Bork. Die Liebe der Freiheit


Epilog – weg sein


4. Szene – Der Parkplatz


2.675 Peseten. Bork zählte das Geld noch einmal — 2.650. Er drehte den Lautstärkeregler des Radios auf ›off‹ und das Ding spuckte die Cassette aus. Die Aussicht war grandios, der Parkplatz fast leer und nur ein bisschen abschüssig, vom unteren Ende konnte man die alte, schmale Brücke sehen. Darunter die Schlucht. Ein hektischer Fluss, der irgendwann bei einer anderen Hauptstadt breiter und ruhiger geworden in den Atlantik mündet. Bork ging nach oben zu den zerlumpten Hütten. Er bestellte ein Brötchen mit gebratenem Filet und ein Bier. Er setzte sich an einen der langen Klapptische, starrte in den Himmel, Zigaretten hatte er noch genug. Das Fleisch war scheußlich, das Brötchen trocken, er trank noch ein Bier. Langsam wurde es dunkel. Montagabend — nein: Dienstag, mit Sicherheit der mieseste Dienstag seit hundertfünfundzwanzig Jahren, nur der Montag vor zwei Wochen war schlimmer gewesen und gestern. Er starrte wieder in den Himmel, wartete auf die ersten Sterne und darauf, müde zu werden oder betrunken. Alle vier oder fünf Minuten quälte sich ein großer Laster unter tiefem Brummen und in schwarze Dieselwolken gehüllt die Steigung von der Brücke hinauf und genauso oft ängstigte sich einer die Steigung hinab, mit zischenden Pressluftbremsen und laut heulendem Motor. Die E90, die durch das ganze südliche Europa von West nach Ost, vom Atlantik bis nach Istanbul und weiter an die Grenze zum Irak reicht, führte in vielen Gegenden noch über schmale und kurvige Landstraßen.


Ein kleiner roter Seat hielt direkt vor seinem Tisch und zwei Mädchen falteten sich von der Rückbank, sie zerrten an ihren Rucksäcken und ließen dann alles in den Staub fallen. Der Fahrer winkte ihnen und sagte irgendwas Aufmunterndes. Die Mädchen erzählten dem Wirt ihre Geschichte und wollten die Polizei rufen. Ein LKW-Fahrer hatte sie nachmittags aufgegabelt und als sie ihm für seine Freundlichkeit keine Freundlichkeiten zurückgeben wollten, hatte er sie einfach irgendwo im Nirgendwo aus dem Wagen geworfen, nur ihr Walkman und die Brieftasche der Lockigen durften weiterfahren. Die Mädchen machten einen furchtbaren Radau. Bork war das alles zu viel, er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Er fühlte sich einsam — und außerstande mit irgendeinem Menschen zu reden. Er bestellte noch ein Bier und wartete darauf, dass etwas passierte.


Als der Wirt anfing, seine Bude aufzuräumen, schüttete Bork seine letzten Münzen auf den Tresen und bekam noch drei Bier dafür und einen Schokoriegel fürs Frühstück. Die Mädchen waren Richtung Hauptstadt verschwunden. Langsam gingen ihm die Laster auf den Keks, er setzte sich in seinen Wagen und steckte die Cassette einer amerikanischen Rockband ins Radio.

Vielleicht war das alles seine große Chance. Er war schon zu lange Gespenstern hinterher gejagt, den Gespenstern anderer Leute, immer auf der Hut, nicht zu spät zu kommen oder zu früh. Plötzlich war das alles vorbei. Wer hatte gesagt, Freiheit bedeute, nichts mehr zu verlieren zu haben. Er versuchte sich zu erinnern, wie oft er getankt hatte seit Montag.


Wahrscheinlich fünf oder sechs Mal. Er dachte an die beiden Kanadier, die er in den Bergen für ein paar hundert Kilometer mitgenommen hatte, die hielten ihn wahrscheinlich für total durchgedreht — und irgendwie hatten sie recht.


»Ciao« hatte sie gesagt, einfach so, als wolle er nur kurz ins Dorf fahren, um Brötchen zu kaufen — nein! ernster … Bork fragte sich, wann der Schmerz unerträglich werden würde und wie das dann wäre. Er stellte sich alle möglichen Sachen vor. So wie man bei Zahnschmerzen immer wieder die Zunge an die richtige Stelle bringt oder kalte Luft durch die Zähne zieht, um den Schmerz zu spüren und zu wissen, dass man es noch aushalten kann. Ihre gemeinsame betrunkene Fahrt durch das Jura am Sonntag. Beccas braungebrannte, schmalen, muskulösen Arme und Beine, ihre kleinen Brüste mit den durch ihre T-Shirts drückenden Brustwarzen, ihr kurzgeschnittenes Schamhaar. Ihren letzten Sex vor etwas mehr als zwei Wochen in Berlin, ihren ersten Sex vor drei Jahren an der Brommybrücke. Die langen durchredeten Nächte in Berliner Bars und kleinen schweizer Häusern. In einer dieser Nächte hatten sie einen Song von Willie Nelson gehört: der Erzähler beschreibt einer Frau, die er offenbar sehr liebt und die gerade frisch in einen anderen verliebt ist, den Aufstieg und Fall ihrer neuen Liebe. Bietet sich schließlich selbst als Ersatz an, wenn in irgendeiner fernen, aber sicheren Zukunft, ihr gerade erst gefundener Geliebter sie wieder verlassen hat. Bork verstand erst auf der Rückfahrt nach Berlin, dass er dieser eine war, der im richtigen Moment plötzlich wieder in ihrem Leben auftauchte und fragte sich kurz, ob das mit seinem Stolz vereinbar wäre. Er konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, weil sofort Beccas Bild vor ihm auftauchte und seine Liebe keinen Platz für Stolz ließ.


Er fragte sich aber, ob sein Nachfolger schon an irgendeiner Ecke bereitstand und auf sein Stichwort warte. »You say your heart will never break / I hope so for my sake«

1. Szene – Abschied                                      nach oben


»Ciao.« Ihre Augen waren groß und braun und leer. Sie schien alles mit höchster Aufmerksamkeit zu beobachten. Bork verzog den Mund, er nickte, zu sagen gab es nichts mehr. »Bis später …« Er nickte immer noch beständig vor sich hin, wie ein andauerndes »ja, ja, ja, ja«. Die Sonne schien sehr hell, es wurde heiß und diese grüne, liebliche, romantische Landschaft stand in einem so schrecklichen Widerspruch zu dem, was hier gerade geschah. Er sah sie an, die Bahnstrecke, das Tal, die Hügel, den Wald, den Wagen, sie. Becca kam einen Schritt auf ihn zu, und, als ob das alles ganz normal wäre, umarmte sie ihn und sagte irgendetwas in der Art, dass sie ihn beneide wegen der Reise und des Wagens und des Meers und all dessen. »Komm doch mit.« Sie schüttelte sehr langsam den Kopf, wich ein paar Zentimeter zurück und sagte »Ciao«. Bork drehte sich um, öffnete die Wagentür, stieg ein, startete den Motor. Das Geräusch des Achtzylinders gab ihm Erleichterung, ein wenig Geborgenheit. Der Wagen ruckte leicht, als er den Wahlhebel nach unten drückte, um den Rückwärtsgang einzulegen, er blickte sie noch einmal an: Durch die schmutzige Scheibe und im Gegenlicht der Sonne war sie nicht viel mehr als ein dunkler Schatten, nur ihre Haare hatten einen roten Glanz. Er drehte sich um und setze zurück auf den schmalen Feldweg. Durch das Beifahrerfenster sah er sie noch immer unbeweglich dort stehen. Langsam rollte er an ihr vorbei, nach ein paar Metern war er im Schatten der großen Bäume.


Die Kanadier


An der Autobahnauffahrt standen die beiden Jungs mit einem Stück Pappkarton, mit dem Namen einer großen Stadt am Fluss hinter den Bergen, in der Hand. Als Bork sie einsteigen ließ, stellte sich heraus, dass sie französischsprachige Kanadier waren. Verdammtes Glück, in dieser Gegend einen Lift zu finden, der sie bis zu ihrem Tagesziel brachte. Sie plapperten ununterbrochen miteinander oder auf ihn ein — er konnte das nicht unterscheiden und machte die Musik lauter. Als sie an den See kamen, fuhr Bork an eine Tankstelle: billiger Sprit, neues Öl, eine Stange Zigaretten. Die Jungs kauften irgendwelches Junkfood. Die Autobahn folgte dem Seeufer, an seinem Ende endete auch das kleine Land. Die Grenzer fanden den Chevy sehr interessant und Bork musste seine Werkzeugkisten aus- und wieder einpacken. Der Inhalt aller Taschen und Tüten wurde auf dem Asphalt ausgebreitet und ein Hund durch den Wagen geschickt. Die Kanadier verschwanden zur Durchsuchung ein paar Minuten in einem Hinterzimmer, dann nickte eine blaue Uniform und alles durfte wieder eingepackt werden. Hinter der Grenze wurde die Strecke bergiger und Bork hatte es plötzlich sehr eilig die beiden Typen wieder loszuwerden. Er wollte alleine sein, einsam, ohne Verantwortung für irgendwen. 


Rechts war eine sehr alte große Steinbrücke, die die selbe Schlucht querte wie die moderne Autobahnbrücke, über die sie gerade fuhren. Bork fiel der Lateinische Name der Stadt ein, in die er die Jungs bringen sollte: Lugdunum. Und natürlich dachte er bei der römischen Besetzung Galliens sofort an Asterix und Obelix. In einem dieser Bände sah er seine erste Liebesgeschichte: die von der schönen Falballa und ihrem ebenso schönen Verlobten Tragicomix. Tragicomix wird in die römische Armee eingezogen und soll in Afrika für Caesar gegen Scipio kämpfen. Und in diesem Asterix-Band sah Bork wohl auch die ersten Bilder der nordafrikanischen Wüste. Die Ferne und Weite der Sahara war für ihn sofort mit tiefer alles überwindender Liebe verstrickt. Liebe war für Bork das Bild der goldenen sanften Dünen der Sahara, in denen Falballa und Tragicomix sich nach langer Suche wieder in die Arme schlossen.


Zugleich bedeutete dieses Bild für ihn die Verbindung von Liebe und Einsamkeit, von Freiheit in der Fremde, die immer auch ein Eingeschlossensein bedeutet. ›legio patria nostra‹, das Motto der französischen Fremdenlegion, die ihren Anfang in eben dieser algerischen Sahara genommen hatte, drückte die eigentümlich gebundene Freiheit für ihn aus. Wahre Freiheit war für ihn nur in der Fremde erfahrbar, aber gerade die Fremde erzeugte eine Eingeschlossenheit im Selbst oder in der Gruppe, die einen in die Fremde begleitete und so ein Stück Heimat in das ferne Andere mitnahm. Für Bork war seine ›legio‹ der Wagen. Nur hier im Schutz des stabilen Blechs fühlte er sich zuhause und sicher vor den Anfeindungen der Welt, die gerade jetzt auf ihn einprasselten wie die Kugeln der aufsässigen Tuareg auf die ersten Fremdenlegionäre in ihren einsamen Forts im Süden der französischen Departements Algerien. Ihm dämmerte, dass die räumliche Entfernung zu Becca einen bestimmenden Einfluss auf sein Gefühl zu ihr gehabt hatte und noch immer hatte: die große Entfernung und die langen nächtlichen Reisen durch ganz Deutschland und die halbe Schweiz hatten seine Liebe zu einer besonders romantischen Angelegenheit werden lassen. All das erschien ihm nun wie eine einzige große Abenteuerreise, die in gewisser Hinsicht sogar seine Motorradreisen durch den Nahen Osten und Nordafrika in den Schatten stellten. Jeder Besuch wurde so zu einer Cowboy-Prüfung, bewiesen ihm selbst und der Welt Beccas Wichtigkeit. Manche Leute fanden es schon schwierig, einmal in der Woche von Kreuzberg nach Friedenau zu fahren. Er war in acht Wochen sechsmal die fast 1.000 Kilometer zu Becca gefahren und wieder zurück.


Er drehte die Musik noch ein bisschen lauter. Die Jungs wollten von ihm in die Innenstadt gebracht werden, aber er ließ sie an einer der Autobahntankstellen bei den stinkenden Raffinerien aus dem Wagen. Es war inzwischen Nachmittag und das Licht wurde golden und mild. Langsam rollte er auf der leeren Autobahn Richtung Süden, dem Meer entgegen, aber für dieses Mal nicht seinem Meer. Als es dunkel wurde, drehte Bork auf die Languedocienne nach Westen ab. Hier hatten sogar die Autobahnen klangvolle Namen. Es war noch immer warm und friedlich und leer. Fast keine Autos auf der Straße, keine Gefühle, Leere. Gegen Elf kaufte er an einer Tankstelle je eine Flasche Weißwein und Wasser mit Kohlensäure. Nach jedem Schluck aus der Wasserflasche füllte er mit Wein auf. Der Alkohol machte ihn munter. In einer Stunde würde er an der Grenze sein und bemühte sich, bis dahin einigermaßen nüchtern zu bleiben.


Die riesige Kontrollstelle war menschenleer, in dem kleinen Abteil an der einzigen geöffneten Fahrspur sah man das Licht eines Fernsehers, ein gelangweilter Arm fiel aus dem Fenster und machte eine müde Geste, weiterzufahren.

