d’Annecy zum Segeln und Baden. Abends wird wieder auf der Dachterrasse gegrillt und getrunken.

Mi., 13. August 2008, Barraux (F) - Gluringen (CH)
Am nächsten Morgen gucke ich Ulli über die Schulter während sie an ihrem Computer das Segelwetter für die nächste Woche checkt. Vom Atlantik zieht eine tiefe Regenfront über Frankreich. Ich beschließe, noch am selben Tag aufzubrechen. Ich werde dem Isèretal bis Albertville folgen und dann über den nur auf der Westrampe asphaltiertenCol de joly ins Chamonix-Tal fahren. Am Mont Blanc vorbei über den Col de la Forclaz nach Martigny durch das Rhone-Tal nach Ulrichen. Von dort über den Furka und Oberalp nach Chur, dort auf die Autobahn und über Bregenz nach München. Am Mont Blanc soll die Regenfront gegen 14:00 h ankommen.In München am Abend des darauffolgenden Tages. Die Westrampe des Col de joly führt schmal aber gut asphaltiert durch eine karge Almenlandschaft. Auf der Scheitelhöhe gibt es ein Panoramarestaurant mit Blick auf den Mont Blanc wenn Wolken und Nebel es zulassen. Direkt östlich beginnt die grob geschotterte, sehr steile Abfahrt, die weitgehend der Trasse der Seilbahn folgt. Die Abfahrt ist anstrengend, aber machbar: wenig bremsen, nicht auskuppeln, das Hinterrad immer auf Zug halten, dann kommt man auch die steile, mit boulekugelartigen Steinen belegte Piste heil hinab. Mich erinnert die Abfahrt an die Westroute der Südrampe des Assekrem in Algerien, die ich mit eben diesem Motorrad im Frühjahr 1988 gefahren bin. Ja, ich habe die alte BMW schon lange, seit Oktober 1985. Ich habe den damaligen Kilometerstand von 160.000 inzwischen verdoppelt. Einen Gutteil davon in Afrika und im NahenOsten. 1987 auf dem Landweg – also über die Türkei, Syrien und Jordanien – nach Assuan in Südägypten, im Jahr darauf nach Djanet und Tamanrasset in Algerien. Leistung und Federwege entsprachen dem damals üblichen für eine Reiseenduro – ein Wort, dass es allerdings noch nicht gab. In St. Gervais,wenige Kilometer vor Chamonix beginnt der Regen. Ich halte an einem Restaurant mit großer überdachter Terrasse. Zwei Grand Crème und ein paar Zigaretten später steht der Parkplatz zentimetertief unter Wasser. Mit Gore-Tex beschützt mache ich mich auf ins Nasse. Der Col de la Forclaz ist ein sanfter grüner Pass. Auf der schweizer Ostrampe halte ich an einer Tankstelle, neben günstigem Benzin kaufe ich schon mal eine Vignette für die schweizer Autobahn. So muss ich ab Martigny nicht die volle und zähe Bundesstraße nehmen. Durchnässt stehe ich 250 km weiter wieder an einer Tankstelle. In Brig endet die Autobahn und ich fahre auf der gut ausgebauten Bundesstraße 19 weiter. Das Hotel Astoria in Ulrichen ist belegt. Der Tourenfahrer-Hotelführer zeigt mir vorher auf meiner Route noch mehrere andere Hotels, etwa den Gasthof Tenne in Gluringen. Ich entscheide mich gegen telefonisches Reservieren und fahre einfach hin. Mein Auftritt dort gleicht demjenigen der Gallier in Asterix bei den Schweizern. Innerhalb der wenigen Minuten, die das Einchecken an der Rezeption erfordert, habe ich eine vier quadratmetergroße schmutzige Pfütze auf dem gefliesten, frisch gewischten Fußboden hinterlassen. Es tropft aus meinen Ärmeln auf den Rezeptionstresen, weil ich die Gummizüge der Handschuhe nicht zugezogen hatte und das Wasser die Ärmel herunter in die Handschuhe gelaufen ist, und sich von dort das Jackenfutter vollgesogen hat. Die Dame an der Rezeption, die wie sich später herausstellt die Inhaberin ist, beobacht das amüsiert und bietet an, meine nasse Kleidung über Nacht in den Trockenraum zu hängen. Ich ziehe mich im Zimmer um und bringe die Sachen zurück zur Rezeption. Das Restaurant ist bodenständig und mit vielen Einheimischen besetzt. Ich bestelle mein obligatorisches Feierabendbier und zünde mir eine der trocken gebliebenen Zigaretten an. Der Blick auf die Karte für morgen ist enüchternd: Furka, Oberalp, dann noch 150 km Landstraße bis Chur, dann für 250 km auf die Autobahn, dann ist abends um acht am Ostbahnhof München mein Urlaub praktisch beendet. Tatsächlich fehlen dann noch zwölf Stunden Autozug und das kleine Stückchen vom Bahnhof Wannsee bis zu unserer Wohnung in Wilmersdorf. Der Abend im Gasthof Tenne bietet jedenfalls einen versöhnlichen Abschluss des nassen Tages. Und wenn ich morgen die Abschlusskordeln an den Handschuhen richtig zuziehe, werden die Jackenärmel auch nicht so nass.