Hinter der Stadt teilte sich die Autobahn. Bork nahm wieder den Weg Richtung Westen. In der Wasserflasche war inzwischen fast nur noch Wein, warmer Weißwein. Irgendwann fuhr Bork auf einen kleinen Rastplatz und fiel in einen leeren Schlaf. Als er aufwachte, war es hell. Der Rastplatz war, wie zu erwarten, total verdreckt, leere Plastikflaschen, Tüten, Windeln, Papier in allen Farben, trotzdem machte das alles auf ihn einen fröhlichen Eindruck. Die Morgensonne und die laue Luft gaben dem Ort eine beschwingte Gutmütigkeit. Bork frühstückte ein Snickers und nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Die nächste Ausfahrt führte ihn auf eine schmale kurvige Landstraße. Maceo Parker verbreitete gute Laune im Wagen. An einer kleinen Dorf-Tankstelle tankte er und kaufte wieder einmal Öl. Es wurde langsam heiß. Er überquerte einen weiteren großen Fluss und fuhr auf die Hauptstadt zu. Die Nationalstraße war neu und glatt und breit und führte schnurgerade durch die hügelige, gelbe Landschaft.

Ein paar Berge. Die Straße glitt in einer großen sanften Rechtskurve hinab auf die zentrale Hochebene. Schon von weitem sah man die Tankstelle an den Staubwolken, die die Tanklastzüge, Schweinetransporter und LKW mit Mittelmeertomaten für das nördliche Europa dort aufwirbelten. Die Wasserflasche war fast leer und jeder Schluck schmeckte wie der letzte, bevor man einen zuviel genommen hatte. Bork hatte Hunger. Staub und Dreck knirschte unter den Rädern. Er lenkte den Wagen neben eine der Zapfsäulen, öffnete die Tür und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Er stand in einer großen Lache aus Diesel. Hier hatten die Konstrukteure auf Beton gebaut und der ließ nur soviel Öl in den Boden sickern, wie die EU-Richtlinien das vorsahen. Er fingerte die Zapfpistole aus ihrem Holster und watete vorsichtig zur Rückseite des Wagens. Irgendwie war hier alles Orange und Grün. Eine Oase aus Orange und Grün. Ein dunstig blass-blauer Himmel mit einer weißen Sonne in einem Meer aus Gelb und Braun und mitten darin diese Tankstelle mit ihren orange-grünen Zapfsäulen und der schmutzigen Baracke aus orange-grün gestreiftem Blech. Er bezahlte den Sprit, packte ein Paar genormte, plastikverpackte Sandwiches auf den Tre¬sen und parkte den Wagen ein paar Meter abseits. Bork hatte die Vision von kaltem Wasser, in das er sein Gesicht tauchen und das er mit vollen Händen über seinen Kopf schütten könnte, doch aus dem Wasserhahn in dem stinkenden Toiletten-Container kam statt Wasser nur Gegurgel. Auf der Schattenseite der Blechbaracke, in der er das Benzin bezahlt hatte, standen drei moderne Getränkeautomaten. Er zog eine große Flasche Wasser und schüttete das kalte Wasser über seinen nach vorn gebeugten Kopf , er fühlte sich ein bisschen erfrischt. Er nahm zum ersten Mal seit Stunden seine Sonnenbrille ab und alles wurde irgendwie noch trauriger.


Als er das zweite Bier aufmachte, setzte sich ein großer silberner Kombi neben seinen Chevy und ein hässlicher dicker Mann und eine hässliche dicke Frau und drei sehr laute häss-liche Kinder stolperten aus dem Wagen. Sie fingen sofort an zu streiten. Der Mann versuchte, Getränke aus dem Automaten zu ziehen und beschimpfte die Maschine oder seine Frau oder die Kinder oder einfach die Welt und Bork nahm die Bierdose und seinen Krempel von dem Tisch, setzte seine Sonnenbrille auf und ging zurück zu seinem Wagen. Das alles machte ihm gute Laune. 


Er setzte sich in den Wagen, nahm noch einen Schluck Bier, zerknüllte die leere Dose, warf sie in den Fußraum auf der Beifahrerseite und legte das Rosenheim-Konzert von Chet Baker ein. Er wartete das Einstimmen am Anfang der Aufnahme ab, beobachtete die von hier aus stille, wild gestikulierende Familie unter ihrem blau-weißen Sonnenschirm, der für alkoholfreies Bier warb, und startete den Wagen mit den ersten Tönen des Flöten-Solos: Funk in deep freeze. Oh, ja, dieser Irre kannte die Regeln des Spiels — und hatte sie ignoriert. Zehn Kilometer später setzte das Piano-Solo ein. Nochmal fünf Kilometer weiter die Trompete, immer näher kommend, doch kalt und unnahbar. Die Lautsprecher schepperten während des Bass-Solos und Bork verfolgte mit den Augen einen großen Raubvogel rechts der Straße. Das Hauptthema setzte wieder ein und Bork hatte noch immer die Bilder der orange-grünen Tankstelle in seinem Kopf, er wusste, welcher Song jetzt gleich beginnen würde: ›I’m a fool to want you‹. Er war sich nicht sicher, ob er das ertragen konnte. Er drehte die Lautstärke so hoch, wie die magere Musikanlage und seine abgestumpften Qualitätsansprüche es zuließen. Die verzweifelte Stimme des Junkies schummelte sich zwischen zerschlagenen, verfaulten Zähnen in seinen Kopf — »I know it must be wrong but right or wrong / I can’t get along / whithout you, whithout you …« und wieder diese Flöte.


Vor ein paar Wochen, als alles noch gut war, als er noch der glücklichste Mensch der Welt war, hatten sie dieses Ding zusammen in Beccas kleinem Haus gehört und sie hatte sich nach ein paar Tönen erst auf den Tisch, dann auf seinen Schoß gesetzt und sie hatten beide geweint, während Chet die traurige Geschichte sang, die einst ›Blue Eye‹ Sinatra für seine große Liebe und Ehefrau Ava Gardner gesungen hatte. Beim nächsten Song hatte sie von ihrem Vater, dem Photographen, erzählt und Bork hatte eine andere Cassette aus dem Wagen geholt und einen Song von Antonio Jobim eingelegt, der von einer Roleiflex erzählte und dem Mädchen, dessen Schönheit damit für unendliche Zeiten festgehalten wird.

»Take me back, i love you … i know it’s wrong, it must be wrong.«

2. Szene – Das Messer                                    nach oben


Die beiden Scheinwerfer waren ihm schon vor ein paar Minuten aufgefallen und jetzt war der eine weg und der andere wurde schnell größer. Motorradfahrer waren hier selten und meist waren die Begegnungen nicht so erfreulich wie man das hoffen wollte. Dunkelgrün und Weiß, kurzärmeliges Hemd, keine Jacke. Der schwarze Handschuh machte eine herrische Geste Richtung Straßenrand. Bork ging vom Gas, nur gute Hundert, fast nüchtern, keine Drogen, kein Grund für irgendeine Beunruhigung. Die grün-weiße BMW setzte sich vor ihn, trödelte unendlich lange mit siebzig oder achtzig bis zur nächsten Ausfahrt und stoppte im Schatten der Brücke. Zeit genug, die Papiere zusammenzusuchen und ein paar Worte zurechtzulegen. Bork setzte seine Sonnenbrille ab, stieg aus und begrüßte den Beamten freundlich, ein paar Worte über die Sonne und den heißen Wind. Führerschein, Fahrzeugpapiere, Pass. Der Bulle sah aus, wie der bad Cop in einem amerikanischen Film, blinzelte über den Rand seiner Fliegerbrille und grunzte irgendetwas auf die Dokumente. Ok, der Führerschein war alt und verwaschen, aber davon abgesehen war alles in bester Ordnung, das hatte sogar der gestrengen Kontrolle der blauuniformierten Eigenbrödler standgehalten. Er machte eine Handbewegung wie ein Mixgerät und zeigte auf den Wagen. Bork interpretierte das als freundliche Bitte, den Wagen durchsuchen zu dürfen. Er öffnete die hintere Tür auf der linken Seiten und machte eine einladende Geste. Der schwarze Handschuh öffnete den Reißverschluss der Reisetasche auf der Rückbank. Mit einer zielstrebigen Bewegung verschwand der nach oben vom schimmelgrünen Hemd begrenzte sonnengebräunte Arm bis zum Ellenbogen in der Tasche und rührte dort kurz einmal über den Boden. Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht unter der Fliegerbrille.


Bork war klar, dass er das Messer gefunden hatte. Das Gesicht spielte große Entrüstung. Es war ein großes Jagdmesser, deutsche Wertarbeit, in den Griff aus echtem Horn waren wie bei einem Taschenmesser eine Säge- und eine Abziehklinge eingeklappt, die sehr scharfe Hauptklinge war durch eine kurze Scheide aus festem dicken durchsichtigen Darm geschützt. Ein Schwall aufgebrachter Worte kam aus dem Mund unter der Fliegerbrille. Bork erklärte in tiefster Demut, dass es sich um ein wichtiges Erbstück handele, von seinem Vater; erzählte Geschichten aus seiner Kindheit, von seinem Vater und der Jagd und dessen kürzlichem Tod bei einem Unfall. Es sei ganz unmöglich, ohne dieses Messer auf eine Reise zu gehen. Der Bulle hörte sich alles an, begutachtete das Messer, klappte die Zusatzklingen auf und zu und prüfte die Schärfe. Bork beobachtete das etwas sorgenvoll, man konnte sich leicht schneiden. Das runde Gesicht sprach wieder und erklärte, dass es völlig ausgeschlossen sei, diese gefährliche Waffe in diesem Land durch die Gegend zu fahren. Mehrfach wurde die Länge der Hauptklinge mit der Breite einer Hand verglichen und jedesmal war das Ergebnis offensichtlich. Bork behauptete, von derlei Regeln nichts zu wissen und, dass bei ihm zu Hause Messer jeder Art erlaubt wären. Darüber konnte der Bulle nur lachen: solcherlei Waffen seien überall verboten — schon wegen der Terroristen! Nein, nein, nein. Das Messer sei nur für die Jagd und eben für allerlei Autoreparaturen und fürs Camping und dergleichen. Aber der Bulle hatte sich jetzt auf die Terroristensache eingeschossen, das Messer müsse beschlagnahmt werden, er ging zu seinem Motorrad, holte ein kleines Buch und einen Schreibblock.


Bork versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wollte dieses Messer nicht hergeben, denn auch wenn die rührselige Geschichte über seinen Jäger-Vater nicht stimmte, er hing an diesem Messer. Er hatte es, schon seit er Teenager war und es hatte ihn auf allen seinen Reisen begleitet. Schwer und scharf hatte es im Handschuhfach gelegen oder unter dem Fahrersitz oder im Tankrucksack. Man konnte damit Äste aus Bäumen schneiden, wenn man einen Grillspieß brauchte, oder Fische schuppen und ausnehmen. Man hätte auch Kaninchen oder Wildschweine abziehen können oder einen Tuareg-Überfall abwehren. Dazu war es bisher nicht gekommen. Wichtiger für Bork war, dass er diese kleine Schlacht mit der Ordnungsmacht auf keinen Fall verloren geben wollte. Er wusste, dass er um dieses Messer kämpfen musste, weil er ein kampfloses Aufgeben nicht ertragen hätte. Und er wollte diesen Kampf gewinnen, er wollte dieses Zeichen. Wenn er jetzt diesen kleinen unbedeutenden Kampf um ein altes Jagdmesser gewinnen konnte, würde er jeden Kampf gewinnen können. Das erkannte er in den wenigen Augenblicken, die das Schimmelhemd mit Buch, Schreibblock und Kugelschreiber hantierte. Einen klaren Gedanken zur Lösung der Situation hatte er aber noch immer nicht fassen können. Bork begann zu reden, nun nicht mehr demütig, sondern fraternisierend, er hatte von seinem Vater die Kunst der unauffälligen Bestechung gelernt und bei seinen Reisen im Nahen Osten verfeinern können. Wie hoch wohl der Wert eines solchen Messers hierzulande wäre, wollte er wissen. Und ob nicht, diesen Wert berücksichtigend, eine Lösung vorstellbar wäre, die beide Seiten zufriedenstellen könnte. Er machte eine Geste hin zu seiner Brieftasche, die noch immer geöffnet auf dem Dach des Wagens lag. Der Polizist musterte ihn, den Wagen und lächelte. »No«, sagte er leise, aber bestimmt. Bork sagte, man müsse bei einer solchen Lösung natürlich auch den emotionalen Wert dieses Messer für ihn berücksichtigen, und dass er zu großen Opfern bereit wäre, um es behalten zu können. Die schwarz belederte Hand steckte den Kugelschreiber zurück in die Brusttasche und sagte wieder, es sei ganz unmöglich, zu erlauben, dass eine solche gefährliche Waffe hier auf den Straßen unterwegs sei. Und er müsse dieses Messer in jedem Fall beschlagnahmen. Entweder werde es dann zerstört, oder an die zuständigen Stellen des Heimatlandes verschickt, wo man es, falls eine solche gefährliche Waffe – diese Redewendung gefiel ihm offenbar besonders – falls also eine solche gefährliche Waffe dort erlaubt sei, könne man sie sich dann von den zuständigen Stellen – auch diese Wendung wiederholte er wie auswendig gelernt – aushändigen lassen. Das war nun immerhin eine neue Möglichkeit. Bork sagte, in diesem Fall solle das Messer an die zuständigen Stellen geschickt werden. Der Bulle sah ihn, soweit das durch die dunklen Gläser erkennbar war, eindringlich an, überlegte kurz und sagte dann, dass das Verfahren sehr umständlich und aufwendig sei und nur in der Kaserne der Staatspolizei abgewickelt werden könne. Bork deutete noch einmal auf seine Brieftasche und sagte, dass er grundsätzlich einfache Lösungen vorzöge. In diesem Fall müsse das Messer auf der Stelle beschlagnahmt und zerstört werden, der Kugelschreiber kam wieder zum Vorschein und die Lederhand blätterte in dem kleinen Buch. Offensichtlich wollte auch der andere diesen Kampf nicht verloren geben. Sie einigten sich darauf, zur Kaserne zu fahren und dort die notwendigen Papiere auszufüllen, um die gefährliche Waffe an die zuständigen Stellen des Heimatlandes versenden zu lassen.


Das Messer wanderte in eine der Seitentaschen des Motorrades und der Bulle machte ihm klar, in gleichbleibendem Abstand zu folgen.

Das Motorrad wurde gestartet und Bork setzte sich in den Wagen. Als der Bulle losfuhr, folgte Bork ihm langsam. Es ging von der Autobahn auf die Landstraße, über die Brücke und wieder zurück auf die Autobahn Richtung Osten. Etliche Kilometer schlich Bork hinter dem grün-weißen Motorrad her. Es war schrecklich langweilig und Bork kämpfte gegen den Schlaf. Nach etwa einer halben Stunde leuchtete an einem Hinweisschild auf die nächste Ausfahrt einmal kurz der rechte Blinker der BMW auf. Bork ließ zur Antwort ebenfalls den rechten Blinker einmal kurz aufleuchten und folgte dem Motorrad auf die nächste Ausfahrt. Dort ging es links über die Brücke, die wahrscheinlich der höchste Punkt im Umkreis einiger Kilometer war. Von hier konnte er die Umgebung betrachten. Ungefähr zwanzig Kilometer voraus sah man eine kleine Ansammlung gelblich brauner Häuser mit einem sehr weißen Kirchturm in der Mitte. Die Landschaft war flach und mit niedrigen verdorrten Büschen bewachsen. Es gab weder Bäume noch Zäune. Bork folgte dem Motorrad in den Ort. Es ging in einigen Kurven hindurch, an einem Platz mit einer alten Kanone vorbei. Am anderen Ende des Ortes war die Polizeikaserne. Ein niedriger quadratischer Bau mit flachen Fenstern am oberen Rand der gelblichen Wände – wie liegende Schießscharten, dachte Bork. An der Seite der Kaserne befand sich eine breite Einfahrt mit einem großen zweiflügeligen Gittertor, das nun für sie von zwei Uniformierten geöffnet wurde. Das Motorrad wurde auf einem überdachten Parkplatz abgestellt. Bork stellte den Malibu auf der anderen Seite des Hofes an eine Stelle, die bald im Schatten liegen würde.


Wenig später saß Bork in einem flachen quadratischen Raum mit schmalen Fenstern an der Oberkante von zweien der vier Wände. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt. Rund um den Raum verlief eine niedrige Bank. Ein paar Meter neben Bork saß ein kleiner Mann mit dickem Bauch. Er hatte schütteres schwarzes Haar, das sich in dünnen, schweißnassen Locken auf seinem Kopf kringelte. Ein Polizist kam in den Warteraum, setzte sich neben den Mann. Sie beugten sich beide über ein Blatt maschinenbeschriebenes Papier, schließlich reichte der Uniformierte dem Mann einen Kugelschreiber und er setzte seine Unterschrift darunter. Beim Aufstehen lächelte der Polizist Bork zu und sagte etwas, das Bork nicht verstehen konnte. Kurz darauf kam er wieder in den Warteraum und reichte ihm ein Formular und einen Kugelschreiber. Bork begann, das Formular auszufüllen. Punkte, die offenbar kompliziertere Sachverhalte betrafen, übersprang er und konzentrierte sich auf seine persönlichen Daten. In dem Gebäude war es angenehm kühl.

Nach einer halben Stunde kam der Polizist zurück und nahm Bork das Formular zufrieden wieder ab. Kurz darauf hörte Bork eine erregte Diskussion in der Landessprache vor der Tür des Warteraums. Er verstand nur, dass es um ihn, el alemán und die ›gefährliche Waffe‹, ging. Sein Motorradfahrer betrat den Warteraum und machte eine Kopfbewegung in Borks Richtung, ihm zu folgen. Bork stand auf und folgte den schwarzen Reitstiefeln auf den Flur und zu einer Tür gegenüber. Der Motorradfahrer war bereits eingetreten, die Tür angelehnt, Bork klopfte und öffnete die schwere Holztür in einen Raum, dessen geringe Breite fast vollständig von einem alten Schreibtisch eingenommen wurde.


Der fast kahlköpfige Mann mit dem dünnen schwarzen Bärtchen war offenbar der Chef der hiesigen Staatspolizei. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag Borks Messer auf einem weißen Baumwolltuch ausgelegt, wie in einer Ausstellung. Auch der Chef klappte die im Griff angebrachten Zusatzklingen auf und zu und prüfte die Schärfe der großen Hauptklinge. Der Motorradfahrer berichtete stolz von seinem großen Fang und dem Terroristen-Messer. 



Erneut wurde die Länge der Klinge mit der Breite einer Hand verglichen. Bork sagte, er wolle, dass das Messer zur zuständigen Stelle in Deutschland geschickt werde – vermutlich der Polizei. Er versuchte, sich an die Hausnummer der zentralen Polizeidienststelle in Berlin am Platz der Luftbrücke zu erinnern. Der Chef unterbrach seine Gedanken mit einem auf Deutsch gemurmelten »Bundeskriminalamt«. Natürlich! Die spanische Staatspolizei kommuniziert nicht mit den Behörden der deutschen Bundesländer, sondern nur direkt mit der Bundespolizei. Das Formular von vorhin wurde hervorgeholt und vom Chef persönlich weiter ausgefüllt. Er fragte Bork und den Motorradfahrer noch nach ein paar Details und kam schließlich zur Adresse der ›zuständigen Stelle‹ in Deutschland und der Versandart. Ob das Messer express per Luftfracht nach Wiesbaden gebracht werden solle? Bork würde ohnehin erst Anfang Oktober wieder in Deutschland sein, normale Beförderung sollte also ausreichen. Ob er in Landeswährung oder in D-Mark bezahlen wolle? Borks EC-Karte funktionierte schon in der Schweiz mit dem Hinweis »Karte nicht lesbar« nicht mehr. Bork entschied sich also für die Zahlung mit D-Mark und fragte vorsichtshalber nach dem ungefähren Preis. Der Chef runzelte die Stirn und begann auf seiner Schreibtischunterlage einige Zahlen untereinander zu schreiben, die er dann mit einem Taschenrechner addierte, das Ergebnis zeigte er Bork auf dem Taschenrechner: knappe 80.000 Peseten, fast tausend Mark. Bork schüttelt erstaunt den Kopf. Der Chef begann eine lange Erklärung, die mehrfach die Worte, Sicherheit, Zoll, Polizei und Transport enthielt. Bork schüttelte den Kopf und sagte, dass er 8.000 Peseten bereit sei zu bezahlen, aber nicht 80.000, schließlich sei er ein junger Mensch und habe nicht soviel Geld. Der Chef hatte inzwischen das Messer wieder in die Hand genommen und prüfte fachmännisch das Gleichgewicht zwischen Klinge und Griff. Offenbar sollte nun, nachdem Bork das Messer nicht behalten konnte, auch der Motorradfahrer nicht der neue Besitzer des Jagdmessers werden, sondern sein Chef – vielleicht wirkte sich das günstig auf seine Karriere aus oder die routinemäßige Versetzung ins Baskenland würde so lange verschoben, bis er nur noch im Innendienst arbeitete. Bork lächelte den Chef entschuldigend an und grinste zu seinem Motorradfahrer hinüber. Ob er nun gehen könne, wenn er auf einen Versand des Messers verzichte oder ob noch irgendwas zu erledigen sei. Der Chef stellt Bork eine Quittung aus, auf der ganz unten angekreuzt war, dass der unerlaubte Gegenstand direkt nach der Beschlagnahme vernichtet worden sei. Bork nickte den beiden Beamten zu, verabschiedete sich höflich und ging durch die kühlen stillen Gänge der Kaserne zum Ausgang. Draußen war es sehr hell und drückend heiß. Borks Malibu stand inzwischen im Schatten, trotzdem war es im Wagen unerträglich heiß. Bork startete den Motor und ließ die Scheiben herunter. Er fuhr aus dem Hof der Kaserne und hielt beim nächsten Café in der kleinen Stadt. Er bestellte einen Café und einen Brandy, zündete sich eine Zigarette an und überdachte die Ereignisse der letzten Stunden. Als die Getränke kamen, goss er den Brandy in die Tasse und trank sie zügig aus. Bevor die Zigarette aufgeraucht war, hatte Bork schon das Geld auf die Untertasse gelegt und saß wieder in seinem Malibu. Er fuhr zurück zur Autobahn Richtung Hauptstadt.


3. Szene – Der Reifen                                    nach oben


Das Nahen der Hauptstadt kündigte sich durch die nun nicht mehr sandigen, sondern bunt beblumten Innenflächen der Auf- und Abfahrtkleeblätter an. Die Ausfahrten waren nun nach Straßen-, statt nach Ortsnamen benannt. Dann musste er sich für Richtung Südwesten einfädeln. Beim Überqueren der Fahrbahnmarkierungen hoppelte der Wagen ungewöhnlich heftig, keine Minute später hörte Bork einen gedämpften Knall, dem ein lautes Schlapp-Schlapp-Schlapp folgte. Er fühlte im Lenkrad, dass der Malibu stark nach rechts drängte. Ein Reifen war geplatzt. Bork kannte diese Geräusche und das Gefühl im Lenkrad von einer seiner Nachttouren in die Schweiz, schaltete routiniert die Warnblinkanlage ein und fuhr auf die gerade hier nach dem Ende des Autobahnkreuzes wieder beginnende Nothaltespur. Der hintere rechte Reifen war platt. Bork wusste, dass er kein richtiges Ersatzrad hatte, sondern nur eines dieser sogenannten Noträder, die vor einigen Jahren bei ihrer Einführung als Standardausstattung deutscher Neuwagen für anhaltende Diskussionen über Sicherheit, Service und selbstverständliche Ausstattung geführt hatten. In den USA – gerne als Vorbild in Sachen Service und Sicherheit im Automobilbereich herangezogen – waren solche Noträder schon aus Platzgründen bereits Ende der siebziger Jahre selbstverständlich. Bork kantete den Wagenheber unter eine geeignete Stelle an der rechten Seite des Chevy. Als der Wagenheber endlich senkrecht stand und so herum, dass man ihn auch bedienen konnte, drehte Bork ihn in die Höhe. Jetzt fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, die Radmuttern vorher zu lösen. Also wieder runter, Radmuttern lösen und wieder herauf. Das rechte hintere Viertel des Wagens hob sich aus der Federung, aber nicht das Rad vom Boden. Nach einer halben Stunde in Hitze und Abgasgestank stand der Chevy wieder auf vier luftgefüllten Reifen, von denen einer jedoch erheblich kleiner im Durchmesser und nur etwa halb so breit war wie die anderen drei. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit war auf dem Reifen mit 50 mph, also ungefähr 80 km/h angegeben. Der Chevy fuhr, als hätte man einen Elefanten auf die Beine einer Antilope gesetzt. Bork folgte dem Autobahnring um die Hauptstadt, während er beide Straßenseiten nach großen Tankstellen und Reifenläden aller Art absuchte. Bork kannte die Vielzahl von kleinen schmuddelig wirkenden Reifenbuden, die eine Sofort-Reparatur in kürzester Zeit versprachen, teilweise sogar Neureifen bewarben. Da Bork nun aber genau so etwas suchte, fand er nur Tankstellen und Supermärkte. Ein paar Mal hielt er an Werkstätten und Tankstellen und fragte nach Reifen oder Reifenläden. Als Bork südlich der Stadt wieder auf die Fernstrecke nach Westen einbog, strahlte ihm eine gelbe Sonne von einem violett werdenden Himmel entgegen. Es wurde Abend. Bork musste einen neuen Reifen beschaffen, bevor es dunkel wurde. Nach ein paar weiteren vergeblichen Stopps an kleinen Werkstätten, suchte er sich auf der Karte einen Ort aus, den er genauer durchsuchen wollte: er schien groß genug für einen spezialisierten Reifenhändler, aber dennoch übersichtlich genug für einen Ausländer mit beschränkten Sprachkenntnissen. Außerdem klang der Name nach der Moral von Seeleuten und Seeleute sind mutig, tapfer und immer zuversichtlich.