Do., 13. August 2008, Gluringen (CH) - München (D)
Am nächsten morgen regnet es immer noch. Die Autos auf der Landstraße ziehen große Gischtschleier hinter sich her. Ich packe meine Sachen zusammen und gehe Frühstücken. Dort warten bereits meine trockenen und warmen Gore-Tex-Sachen, sowie Sweatshirt, Halstuch, Nierengurt und Handschuhe. Im Zimmer fällt mir ein, dass der Helm von innen noch ganz nass
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ist. Gegen neun stehe ich vor dem Gasthof und packe das Motorrad. Den Moment, den nassen Helm aufzusetzen, zögere ich so lange wie möglich hinaus.. Schließlich ist es soweit. Der Motor läuft. Alles ist an seinem Platz.Helm auf! Puhh! Ist das eklig. Schnell aufsteigen und losfahren. Wenige Minuten später befinde ich mich auf der Westrampe des Furkapasses. Es regnet noch immer. Die grandiose Aussicht auf den Rhonegletscher ist so etwas betrübt. Dennoch ist der Furka einer der beeindruckendsten Pässe der letzten vierzehn Tage. Direkt hinter der Passhöhe mache ich eine kurze Rast im Windschatten eines alten Hotels. Es ist so kalt, dass der Regen teilweise in Schnee übergeht. Und es ist sehr windig. Auf der Ostrampe sorgen viele kleine Baustellen für eine der Witterung angemessene Geschwindigkeit. In einer Kehre öffnet sich der Blick ins Tal: überall dicke schwarze Wolken. Nur Andermatt liegt in einem Fleck hellgrüner sonniger Wiesen. Ab Realp fahre auch ich wieder in der Sonne. Hinter dem Oberalppass stabilisiert sich das Wetter. Hinter Disentis im Vorderrheintal trinke ich einen Cappuccino auf der sonnigen Terrasse eines Restaurants. Unter dem Motorrad bildet sich in wenigen Minuten eine große Pfütze. Kurz vor Chur im Tunnel hinter Flims Waldhaus, dem letzten Pass dieser Reise, verliere ich meine Österreich-Karte. Ich fahre durch Bregenz und schicke von hier die letzte Postkarte an meinen Sohn. Auch die deutsche Autobahn bleibt trocken. An einem Autohof kurz vor München halte ich für Benzin und mein Abendbrot. Es gibt hervorragende hausgemachte Cheeseburger. Der Küchenchef fährt BMW. In München am Bahnhof warten sechs Motorräder auf die Nachtfahrt nach Berlin. Wir verplaudern die Wartezeit. Morgens um acht kommt der Zug in Berlin-Wannsee an. Die Entladung geht schnell und unkompliziert über die Bühne. Auf dem Nachhauseweg halte ich – zum ersten Mal überhaupt – am Motorradtreffpunkt ›Spinnerbrücke‹ für einen Café und ein deftiges Frühstück. Gegen zehn bin ich zuhause. Die Kleinen sind schon im Kindergarten. Das Gepäck ist schnell in den vierten Stock getragen. Ich habe in vierzehn Tagen und rd. 3.500km genau zweiundsiebzig Hochpunkte über 1.000m angefahren.
Fakten
Die Entstehung der Alpen begann vor rd.135 Millionen Jahren als die adriatische Platte mit der italienischen Halbinsel von der nordwärts drückenden afrikanischen in die europäische Kontinentalplattehineingeschoben wurde. Dadurch wurde ein Ozean von wahrscheinlich rund. 1.000 km Breite auf weniger als 100 km Breite aufgefaltet. Der Alpenbogen zieht sich in einer länge von etwa 2.000 km in einem Bogen von Wien bis Nizza. Die höchsten Gipfel der Alpen sind knapp 5.000m hoch, die Alpen liegen auf dem Staatsgebiet Österreichs, Sloweniens, der Schweiz, Liechtensteins, Italiens, Frankreichs, und Monacos. Die höchsten Pässe bzw. anfahrbaren Punkte der Alpen liegen in knapp 3.000 m Höhe.
Die Reise
Die Reise verlief von Wien nach Nizza.insgesamt wurden auf rd. 3.500 km über 70 Hochpunkte über 1.000m Höhe angefahren. Dabei wurden alle Alpenanrainerstaaten bis auf Slowenien und Monaco befahren.
Klima und Reisezeit
Wettermäßig ist der hohe Sommer zu empfehlen, da bis Juni einige der höchsten Pässe noch gesperrt sein können und bereits ab September teilweise bereits wieder mit Schnee zu rechnen ist. Der August hat allerdings den Nachteil der Ferienzeit in Italien und Frankreich. Im Juli ist in Frankreich mit Behinderungen und Streckensperrungen wegen der Tour de France zu rechnen.
Anreise
Die Anreise erfolgte mit dem inzwischen eingestellten Autoreisenachtzug von Berlin nach Wien und die Rückreise von München nach Berlin. Die Zugfahrten dauerten jeweils etwa zwölf Stunden und kosteten jeweils etwa 100 €.
Unterkunft
Ich habe fast immer in Hotels und Pensionen übernachtet, sowohl aus klimatischen Gründen, als auch aus Gründen des Komforts.
Infos und Literatur
Unentbehrlich ist Denzels Alpenstraßenführer aus dem Denzel-Verlag
Karten
Sehr hilfreich und praktisch ist der Motorradatlas Alpenländer (1:300.000),mit herausnehmbaren wasserfesten Blättern im tankrucksacktauglichen Format. Für die Offroad-Etappen (Maira-Stura, Ligurische Grenzkammstraße) sind Wanderkarten zu empfehlen. Z.B. von Kompass (1 :25.000) oder dem italienischen ›Instituto Geografico Centrale‹ (1 : 50.000).