Bork verließ die Autobahn an der Anschlussstelle mit dem Namen ›Navalmoral Centro Ciudad‹ und landete in einer öden Gegend. Er folgte den Wegweisern nach Navalmoral und kam nach einigen Kilometern in die kleine Stadt. Er sah Cafés, Läden, sogar einige mit Pollern abgesperrte leere, schmale Gassen, die wie die Karikaturen von Fußgängerzonen wirkten, schließlich entdeckte Bork etwas vor ihm, an einem Haus auf der linken Straßenseite, ein blau und weiß leuchtendes Michelin-Männchen. Er fuhr durch ein großes Schiebetor in die halbdunkle Werkstatthalle, stellte den sofort zum Mittelpunkt werdenden Chevy ab und stieg aus. Er begrüßte die Anwesenden pauschal aber freundlich mit einem ›Guten Nachmittag‹ und steuerte auf einen älteren Herrn zu, der keine schmutzig blaue Latzhose trug und saubere Hände hatte. Der lehnte an einem großen Stehtisch, der zugleich als Katalogschrank diente. Bevor Bork sagen konnte, was für einen Reifen er brauchte, stand der Herr schon am Chevy und begutachtete kopfschüttelnd das Notrad, dann ging er einige Schritte um den Wagen herum, bückte sich und kam mit einem kleinen bekritzelten Notizzettel wieder zum Vorschein. Vorsorglich Entschuldigungen in Borks Richtung murmelnd machte der Herr sich auf den Weg zu seinen Reifenkatalogen: es würde schwer werden, einen passenden Reifen zu finden, und es seien sowieso vorne und hinten unterschiedliche Fabrikate montiert. Einen Michelin, wie er seit dem letzten Reifenplatzer hinten links montiert war, hatte die Werkstatt nicht vorrätig. Aber einen Firestone in passender Größe. Der Herr machte sich erhebliche Sorgen, dass hinterher verschiedene Fabrikate, also verschiedene Profile auf einer Achse montiert sein würden. Da die Reifen sehr teuer waren, wollte Bork auf keinen Fall zwei neue Reifen kaufen – und er fand es wichtiger, dass auf der Vorderachse links und rechts das gleiche Profil war. Die Frage der Reifenwahl erinnerte Bork daran, dass er nicht mehr genug Geld hatte, egal welches Fabrikat. Er fragte den Werkstattmeister nach einer Bank in der Nähe. Der schüttelte nur den Kopf. Alle schon geschlossen. Seine EC-Karte funktionierte nicht. Aber er hatte zehn Euroschecks, die er bei jeder Bank in Bargeld tauschen konnte. Der Werkstattmeister schlug vor, er könne den Reifen auch mit einem Scheck bezahlen. Der Preis liege ja unter der EC-Garantiesumme von umgerechnet knapp 400 D-Mark. Bork konnte den Werkstattmeister überreden, ihm den restlichen Betrag bis zur Garantiesumme in Landeswährung auszuzahlen. So hatte er etwas Geld für ein Abendessen.



Einige Zigaretten später saß Bork wieder in seinem Malibu und fuhr nun wieder auf vier richtigen Reifen durch das kleine Städtchen nach Süden. Er fuhr an der Abfahrt vorbei, an der er vorhin die Autobahn verlassen hatte und hielt auf die niedrige Bergkette zu, die die Hochebene nach Südwesten abschließt. Der Achtzylinder schwang den Wagen mühelos die engen Kurven hinauf. Nach jeder zweiten Kehre wendete sich die Straße wieder nach Westen und er blickte direkt in die Sonne.


I. Akt – staring at the sun                   nach oben


1. Szene


Seit Anfang April hatte es nicht mehr geregnet. Und jetzt war schon Juni. Das war gut für Bork. Er arbeitete seit Saisonbeginn in einem Freiluftkino. Gutes Wetter bedeutete viele Zuschauer, viel Arbeit, viel Geld. Jetzt saß er wie jeden Abend nach der Arbeit an einem Tresen und träumte in seinen Whiskey. Von links hörte er eine raue Frauenstimme: »Du bist doch Deutscher, oder?« In diesem Teil der Stadt konnte das auch der Anfang eines antiimperialistischen Überfalls sein. Doch dann ging die Frage weiter: »Wie hieß noch der andere Nazi-Bonze, der schwul war? Bormann und…?« - »…Röhm.«, sagte Bork, »Chef der SA bis zu seiner Ermordung. Von Bormann wusste ich das nicht. Warum wollt Ihr das wissen?« – »Wir haben uns nur gerade drüber unterhalten und der zweite fiel mir nicht ein.« Sie setzte sich neben Bork und deutete beim Reden auf einen großen, schlanken Typen mit langen, dunklen Haaren, der neben ihr stand. Sie war groß und sehr schmal, ihre Stimme war rau. Sie sprach mit schweizer Akzent. Bork sagte irgendetwas schmeichelhaftes über ihre Stimme, während sie sich eine Gitanes Filter anzündete. Sie lachte und bestellte einen Jack Daniels. Noch bevor Bully den Whiskey auf den Tresen stellte, wusste Bork schon, dass sie Becca und ihr Begleiter Jan hieß, aus Bern kamen und sie in Berlin als Programmiererin arbeitete. Sie erzählte von skurrilen Science Fiction-Filmen wie ›Der Silberne Planet‹ oder Tarkovskis ›Solaris‹, nach Stanislaw Lem und von amerikanischer Independent-Musik. Es war schon ein Uhr und sie redeten und redeten und tranken, bis der Barkeeper sie rausschmiss, und dann saß sie noch eine Stunde auf seinem Motorrad und sie redeten weiter. Er wollte sie wiedersehen und fragte, ob sie öfter in der Milchbar sei. Sie sagte, im Sommer sei sie immer im magischen Dreieck von Milchbar, Franken und Wiener Blut unterwegs und nehme nur hier und da ein Getränk mit. Das Wiener Blut gehöre dem Bruder ihres Freundes und sei quasi ihr Wohnzimmer. Im Franken kenne sie den Keeper seit Jahren und fühle sich dort auch wie zu Hause. Nach einem langgezogenen Abschied und einer kurzen Umarmung fuhr Bork zügig nach Hause in seine Neuköllner Wohnung, legte sich neben Sanne ins Bett und schlief ein.


Die kommende Woche verlief bis auf eine kurze sexuelle Begegnung mit einer Kollegin aus dem Kino ereignislos. Am Samstag ging Bork nach der Arbeit ins Wiener Blut, nahm seinen Whiskey mit auf die Straße und schlenderte Richtung Franken, zwei Stunden lief er das magische Dreieck Wiener Blut/Franken/Milchbar ab und hielt nach Becca Ausschau. Schließlich landete er in der Milchbar am Tresen und bestellte noch einen Jack Daniels.


Sonntag gegen Mittag saß er wie fast jeden Morgen vor dem Mir und frühstückte. Nach dem ersten Croissant ging er hinein an den Tresen, um sich einen zweiten Café zu holen. Als er zurückkam, sah er Becca am Nebentisch mit einem kräftigen Typen mit ungesunder Gesichtsfarbe sitzen, sie bestellten gerade ein Frühstück und sahen sich die Ergebnisse ihres Flohmarktbesuches an: eine kurze braune Lederjacke, einige Bücher und viele Schallplatten. Eine davon mit der bildfüllenden Zeichnung eines Kreissägenblattes. Becca war sehr stolz auf diese Platte und sagte, die Jungs von den Screaming Trees seien ihre Lieblinge. Sie sagte das so, als wäre sie persönlich bekannt mit ihnen. Und irgendwie stimmte das wahrscheinlich auch, schließlich folgte sie der Entwicklung dieser Band schon seit der ersten, schlicht produzierten und schlecht gepressten EP. Nach dem Frühstück blieben sie alle noch vor dem Mir sitzen und tranken mehr Café. Beccas Freund musste dann irgendwann gehen und Bork bestellte zwei Tequila-Tonic. Ihm war gleich klar gewesen, dass Schone, Beccas Freund, ein erhebliches Problem mit illegalen Rauschsubstanzen hatte. Nun erzählte sie von ihrem gemeinsamen Urlaub im vergangenen Winter im Südwesten der USA und in Mexico. Die Drogenbeschaffung hatte sie dort etliche Male in schwierige Situationen geführt, die allesamt Becca meisterte. In Mexico waren sie nach einem Überfall an einen korrupten Polizisten geraten, mit dem sich Schone anlegte. Becca entschärfte auch diese Situation für ihn. Schließlich hatte er kürzlich betrunken ihren geliebten Chevy – ein 73er Caprice Coupé, das sie sich nach dem USA-Urlaub gekauft hatte – ein paar hundert Meter an der Autobahnleitplanke entlang geschrammt. Sie verzieh ihm alles. 


Montagnachmittag versuchte Bork, sie von einer Telefonzelle aus anzurufen und sprach einige Sätze mit Schone. Danach ging er zum Wiener Blut, um einen schnellen Tequila-Tonic vor der Arbeit zu trinken . Dort saß Becca mit einer Freundin und einem Glas Weißwein. Schon nach einer Stunde musste Bork zur Arbeit. Sie verabredeten sich für später am Abend.


Im Freiluftkino lief irgendein langer Film, Bork kam erst nach Mitternacht in die Milchbar, er bestellte und zog mit seinem Whiskey sofort weiter ins Wiener Blut. Auf dem Rückweg traf er Becca, die gerade aus dem Franken kam. Sie saßen draußen auf einer der Bierbänke. Nach zwei Whiskies fragte sie: »Kennst Du die Brommybrücke?« Er hatte eine vage Vorstellung, wo diese Brücke sein musste oder gewesen war, bevor sie während der Schlacht um Berlin von der Wehrmacht gesprengt wurde. In der Verlängerung der Eisenbahnstraße querte sie die Spree zwischen Kreuzberg und dem Ostbahnhof. Becca erzählte vom Westufer der Brommybrücke: man konnte dort über eine kleine Mauer steigen und am Ufer sitzen und die Brückenpfeiler und das andere Ufer an der East-Side-Gallery betrachten. Sie beschlossen, zur Brommybrücke zu gehen. Betrunken wanderten sie den guten Kilometer durch Kreuzberg von der Milchbar zur Spree. Sie kletterten über die Mauer und legten sich ans Ufer. Bork dachte an Red Hot Chili Peppers ›Under the Bridge‹: »Some times I feel like I don’t have a partner / some times I feel like my only friend is the city I live in / the city of angels (the city of bears) / lonely as I am together we cry«. Er wünschte sich sehr, Becca könne diese Leerstelle auf Dauer ausfüllen, sein cowboy companion in der Dunkelheit der Großstadtnächte und der hellen Weite der Prärie werden. Darüber sprach er kein Wort. Sie lagen am Fluss und redeten über Filme, Bücher und Autos, Bork erzählte Anekdoten von seinen Nah-Ost-Reisen. Irgendwann lag ihre Hand auf seinem Unterarm und hielt ihn fest während sie redete. Mit der anderen Hand streichelte er vorsichtig ihren Hals und ihre Wange. Er zog ihren Kopf zu sich heran. Sie küssten sich lange. Seine Hand wanderte hinten in ihre Jeans, sie hatte einen kleinen festen Hintern mit einer weichen Pfirsich-Haut, sie stöhnte auf, als seine Finger sich zwischen ihren Pobacken nach vorne schoben. Ihre Hand glitt in seine Hose, Bork war sehr erregt, aber wollte oder konnte nicht kommen.


Sie gingen zurück in die Milchbar und bestellten zwei Whiskey. Bork bekritzelte kleine Zettel, wenn sie sich unterhielten, weil ihm immer so viele abschweifende Gedanken kamen und er ihre Assoziationsketten nicht unterbrechen wollte. Irgendwann erzählte sie von Sven und den nächtelangen Tischfußballturnieren in einer Kneipe in Neukölln. Bork konnte Kickern schon seit seiner Zeit im Jugendzentrum nicht mehr ausstehen. Bork verstand, dass es sich bei Sven um so etwas wie ihren neuen Freund handeln musste, sie Schones Junkieleben nicht mehr ertragen konnte und sich von ihm getrennt hatte. Sie wohnte nun in einer WG in Treptow an der Grenze zu Neukölln an einem Seitenarm des Landwehrkanals. Irgendwann verstand Bork, dass es sich um genau die Wohnung handelte, in der er mit ein paar Freunden aus Hannover und Sanne das letzte Sylvester gefeiert hatte. Irgendwer hatte von dieser Party erzählt und sie waren nach Zwölf einfach dort hingefahren. Nur zufällig war Becca an diesem Abend nicht da gewesen.

Bork hatte Anfang Januar aufgehört zu Rauchen und kiffte nur noch gelegentlich. Das Dope kaufte er von Becca. Da solche Geschäfte natürlich nicht am Telefon besprochen werden konnten, besuchte er sie öfter unangemeldet in ihrer neuen Wohnung. Ihr Zimmer wirkte all die Zeit merkwürdig provisorisch. Als es im März langsam wieder etwas wärmer wurde, wanderten sie von ihrer Wohnung ins Wiener Blut. Eine schwarze Jeans schlackerte um ihre dünnen Beine, ein viel zu großes rot-buntes Seidenhemd, das sie fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpft ließ, darunter ein kleiner schwarzer BH. Bork fand, dass sie sehr sexy aussah. Er arbeitete inzwischen als Filmvorführer in Wilmersdorf. Sie verabredeten sich für einen der kommenden Abende in der Milchbar. Ausgerechnet an diesem Abend regnete es wie verrückt. Bork war klatschnass als er mit seiner BMW in Kreuzberg ankam. Er bestellte zwei Whiskey und wartete auf Becca.


Sie standen in der Nähe der Tür, er hielt noch immer die beiden Gläser in den Händen. Sie sagte wie nebenbei, dass sie bald nach Hause müsse, da sie beschlossen habe, spätestens um zwei Uhr ins Bett zu gehen, wenn sie am nächsten Tag arbeiten müsse. Und es sowieso Zeit wäre, ihr Leben grundlegend zu ändern.


Sie wolle im Sommer zurück in die Schweiz ziehen und vorher Sven für seine schweizer Aufenthaltsgenehmigung heiraten, Berlin sei ihr zu kaputt und zu voll mit schlechten Erinnerungen. Becca sagte das, als beschreibe sie ihre Kinopläne fürs Wochenende. Bork schwieg fassungslos darüber, dass sie ihn bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt hatte. Nicht dass er konkrete Pläne mit Becca gehabt hätte, aber zumindest die Möglichkeit ihrer Nähe wollte er nicht missen. Nachts schrieb er ihr einen langen Brief, in dem er vor allem seine Entscheidung begründete, sie nicht zu begleiten, sondern bei Sanne zu bleiben. Dass Becca weder erwartet, noch auch nur angedeutet hatte, er könne mit ihr in die Schweiz gehen, machte es im Grunde zu ihrer Entscheidung. Borks Brief machte es zu seiner. Er versuchte, seine Trauer, über ihr Weggehen auszudrücken. Er schrieb ihr, er habe sich für das normale Leben entschieden, und gegen den Wahnsinn, die Drogen, den Rock’n’Roll.

Dass Becca in ihre Heimat zurückkehren wollte und Sven heiraten würde, verletzte Bork nur leicht. Bork hatte sich schon immer gut an Details erinnern können, während ihm die Rekonstruktion von Zusammenhängen schwer fiel. So konnte er zwar nicht gut vergessen, aber leicht verzeihen. Eifersüchtig war er auf Sven wegen der Nächte, die er mit Becca beim Tischfussballspielen verbrachte, nicht wegen ihrer bevorstehenden Heirat. Sie hatte einfach eine Entscheidung für ihr weiteres Leben getroffen, aus Borks Sicht war Sven dabei nur eine unbedeutende Nebenfigur, die jederzeit ausgetauscht werden konnte. »And should these things ever come true / When love is gone, what will you do? / Will you accept my love for you? / I hope so for my sake«. Er Hatte sich entschlossen, in die Normalität zurückzukehren, den gefährlichen direkten Blick von der Sonne abzuwenden und sich nur an der warmen Helligkeit, die sie der Erde schenkte, zu erfreuen. Ein Rückfall in die trübe Düsternis des letzten Frühsommers erschien ihm ausgeschlossen.


Prolog                                     nach oben

An einem dieser wenigen Tage im Jahr, wenn die Sonne abends schon weit bis in den Nordwesten zog, aber die Bäume noch so wenig Blätter hatten, dass am frühen Abend die Sonne in ihre Wohnung in einem zweiten Hof in Neukölln schien, öffnete er eine Flasche 85er Barolo: nur einen winzigen Schluck zum Probieren und er brauchte ein Glas zum Kochen, für die Pasta al Clemenza.  Bork trank das Glas aus. Während der Wein, den er zu den Zwiebeln und dem Knoblauch gegossen hatte, langsam verkochte, schenkte er sich ein weiteres Glas ein. Er merkte, wie der Wein wirkte und das gefiel ihm. Er meinte, irgendwo gelesen zu haben, der Trinker trinke nicht wegen der Wirkung, sondern wegen der Wirkung der Wirkung. Das erschien ihm sehr plausibel. Aber heute musste er nüchtern bleiben – jedenfalls vorläufig, er war mit Sanne, zum Kochen und Essen verabredet. Sie kam gegen halb neun von der Arbeit nach Hause. Da war er wieder halbwegs nüchtern und das Essen fertig. Er hatte eine Stunde MTV gesehen. Er sah das Video einer amerikanischen Band, in dem Cheerleader in kurzen schwarzen Trägerkleidchen lasziv vor ihren Mitschülern tanzten, während der Hausmeister den Fußboden mit einem Wischmopp bearbeitete. Das Stück hatte eine langsame, schrammelige Gitarre und hieß irgendwas mit »teen«. Nach dem Stück schaltete Bork den Fernseher aus und legte »This Note’s for you«, die neue Platte von Neil Young auf, er stellte die Anlage so laut, dass er die Musik gut in der Küche hören konnte. Zwischendurch hatte er immer wieder von dem Rotwein getrunken, einige Zigaretten geraucht, kleine Stücke von der salsiccia gegessen und so die Wirkung des Weins ein bisschen neutralisiert. 


Sanne erzählte von ihrer Arbeit in einem Neuköllner Jugendzentrum speziell für Mädchen und den privaten Problemen ihrer Freundin und Kollegin. Bork erzählte von seinem Tag, er hatte heute zwei Überweisungen zur Bank gebracht und Kontoauszüge geholt. Außerdem war er einkaufen gewesen für die Nudelsauce.



Später klingelte das Telefon, Tim, der kürzlich nach Berlin gezogen war wollte sich am Wochenende mit ihnen zum Essen treffen. Bork überlegte sich, ihn nach einem Job zu fragen. Bork brauchte Geld und vor allem brauchte er etwas zu tun. Tim kannte bereits viele Leute in der Kulturszene in Berlin, da war bestimmt irgendwas zu machen.



II. Akt - Abfahren                            nach oben

1. Szene


Zwei Jahre nach Beccas Umzug in die Schweiz, die in seinem Inneren von der abwesenden Becca geprägt waren, zog er mit Sanne in eine neu ausgebaute Dachgeschosswohnung in Kreuzberg, mittlerweile hatte er im Rahmen eines Praktikums begonnen, in der Unternehmensberatung zu arbeiten, die Tim gegründet hatte, und so konnten sie sich diese Wohnung leisten. Die neue Wohnung war teuer und sehr schön, direkt gegenüber vom Mir, mit unverbaubarer Südwest-Aussicht über den Görlitzer Park, nachts sah man die Lichter des Flughafens Tempelhof und aus Bad und Küche den Fernsehturm am Alexanderplatz. Zu Fuß zehn Minuten von dem Büro entfernt. Außerdem ging er mit neuer Motivation in die Uni.

Er war weiterhin regelmäßig bis spät in der Nacht in der Milchbar. Nach dem zweiten Whiskey, wenn die Müdigkeit langsam aus seinem Körper wich, begann er auf die kleinen Zettel der Kellner-Blöcke Briefe an Becca zu schreiben. Die Überschrift all dieser Zettel lautete ›Briefe an eine Freundin‹, anfangs hatte er sie noch nummeriert, bei VI oder VIII aber den Überblick verloren und dann nur noch schlicht das Datum dazu geschrieben. Er berichtete ihr von Belanglosem und Wichtigem, davon, wie sich die Milchbar, ihre Mitarbeiter und Gäste veränderten, von Musik, die er neu entdeckt hatte und von Musik, die er noch immer hörte, davon, dass er noch immer die Momente schätzte, in denen sein Leben sich anfühlte als wäre es einem Film entstiegen. Meist endeten diese imaginären Liebesbriefe in einem heillosen Durcheinander von Traurigkeit und Alkohol, dann zahlte Bork, ging nach Hause und versuchte auf dem Weg ins fünfte Stockwerk soweit nüchtern zu werden, dass er Sanne weder weckte noch erschreckte. Da er keine Adresse von Becca hatte, erreichte niemals einer jener Briefe ihre vorgestellte Adressatin.


2. Szene                                                 nach oben


Seit dem letzten Winter hatte er gelernt, den Job und das Studium sinnvoll miteinander zu verbinden. Zusammen mit Tim hatte Bork für ein Seminar zur Politikberatung einen Vortrag für die Ratsmitglieder einer kleinen brandenburgischen Stadt zur öffentlichen Versorgungswirtschaft vorbereitet und gehalten. Für dieses und das kommende Semester hatte er seinen zweisemestrigen Projektkurs geplant, der auf seine Abschlussarbeit hinführen sollte. Er hatte Sanne von der Geschichte mit Becca schon vor langem erzählt und hoffte, deutlich gemacht zu haben, wie wichtig ihm die bewusste Entscheidung für sein Leben mit Sanne und gegen Becca gewesen war. Dennoch war ihm klar, dass er Sannes Vertrauen zum wiederholten Mal enttäuscht hatte und eigentlich noch immer täuschte, denn er wusste ebenso, dass er Becca irgendwann wiedersehen wollte. Er hatte hierfür bereits Recherchen angestellt. 


Das Internet gab es noch nicht, bzw. niemand außer ein paar Verrückten kannte es und konnte es sinnvoll benutzen. Bork war schon froh, das er inzwischen gelernt hatte, mit dem sogenannten BTX-System der Deutschen Post umzugehen. Die internationale Telefonauskunft konnte Telefonnummern nur herausgeben, wenn man den Wohnort kannte, den kannte Bork aber nicht, er hatte inzwischen nur herausgefunden, dass Becca offenbar nicht in der Stadt Bern wohnte. Auch die einzige andere Spur, die er noch hatte, war im Sande verlaufen. Sie hatte ihm an ihrem letzten gemeinsamen Abend einen Zettel mit ein paar Namen und Telefonnummern gegeben: Jan, der Freund, mit dem er sie vor drei Jahren kennengelernt hatte und bei dem sie zunächst in Bern wohnen wollte und ein paar weitere enge Freunde von ihr. Irgendwann in den letzten Jahren waren im Kanton Bern die Telefonnummern von sechs auf sieben Ziffern umgestellt worden. Irgendwie gelang es ihm (mit Hilfe eines Geschäftspartners und einer Flasche Grappa) die neue Nummer herauszufinden. Unter dieser Nummer war Jan unbekannt, aber er bekam die Nummer eines Vormieters, der womöglich mehr wüsste. Dieser Pietro oder Alessandro wohnte inzwischen in Mailand, Bork hatte ihm vier oder fünfmal deutsch und englisch auf den Anrufbeantworter gesprochen, ohne irgendwelche Auswirkungen. Bork hatte entschieden, dass er Becca nur wiederfinden konnte, indem er in die Schweiz, in den Kanton Bern fuhr und dort die Telefonbücher nach ihrem Namen durchsuchte.


3. Szene                                      nach oben


Im Winter war Sanne schwanger geworden und Bork fühlte sich mit dieser Frau und dem werdenden Kind verbunden. Er war überzeugt, dass eine Schwangerschaft auch bei den Vätern schwerwiegende hormonelle Veränderungen auslöste. Er fühlte ein Verantwortungsgefühl, einen fast archaischen Beschützertrieb in sich. Dennoch war seine Beziehung zu Sanne noch immer belastet. Ihr Vertrauen in ihn tief beschädigt. Immer wieder gab es Anlässe zu kleinen Auseinandersetzungen. Sanne wollte einen Umzug zumindest in eine tiefer gelegene Wohnung – am liebsten in ein Haus auf dem Land. Bork wollte die sonnige Dachgeschosswohnung und das Stadtleben eigentlich nicht aufgeben, wäre in seiner hormonellen Verfassung aber auch dazu bereit gewesen, um seinen Traum von Glück und Familie zu leben. Kurz vor Ostern musste Sanne mit Blutungen in ein Krankenhaus, der Fötus war nicht zu retten. Hilflos und zu Tatenlosigkeit verurteilt weinte Bork allein zu Hause und versuchte, Sanne in ihrem Krankenhausbett zu trösten. Aber er hatte das Gefühl, dass sie sich schon zu weit von ihm entfernt hatte.


Zwei Monate später war er mit Katrin, die er von der Uni kannte, verabredet. Sie trafen sich im Würgeengel, Borks neuer Stammbar. Montags arbeitete seine Lieblings-Barkeeperin Marja, eine Halbfinnin, die aussah wie Liz Hurley mit Cowboystiefeln. Vor Mitternacht verabschiedete sich Bork von Katrin und von Marja und machte sich auf den Weg nach Hause. Sanne war schon zuhause und lag im Bett. Bork ging zu ihr. Sie weinte und erzählte, dass sie die Nacht zuvor bei einem Freund von ihr und Bork verbracht hatte und sich von Bork trennen wolle. Bork hatte das Gefühl, sein Kopf sei von einer fast körperhaften Schwärze erfüllt – wie der dichte Rauch brennender Autoreifen, empfand zugleich aber eine helle Leere in sich, er fühlte sich befreit, als sei ihm ein schwerer Rucksack von den Schultern geschnitten worden. Er wusste nicht, was er von der Situation halten sollte. Sanne packte ein paar Sachen und sagte, sie fahre zu einer Freundin. Bork folgte ihr die Treppe hinunter – er konnte so unmöglich ins Bett gehen. Er fragte Sanne, ob er sie irgendwohin mitnehmen solle. Er fuhr wieder in den Würgeengel, genau richtig zu Marjas Feierabend. Natürlich musste er erzählen, warum er schon wieder da war – und zum ersten Mal spürte er diese Freiheit, die ihn die nächsten Monate begleiten sollte.


»freedom means nothing left to loose«

und eben auch andersherum:

»nothing left to loose means freedom«.


Er brachte Marja und ihr Fahrrad nach Hause, vor ihrer Tür knutschten sie kurz im Wagen, dann fuhr er zurück nach Kreuzberg und fühlte sich komisch.



Zwei Wochen später erhielt Bork die Einladung zu der Hochzeitsfeier einer Schulfreundin aus Hannover. Er beschloss, das Wochenende vor der Hochzeit in die Schweiz zu fahren, nach Becca zu suchen und dann, auf der Rückfahrt, die Hochzeitsfeier mitzunehmen.


IV. Akt - da sein               nach oben


1. Szene


Nur eine Woche nach der Hochzeit und knappe zwei Wochen nach seinem Wiedersehen mit Becca machte Bork sich wieder auf den Weg nach Südwesten. 


In Dreilinden sammelte er zwei Tramper ein. Das Mädchen im Punk-Outfit verschwand still auf der Rückbank, der Junge in einer weiten Cordhose, mit Schiebermütze und schwarzer dreißiger-Jahre-Kommunistenlederjacke setzte sich zu ihr und begann sofort zu reden. Er war in Ostberlin aufgewachsen und transportierte wegen seiner guten Russischkenntnisse für einen Autohändler Gebrauchtwagen in die Ukraine. Von diesen Fahrten hatte er einige spannende Geschichten zu erzählen, aber Bork hörte ihm kaum zu. Er war in Gedanken bereits wieder bei Becca. Außerdem verlangten die ausgeschlagenen vorderen Radlager des Chevys seine ganze Aufmerksamkeit, um den Wagen mit den tempomatgesteuerten 120 km/h in einer einigermaßen geraden Linie auf der Autobahn zu halten. Die beiden wollten nach Frankreich in den Urlaub und waren froh, dass Bork vorschlug, sie bis zur letzten Raststätte vor dem Abzweig nach Mulhouse mitzunehmen. In einem turn bis zur französischen Grenze zu kommen, hatten sie für heute Nacht nicht erwartet. Borks Wagen und seine Musik gefielen ihnen. Er erzählte kurz von seinem Reiseziel in der Schweiz und dem Grund seiner nächtlichen Pendelei. Den Kenner der russischen Sprache und Literatur erinnerte Borks Geschichte an Bulgakows ›Der Meister und Margarita‹, dessen Inhalt er kurz, aber spannend wiedergab. Bork kannte diese Geschichte von tiefer, widerständiger Liebe nicht, hörte gebannt zu und versenkte sich noch tiefer in seine Gefühle für Becca. Natürlich war ihm klar, dass auch diese Liebe nicht auf Dauer angelegt sein konnte, wie Liebe ja überhaupt immer ein Ereignis der Gegenwart ist. Aber gerade die Ereignishaftigkeit des Liebens macht sie zu einem so energiereichen Erlebnis: jede Entfernung, jeder Widerstand wollen, können und müssen überwunden werden.


Schon sehr früh, noch in einer dieser langen Barnächte in Berlin hatten Becca und Bork sich geeinigt, zwei Themen in ihren sonst alles berührenden Gesprächen zu vermeiden: Drogen und Kinder. Zu Drogen jeder Art fühlte Bork sich hingezogen, fürchtete aber zurecht seine Tendenz sich von ihnen abhängig zu machen; Becca dagegen lebte multitox und glaubte durch die warnenden Vorbilder in ihrer engsten Umgebung vor Sucht gefeit zu sein. Dass Beccas Nähe und Liebe zu Süchtigen, in der Literatur als eigenständige Sucht definiert wird, war Bork nicht klar und wäre ihm auch egal gewesen – im Hinblick auf sich selbst und seinen Alkoholgebrauch hätte er eine solche These weit von sich gewiesen. Kinder waren aus dem Gesprächsthemenkatalog gestrichen, weil Bork sich sein eigenes Älterwerden nur mit Sohn vorstellen konnte und Becca sich bereits mit neunzehn nach ihrer ersten Abtreibung hatte ›unterbinden‹, also sterilisieren lassen und es verantwortungslos fand, Kinder in diese verkommene Welt zu setzen, da es ihnen hier ohnehin an Zukunftsperspektiven fehle. Im Moment war ihm der Gedanke an die Möglichkeit, die räumliche Entfernung zu Becca zu überwinden, wichtiger als alle Unterschiede ihrer Lebensweisen und Zukunftsentwürfe. Er dachte an den Phaidros-Dialog Platons, der dringend für die Liebe und gegen die vernünftige Abwägung von Gründen bei der Wahl der Gefährtin oder des Gefährten plädiert. Während seiner Jugend bei Hannover hatte Bork seine Graffiti mit »PHAIDROS« unterzeichnet. Platon argumentiert hier – ganz untypisch für ihn – für das dionysische, das Rauschhafte der Liebe, des Verliebtseins. Allerdings - hier wieder ganz Platon – gegen die körperliche, triebhafte Liebe und für die innerliche, schicksalhafte Bindung an die Geliebte oder den Geliebten. Nach Borks Einschätzung passte das sehr gut zu Becca und ihm. Hatten sie nicht merkwürdige Zufälle zusammengeführt, getrennt und wieder zusammengeführt? Ähnlich verworren wie Falballas umständliche, aber schließlich erfolgreiche Suche nach Tragicomix. Wie Bork bei Beccas Weggang in die Schweiz vor zwei Jahren gehofft hatte, war er nun der, dessen Liebe sie akzeptierte. Es schien so viele unglaubliche Gleichzeitigkeiten in ihren Leben zu geben, dass Bork an ein übernatürliches Zusammengehören glauben musste. Und gerade in dieser metaphysischen Übereinstimmung sah Bork die Basis seiner Liebe zu ihr und gleichzeitig die Möglichkeit einer Liebe ohne Fesseln, einer Liebe in Freiheit. Ihre Liebe und die nun aufscheinende Gelegenheit diese Liebe auch zu leben, war offenbar mehr als die Folge einiger unglaublicher Zufälle. Vielmehr schien sich Bork hier eine Schickung zu offenbaren, vielleicht gar ein von langer Hand vorbereitetes Schicksal.

Bork wollte an etwas wie göttliche Bestimmung oder den heiligen Geist der Liebe nicht glauben und konzentrierte sich wieder auf den immer mehr schlingernden Wagen. Nachdem er die beiden Tramper an einer Raststätte bei Freiburg abgesetzt hatte, wollte der Malibu nicht wieder starten. Bork tippte auf ein verklemmtes Anlassrelais: ein gezielter Hammerschlag auf den Anlasser löste das Problem.


2. Szene                                                 nach oben


Becca lachte und schüttelte den Kopf als sie den Chevy das erste Mal sah. Bork besuchte mit Becca einige ihrer Freunde in der nahen Stadt, manchmal kamen diese Freunde auch in Beccas Haus. Borks Besuche dehnten sich immer weiter aus, auch über die Wochenenden hinaus. Becca stand dann immer sehr früh auf, kümmerte sich um ihren Garten und erst dann um Frühstück oder ähnliches. Bevor der Tag recht begonnen hatte, saß sie bereits im Zug auf dem Weg zu ihrer Arbeit.


Bork blieb wie selbstverständlich allein in dem kleinen Haus zurück. Im Haus war es angenehm kühl in diesem heißen Sommer. Es roch nach dem Rotwein vom vergangenen Abend, nach ihren französischen Zigaretten und fürchterlich starkem Espresso, der fast kalt war wegen der vielen Milch, um ihn zu verdünnen. Am Grund des Tals plätscherte ein kleiner Bach, der hinter dem Wald in die Saane floss.


Meistens hört man den allerdings nicht. Zum Frühstück hörten sie meist Jazz von alten blue-note-Schallplatten. Am späten Nachmittag dann amerikanischen Alternative-Rock, oder schmutzigen Gangsta-HipHop. Den Tag über saß Bork auf der Terrasse und tat so als würde er Nietzsche für die Uni lesen, in Wirklichkeit sah er aber den Bäumen auf der anderen Seite des kleinen Tals dabei zu, wie sie sich nicht bewegten. Am Mittag saß er einfach nur am Küchentisch und tat nichts, dachte vielleicht einiges. Es genügte ihm, nur rumzusitzen und da zu sein. Im Haus war es kühl. Die Luft, die durch das geöffnete Fenster kam, wärmte angenehm. Wahrscheinlich verging jedesmal eine halbe Stunde, bevor er die Platte umdrehte, nachdem sie zu Ende war, und irgendwann ließ er es dann ganz sein. Sicherlich tat er auch irgendetwas in den acht oder zehn Stunden, die er da tagsüber alleine war. Gelegentlich wanderte er durch Beccas Garten, betrachtete die Beete und fragte sich, ob er hier oder dort ein Unkraut oder ein welkes Blatt entfernen sollte. Letztlich fasste er aber nichts an, weil er nicht wusste, was dem Wachsen, was dem Untergang bestimmt war: »sortin’ out the bad things from the things i really need«.


Helle Sonne, grüne Hügel. Bork saß auf einem unbequemen Stuhl auf Beccas Terrasse. Über den Rand der Sonnenbrille blickte er in den Himmel und fragte sich, warum das Leben nicht immer so sei. Er konzentrierte sich auf die Glut an der Spitze seiner Zigarette. Ein schmaler grauer Faden zog langsam in den Himmel. Eben noch war das Haus völlig leer gewesen. Lange braune Beine, rote Haare und ein phantastisches Grinsen kamen mit Geklimper um die Hausecke hinter ihm auf ihn zu. Sie hielt in der linken Hand zwei Flaschen Weißwein am oberen Rand des Halses und schwenkte sie gefährlich hin und her.


An einem Samstagvormittag wollte Becca mit ihm zu einer Photoausstellung in Fribourg fahren. Bork war zunächst skeptisch. Er befragte sie zu dem Photographen. Obwohl Bork sich stets eher für Reportagephotographen interessiert hatte, sagte ihm der Name Irving Penn etwas, er hatte die phantastischen Photos für das Cover des Miles-Davis-Albums ›Tutu‹ gemacht. Sie fuhren vormittags los und verbrachten fast zwei Stunden in der kleinen, aber großartigen Ausstellung.


Für den Abend hatte Becca einen Tisch in einem noblen Restaurant in einem kleinen Ort im nördlichen Kanton Jura reserviert. Sie wollte sich für den Restaurantbesuch umziehen. Auf der Rückfahrt aus Fribourg erzählte Becca plötzlich und ohne erkennbaren Anlass, dass ihre Mutter ihr beigebracht hätte, die Unterhose immer über den Strumpfhaltern zu tragen, damit sie sie bei Bedarf schnell ausziehen könne. Zurück in ihrem kleinen Bahnwärterhäuschen entschied Becca sich für ein schwarzes Kostüm mit einer einfarbig dunkelgrünen Seidenbluse. Bork zog seinen Anzug an, den er für einen geschäftlichen Termin in Hannover, den er in die Rückfahrt einbauen wollte, dabei hatte. Die Fahrt ins Jura führte über einen kleinen Staudamm und an einem der vielen schweizer Atomkraftwerke vorbei. 


Am Beginn der Staumauer war ein kleiner Parkplatz, Becca wollte dort anhalten und ein paar Schritte gehen. Man konnte von hier das ganze Areal der Atomanlage überblicken. Zurück im Wagen küsste Becca ihn. Borks Hand glitt langsam ihre Schenkel hinauf. Seine Hand glitt leicht über den Stoff ihrer Unterhose zu ihrem anderen Schenkel. Becca löste sich aus dem langen Kuss, öffnete zwei weitere Knöpfe ihrer Bluse zog sich lächelnd die Unterhose aus. Bork rutschte auf die rechte Seite der Sitzbank, während sie sich, ihm zugewandt, auf seinen Schoß setzte. Bork öffnete seine Hose und sein Schwanz drang leicht tief in sie ein. Borks eine Hand auf ihrem Oberschenkel, die andere an ihrem Hintern, steuerten sie auf ihren ersten und einzigen gleichzeitigen Orgasmus zu.

 

Sie zogen sich wieder an und fuhren weiter zu dem Restaurant. Das Essen dort war hervorragend. Zum Espresso wurde ein lange gelagerter Obstbrand aus Pflaumen gereicht. Die beiden witzelten darüber, mehr von diesem vieux prune zu trinken und im angeschlossenen Hotel zu übernachten.



V. Akt – Verlieren                      nach oben

1. Szene – Berlin


Irgendwie hatte Bork es geschafft, Becca zu überreden, ihn in Berlin zu besuchen. Das war nicht einfach, sie mochte die Stadt nicht mehr – mochte Städte überhaupt nicht mehr. Irgendwann teilte sie ihm in einem Fax, das sie ihm ins Büro schickte, eine Flugnummer und Ankunftsuhrzeit mit. Er setzte sich rechtzeitig in den Malibu und fuhr zum Flughafen Tempelhof, den hatte er vorher noch nie von innen gesehen. Nach der Zollabfertigung stürzte sie auf ihn zu und sie umarmten sich. Draußen gingen sie langsam und schweigend zum Wagen und fuhren ohne viele Worte durch Kreuzberg. Bork war aufgeregt und freute sich darauf, ihr sein Zuhause und seine Stadt, die früher auch mal ihre gewesen war, zu zeigen. Er parkte den Wagen vor seiner Wohnung und sie gingen ins Mir. Gegen Mittag musste er für ein paar Stunden ins Büro. Abends gingen sie in den Würgeengel, der für Bork die Milchbar ersetzt hatte, und in die Becca auf keinen Fall wollte. Sie tranken Whisky, schottischen inzwischen, eine Marke, nach der sie eine ihrer Katzen benannt hatte. Er zeigte ihr die Veränderungen an der Brommybrücke. Dort war die Mauer erhöht worden und inzwischen fast kein Platz mehr, um auf deren Wasserseite zu sitzen oder zu liegen. Sie standen dort lange umarmt und Becca weinte leise.


Am Samstag schien die Sonne, sie machten einen langen Spaziergang durch Kreuzberg und Bork fiel auf, dass viele Leute ihnen erstaunt hinterher sahen, wenn sie vorbeigingen – sie fielen auf hier in Kreuzberg, das machte ihn stolz und froh.


Abends hatte Becca Rückenschmerzen, sie lagen auf dem Fußboden und sahen sich einen Videofilm an. Nach dem Film machte Bork Musik an und sie tanzten langsam zu Tom Waits umeinander und weinten gemeinsam wegen der melancholischen Texte – »i’ll take a rusty nail and scratch your initials on my arm«. Später lagen sie im Bett und hatten eine der wenigen lustvollen Nächte miteinander. Bork war ein bisschen, als sei es die Abschiedsnacht.


Am nächsten Tag entschied Becca, sie wolle schon am Montag nach Hause fliegen. Ihre Rückenschmerzen waren schlimmer geworden. Sie erzählte viel von ihren früheren Freunden und Bork fasste das für sich so zusammen, dass sie immer abwechselnd die stärkere und schwächere Position innegehabt hatte, verletzt wurde und selbst verletzte. Montagvormittag brachte Bork sie wieder zu dem kleinen, romantischen Flughafen, danach fuhr er wie selbstverständlich zur Arbeit.


Das große euphorische Glück war vorbei.


Abends war er im Würgeengel und erst gegen zwölf zu Hause. Irgendwann nachts klingelte das Telefon. Er ging sofort ran. Becca war zu Hause, fragte, wie es ihm ginge und begann zu weinen.


Sie war verzweifelt, weil sie Sven in der Woche vor ihrem Berlinbesuch wiedergesehen hatte und er noch immer sehr an ihr hing – sie wollte ihm nicht wehtun, ihn nicht zurückweisen. Wollte aber auch Bork nicht aufgeben, jetzt da sie ihn endlich nach drei Jahren wiedergefunden hatte. In dieser Nacht hatte sie eine verzweifelte Lösung für ihr Dilemma gefunden: sie würde sterben und sich so nicht für einen von ihnen entscheiden müssen. Bork erinnerte sich an die schwarze Beretta, die immer neben ihrem Bett lag. Es gelang ihm, ihr klarzumachen, dass sie so beide verlassen würde, was nur eine Vereinfachung der Entscheidung sei. Er würde auf sie verzichten können, aber nicht auf die Möglichkeit, sie irgendwann wiederzusehen.


Bork stand am nächsten Morgen sehr früh auf und begann einen langen Brief an Becca, in dem er all dies niederschrieb, von der Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft in einer besseren Zeit schrieb und insgesamt sehr romantisch das alte Thema ›somewhere, somewhen, somehow‹ variierte. Er las den Brief einige Monate später Marja vor, die offenbar sehr von der Tiefe seiner Gefühle beeindruckt, aber nicht eifersüchtig war.

2. Szene – la valse                        nach oben


Bork hatte den ganzen September Urlaub genommen. Er wollte mit Becca und dem Malibu nach Portugal fahren – vor allem, weil das schön weit war und sie so lange gemeinsam Autofahren konnten.

Am letzten Samstag im August fuhr er auf die Autobahn Richtung Südwesten. Becca hatte schon angekündigt, dass sie unmöglich werde mitkommen können, wegen Sven, aber auch, weil sie arbeiten müsse und mit ihrem Vater eine Hausboottour in Frankreich machen wolle. Bork war das nicht wichtig, er wollte sie zumindest noch dieses eine Mal besuchen.


Er war erst am Samstagmittag losgefahren und erst spät am Abend bei dem kleinen Bahnwärterhäuschen angekommen. Becca hatte Besuch von zwei Freundinnen und sie saßen lange zusammen in ihrer Küche, tranken, rauchten, redeten, hörten Musik. Später saßen sie zu viert noch auf der kleinen Terrasse. Becca und ihre Freundinnen kifften ein paar Joints und erzählten sich Drogengeschichten, Becca erzählte von ihren verschiedenen drogenbedingten Besuchen der Notaufnahme des Universitätsspitals der Stadt.


Ihre Freunde gingen, Becca und Bork saßen noch eine Weile auf der Terrasse und redeten über Musik und Bücher – und Borks Reise. Schließlich sagte Becca, dass sie nun etwas ausprobieren wolle, was sie noch nie getan hätte: Bilsenkraut rauchen. Bork fiel ein, dass schon Shakespeare von der toxischen Wirkung des Krautes berichtet, mit dem Hamlets Vater vergiftet wird, und, dass es im Mittelalter in Deutschland als Zusatzstoff beim Bierbrauen eingesetzt wurde, um die berauschende Wirkung des Bieres zu verstärken. Becca hatte zwei Pflanzen auf ihrer Terasse stehen. Sie brach die Samenkapseln auf und streute einige der schwarzen Kügelchen auf den Tabak eines halbfertigen Joints. Sie drehte ihn fertig, entzündete ihn und nahm einen tiefen Zug. Auch Bork wollte davon probieren und zog ein paar Mal an dem Bilsenkraut-Joint. Als die Schallplatte zuende war und sich der Plattenspieler mit einem lauten Knacksen ausschaltete, sagte Becca, sie wolle noch einen Spaziergang machen. Bork ging mit ihr. Sie gingen um das Haus herum und seitlich davon in das kleine Wäldchen. Bork war traurig und ihm war unheimlich zumute. Nach kurzer Zeit waren sie auf einem geschotterten Weg, der an dem Bach entlang zur Saane führte. Becca erzählte von den Bäumen, die sie so sehr mochte und Bork hörte schweigend zu. Irgendwann blieb sie stehen, drehte sich wieder dem Haus zu und sagte, sie gehe nun zurück. Bork ging zu ihr und umarmte sie. Ihm war schwindelig und er glitt langsam in ihren Armen auf den Boden. Dort blieb er still liegen, erstarrt vor Angst, sie zu verlieren und davor, von den Bäumen für seinen Frevel an ihrer Freundin und Herrin bestraft zu werden. Er sah die Bäume ihre langen Arme nach ihm ausstrecken und flüsterte Becca, die inzwischen neben ihm auf dem Boden lag, zu, »beschütze mich vor den Bäumen.« Wunderbarerweise verstand sie sofort, was er meinte, nahm ihn in den Arm und tröstete ihn. Die Bäume zogen sich von ihrer schon sicher geglaubten Beute zurück und Becca und Bork konnten zurück zum Haus gehen. Am nächsten Vormittag wachte Bork allein in Beccas Bett auf. Er ging kurz unter die Dusche und machte ein kleines Frühstück für sich und Becca, die draußen war und sich um ihren Garten kümmerte. 


Beim Frühstück planten sie für diesen letzten gemeinsamen Tag einen Ausflug in die Berge des Jura. Bork wollte noch einen glücklichen Tag mit ihr verbringen. Als es Mittag wurde, fuhren sie los. Becca saß am Steuer und Bork betrank sich langsam, aber planmäßig auf dem Beifahrersitz. Doch heute ging es ihm nicht darum, seine oft gedämpften Emotionen zu verstärken, sondern im Gegenteil sollte der Alkohol ihn und seine Trauer betäuben. Er trank erst den Rest des Whiskeys von der Fahrt, aber auf der Beifahrerseite des Malibu neben dieser unglaublichen Becca zu sitzen und seine, ihre gemeinsame Musik zu hören, wurde ihm immer unerträglicher. Er sagte zu Becca, dass er mehr trinken wolle und sie hielt am nächsten kleinen Ausflugscafé und kaufte zwei Flaschen Weißwein. 

Die Aussicht auf weiteren Alkohol erinnerte Bork an das so lange herbeigesehnte Wiederfinden seiner großen Liebe. Wie im Schnelldurchlauf zuckten die Szenen seiner abenteuerlichen ersten Schweizfahrt durch seine Erinnerung. Die lange nächtliche Autobahnfahrt, die Nacht in und vor der Telefonzelle im Universitätsviertel, Sarahs Reihenhaus und endlich Becca, die auf ihn zuläuft und ihn umarmt. Das kleine Bahnwärterhaus und die langen Nachmittage, die er dort mit Kaffee und Zigaretten allein verbrachte.


III. Akt – Suchen & Finden                    nach oben


1. Szene


Null Uhr zwanzig. Er hatte seine Armbanduhr an der Sonnenblende festgetackert, das funktionierte gut, solange die Sonne nicht blendete. Er musste sich jetzt beeilen, wenn er noch vor Ende der Freitagnacht ankommen wollte. Direkt hinter der Grenze, hatte er die Flasche zwischen den Sitzen hervorgezogen; mit Whiskey und ein bisschen Musik war die Autobahn gleich viel freundlicher. Immer noch Industriegebiete. Winzige Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Leuchtreklamen über Chemie- und Pharmafabriken, Tom Waits sang ›ol’ '55‹. Dieses Gefühl von Freiheit. Bork hatte sich für Feiheit durch Reisen entschieden. Niemand wartete auf ihn. Bork hörte Charles Bronson sagen: »Irgendjemand wartet immer.« Vielleicht wartete sie auf ihn. Bork wollte sich aber nicht zu viel Hoffnung machen, um eine mögliche Enttäuschung von vornherein klein zu halten.


Grüne und gelbe Lichter auf der Straße. Seit hundert Kilometern reihte sich eine Baustelle an die nächste. Vor einer halben Stunde hatte ihn ein Mercedes mit deutschen Nummernschildern zügig überholt und eine halbe Minute später eine große Sportlimousine mit blauen und roten Lichtern auf dem Dach. Die Autobahnpolizei fuhr hier Alfa 165.



Die ersten Lichter tauchten an einem entfernten Hügel auf, in einer weiten Rechtslinkskombination schwang sich die Autobahn in die Lichter der Stadt. Bork suchte sich eine Stelle mit hübschem Ausblick und ließ den Wagen auf dem Standstreifen ausrollen. Das war also ihre Stadt und er war nun wirklich hier. Er angelte den Stadtplan, den er an der letzten Tankstelle gekauft hatte, aus dem Handschuhfach. Unentschieden starrte er auf die roten, gelben und blauen Linien. Wo sollte man anfangen? Wie findet man einen Menschen, von dem man nicht weiß, was er macht, wie er lebt — und dessen Stadt man nicht kennt. Bork hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie ihre Freunde aussehen würden, wie eine Kneipe sein musste, damit sie ihr Wohnzimmer werden konnte, aber er hatte keine Idee, wo man hier solche Leute, solche Kneipen finden konnte. Und wer weiß, vielleicht war inzwischen alles ganz anders, vielleicht war sie inzwischen ganz anders. Kurz dachte er daran, einfach die Stadt zu ignorieren und ans Meer zu fahren. Er würde sich treiben lassen können und müsste keine Entscheidungen treffen, könnte keine Fehler machen … Nein, er wollte sie wiedersehen. Und sei es nur, um es dann nie mehr zu müssen.


2. Szene – Zellen, Posen und Visionen                    nach oben


Bork entschied sich für die Universität, das Viertel sah auf dem Plan aus wie gemacht für ein bisschen Subkultur. Und sind nicht überall die Kneipenviertel in der Nähe der Universitäten? Eigentlich nicht, wenn er es recht bedachte, jedenfalls kannte er keine größere Stadt, wo das so war, aber irgendwo musste er anfangen. Die Gebäude der Universität belegten einen großen Hügel, fast alles Beton aus den sechziger und siebziger Jahren, riesige Parkplätze mit schwarz-gelb gestreiften Schranken und leeren Portiershäuschen, selten niedrige Sträucher in schmutzigen Betonkübeln. Das ganze Viertel war leer und öde, der Rest der Stadt, jedenfalls soweit er bisher gesehen hatte, ebenfalls. Bork stellte den Wagen vor einer Telefonzelle ab. Er starrte in das Neonlicht, es war sehr still. Er steckte die Zigaretten ein und überlegte, ob er den Whiskey mitnehmen sollte, er nahm einen schnellen Schluck, stieg aus und ging zu der Telefonzelle, die Absätze seiner Stiefel klackten.


Dummerweise waren die Telefonbücher hier genauso geordnet wie bei der Auskunft. Die fünf oder sechs Bände enthielten die Nummern des gesamten Kantons, sortiert nach Ortschaften. Dass es in der Stadt selbst keinen Anschluss unter ihrem Namen gab, hatte er schon vor ein paar Monaten telefonisch herausgefunden. 


Jetzt hatte er hier sämtliche Telefonbücher der Gegend und irgendwo würde er eine Spur finden. Er nahm sich den ersten Band und ging Ortschaft für Ortschaft durch, es erstaunte ihn, dass es niemanden mit ihrem Nachnamen gab, er hatte ihn immer für sehr landestypisch gehalten. Das erste Buch war erledigt. Es fehlten nur noch drei oder vier. Vielleicht sollte er einfach nach einer netten Kneipe suchen und warten, was der Abend noch mit ihm vorhatte. Bork setzte sich in den Wagen, nahm einen Schluck aus der Whiskeyflasche und klappte die Sonnenblende herunter. Zwei Uhr vierzig. Er stieg wieder aus. In der engen Zelle zündete er sich eine Zigarette an und nahm sich das nächste Telefonbuch vor. Die Namen flossen durch seinen Kopf. Immer wieder die gleichen Namen und nicht ein Mal der, den er suchte. Das dritte Buch.


Auf der anderen Straßenseite kam ein Mann mit seinem Hund vorbei. Bork stellte sich vor, was für ein Bild er hier abgab und es gefiel ihm: der alte schmutzige Ford, ein langer dünner Mann rauchend in einer Telefonzelle, wirre blonde Haare, Jeans, eine alte Lederjacke, die er trug wie ein pensionierter Soldat seine Orden aus einem längst vergessenen Krieg, Cowboystiefel, die flache blaue Zigarettenschachtel; im Wagen brannte das Licht, auf dem Beifahrersitz die Whiskeyflasche, drum herum ein paar Cassetten.


Er starrte dem Mann hinterher. Er probierte die Pose des lonesome rider. Für diesen Moment war er jener einsame Cowboy, weit, weit weg von zuhause. Über Mick Jagger hatte er gelesen, dass dessen wahres Selbst hinter den einstudierten Posen immer – und: nur dann – für Augenblicke sichtbar werde, wenn er für sich allein seine Bühnenposen vor dem Spiegel ausprobiere. Bork kam sich für einen Augenblick ertappt vor. Für wen probte er hier die Pose des lonesome rider? Er probte nicht, er war es – jedenfalls jetzt und hier. Er fühlte sich, als ginge er am letzten Spiegel vor der Bühne vorbei; er wusste nicht recht, ob er probte, posierte oder nur wartete, dass seine Suche zu Ende ging – er posierte und fühlte sich in der Pose gefangen, für ihn war das kein Spiel. Der Cowboy, den er immer darstellen wollte, war er selbst geworden. Und diese nächtliche Fahrt Richtung Becca hatte sein Cowboybild weiter stabilisiert. Bork fühlte sich überfordert und wollte mehr Whiskey, er ging zurück zum Wagen, setzte sich auf den Fahrersitz, für einen kleinen Moment schloss er die Augen. Becca kam die Straße herauf geschlendert. Sie war allein. Kurz vor seinem Wagen blieb sie stehen, zwei Sekunden, dann ging sie weiter und blieb nach ein paar Metern wieder stehen. »Ruf mich mal an!« Sie ging noch ein Stück, drehte sich dann um: »Vielleicht sehen wir uns mal.«


Drei Uhr dreißig. Bork drehte die Fäuste über seinen Augen, der Nebel wich langsam. Er nahm noch einen Schluck Whiskey und eine neue Zigarette, ging in seinem Cowboystiefel-Gang zurück zur Zelle und beobachtete dabei die untere Hälfte seines Spiegelbildes in der Scheibe der Telefonzelle. »Er geht ganz dicht an den Schaufenstern lang / und überprüft darin seinen Cowboygang.« Das Telefonbuch lag noch aufgeschlagen da. Die Dörfer waren so klein, dass sie manchmal nicht einmal eine Spalte füllten. Da! Ihr Name. Aber der falsche Vorname: Sarah. Bork versuchte, sich zu konzentrieren: Becca hatte einen Bruder, von einer Schwester wusste er nichts. Ihre Mutter war noch einmal verheiratet und noch einmal geschieden — sie konnte also genauso gut den selben wie einen anderen Namen haben. Andererseits: alles sprach dafür, dass eine Sarah ihre Tochter Rebecca nennen würde oder Lea oder Dina. Bork überlegte kurz, aber es war schon ein bisschen zu spät, um anzurufen. Er schrieb sich die Nummer und die Adresse auf. Er setzte sich auf die Motorhaube und rauchte eine Zigarette. Vielleicht hatte er sie wirklich gefunden, direkt in der ersten Nacht. Er ging zurück in die Telefonzelle, aber er sagte sich, dass er erstmal diese Sarah anrufen musste, dann konnte er immer noch weiter die Telefonbücher durchsuchen. 


3. Szene – Sensen                                        nach oben


Er lehnte sich gegen seinen Wagen. Der folkloristisch klingende Ort, war im Register seiner Straßenkarte verzeichnet und lag nur ein paar Kilometer südlich der Hauptstadt.


Die letzten Vororte lagen hinter ihm. Die breite Bundesstraße führte an einem Fluss entlang. Bork wusste nicht genau, warum er hierher fuhr, aber irgendwo musste er schlafen und da konnte er genauso gut in die richtige Richtung fahren. Vielleicht war diese Sarah wirklich ihre Mutter — oder Tante oder Großmutter oder was auch immer, der Name war schließlich selten genug. Außerdem war da auch eine Post, wenn nötig konnte er hier morgen die restlichen Telefonbücher durchsuchen. Kurz hinter dem Dorf gab es einen Abzweig nach links in die Hügel. Er bog ab. Ein Sommersturm hatte grünes Laub, Zweige und ein paar dickere Äste auf die Straße geworfen. Der Weg führte in engen Kurven in die Höhe. An manchen Stellen war die ganze Straße grün von den frischen Blättern. Nach wenigen Kilometern lichtete sich der Wald und Bork befand sich auf einem kleinen Plateau mit hügeligen Feldern und Wiesen. Seit der Kreuzung unten an der Bundesstraße war er immer langsamer geworden. Das Fenster herunter gekurbelt, die Musik leise. Hier oben roch es nach frisch gemähtem Gras, weiter unten nach Moos und nassem Laub aus dem letzten Jahr. Auf der linken Seite sah er einen Feldweg. Der Weg hörte nach hundert Metern auf einer Wiese auf, das war sein Schlafplatz. Bork wendete den Wagen und stellte sich eng an die niedrige Baumreihe, die den Feldweg nach Osten abschirmte.


Als Bork aufwachte, war der Himmel hinter den Bäumen schon ein bisschen rosa, leichter Nebel hing über den Feldern. Er überlegte, ob er sich doch auf die Rückbank legen sollte, versenkte sich aber nur tiefer in seinen Schlafsack. Er wachte noch ein paar mal auf, jedesmal war es etwas heller und etwas kälter. Irgendwann waren die Nebel weg, er musste pissen. Und drei Männer starrten ihn an. Bork war sich sicher, nicht zu träumen: da standen drei Männer, der jüngste vielleicht Mitte Sechzig. Sie trugen lange schwarze Mäntel, große schwarze Hüte und hatten Sensen in den Händen. Sie standen nebeneinander, jeder die Sense mit der linken Hand auf den Boden stützend, die Schneiden auf Kopfhöhe von ihnen weggedreht. Bork versuchte nach rechts zu schauen, sein Nacken schmerzte. Blauer Himmel, grüne Wiesen, im Hintergrund der Wald. Die Männer standen noch immer unbeweglich ein paar Meter vor seinem Wagen und starrten ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Bork befreite sich aus dem Schlafsack, fand seine Schuhe nicht. Er startete den Motor und zum ersten Mal zeigten die Männer eine Reaktion: sie kniffen die Augen noch etwas mehr zusammen. Bork trat mit nackten Füßen auf die Bremse und zog den Schalthebel auf ›D‹, der Wagen ruckte ein winziges Stück nach vorn. Ganz vorsichtig nahm Bork den Fuß vom Bremspedal, der Wagen rollte sachte vor und die drei Männer schoben sich in einer einzigen Bewegung langsam zur Seite. Er rollte an ihnen vorbei.


Auf der Straße drehte Bork die Seitenscheibe herunter und machte das Radio an. Nachrichten auf Hochdeutsch. Ein Sturm über Mitteleuropa. Die hiesige Nationalmannschaft hatte sich vorzeitig für das Achtelfinale der Fußball-WM qualifiziert. Regionale Nachrichten in einem unverständlichen Dialekt. Bork war wieder in dem Wald, die Straße führte bergab zu dem kleinen Fluss. Er musste noch immer pissen. In einer Kurve gab es links einen Streifen unbefestigten Weges. Er wendete und stellte den Wagen dort ab. Einer seiner Schuhe hatte sich unter dem Beifahrersitz eingeklemmt. Er öffnete die Tür und schwang sich zur Seite. Er zog sich Socken und Stiefel an, stand auf und machte seine Jeans zu. Ein paar Meter unterhalb der Straße gurgelte ein Bach. Bork ging ein paar Meter zum nächsten Baum. Er knöpfte die Hose wieder zu und kletterte springend und rutschend zu dem Bach herunter, das Wasser war eiskalt. Langsam wurde er wach. Er war hier, um Becca zu finden und er hatte gestern vielleicht ihre Mutter im Telefonbuch gefunden. Ihm war schlecht.



Der Hang zurück zur Straße war steiler und höher als ihm aufgefallen war. Er musste klettern, um wieder zu seinem Wagen zu kommen, aber die Anstrengung machte ihn wach. Bork setzte sich auf den Fahrersitz, lehnte sich zurück, die Beine zwischen geöffnete Tür und A-Säule geklemmt. Im Radio redeten sie immer noch Kauderwelsch — was es, wie er später lernte, gar nicht war. Er versuchte den Sinn der Worte zu erraten und suchte seine Zigaretten. Ihm wurde wieder etwas schummerig.

4. Szene – Hamburger, Bäcker und wieder Zellen           nach oben


Im Spiegel sah er hinter sich einen älteren Herrn den Hügel hinauf schnaufen. Er hatte in jeder Hand eine Plastiktüte eines Lebensmitteldiscounters. Auf der Höhe von Borks Wagen ging der Mann noch langsamer, sah Bork an und sagte in feinem Hochdeutsch »Guten Morgen.« Bork erwiderte den Gruß und fragte sich, ob er einen norddeutschen Akzent gehört hatte. Der Mann kam zu seinem Wagen und fragte, ob alles in Ordnung sei oder er vielleicht helfen könne. Bork sagte, alles sei in bester Ordnung und er suche eine Freundin aus Berlin, die hier irgendwo wohne. Der Mann begann seine Lebensgeschichte zu erzählen: er wohne seit 25 Jahren hier, nachdem er in den 60ern in Hamburg eine Schweizerin kennengelernt hatte und ihr dann in die Schweiz gefolgt war. Der Mann verabschiedete sich und wünschte Bork viel Glück bei der Suche. Bork starrte hinter ihm her, wie er langsam die Straße weiter bergauf ging.


Als er hinter der nächsten Kurve verschwunden war, setzte Bork sich wieder richtig ins Auto, schlug die Tür zu und startete den Motor. Er wendete und fuhr den Hügel weiter hinab, bis er in das kleine Dorf kam. An der Bundesstraße bog er Richtung Hauptstadt ab. Nach wenigen hundert Metern stand im Scheitel einer Linkskurve eine Telefonzelle, daneben eine Bäckerei. Bork erinnerte sich, dass er im nächsten Dorf eine Post gesehen hatte, dort wäre die Suche in den Telefonbüchern sicherlich angenehmer als in einer Telefonzelle. Also fuhr er weiter bis zu dieser Post. Dort wendete er, ihm war eingefallen, dass er erst die Nummer, die er gestern gefunden hatte, anrufen wollte, bevor er nach weiteren suchte. Er kam wieder an der Telefonzelle und dem Bäcker vorbei, fuhr aber weiter, erst nach ein paar hundert Metern fand er einen Parkplatz, stellte den Wagen ab und ging zurück zu Telefonzelle und Bäckerei. Es war Samstagvormittag und das ganze Dorf schien Frühstücksbrötchen kaufen zu wollen, er stellte sich in die Reihe der Wartenden, kam in den Laden und kaufte ein Croissant, das hier Gipfeli hieß. Er bezahlte, ging vor die Tür, aß sein Croissant und wanderte zurück zum Wagen, um eine Zigarette zu holen. Er zündete sie an und ging wieder Richtung Telefonzelle, dort konnte er die Zigarettenkippe nicht loswerden, ohne sie auf den Boden zu werfen, was ihm an diesem sauberen Samstagvormittag vor einem Schweizerbäckerladen unpassend erschien. Also ging Bork zurück zu seinem Wagen, drückte die Zigarette im Ascher aus und ging wieder zur Telefonzelle. Dort schlug er automatisch die Telefonbücher auf und suchte in seinen Taschen nach der Zigarettenschachtel. Er fischte den Zettel mit der Nummer und der Adresse von gestern Nacht aus der Hosentasche. Er wollte die Nummer wählen, musste aber natürlich vorher Geld in das Telefon stecken: 1 Franken, 2 Franken oder 50 Rappen. Er hatte nur ein 2-Franken-Stück. Für ein vielleicht sehr kurzes Telefonat war ihm das zu viel. Er ging wieder in die Bäckerei, bestellte noch ein Gipfeli und zahlte mit dem 2-Franken-Stück. Er bekam 80 Rappen zurück. Wieder in der Telefonzelle steckte er das 50-Rappen-Stück in das Telefon und wählte die Nummer von dem zerknüllten Zettel

» Spälti?«

»Ja, Guten Morgen, mein Name ist Bork, ich komme aus Berlin und habe eine vielleicht etwas merkwürdige Frage.«

» Ja?«

 »Sind Sie zufällig die Mutter von Rebecca Spälti?«

Überraschtes schweigen, dann:

»Ja.«


Jetzt schwieg Bork.


Er erklärte der Frau kurz, wer er war und was er wollte, Sarah meinte, sie könne Beccas Nummer oder Adresse nicht herausgeben, ohne sie vorher zu fragen. Ob sie ihn zurückrufen könne.


 »Nein«, er rufe aus einer Telefonzelle an.

Wo er denn sei.

»In Niederschärli, neben dem Bäcker.«

Sie lachte und sagte, er solle zu ihr kommen, sie werde bis dahin mit Becca sprechen und alles klären.


Sie beschrieb ihm den Weg, Bork verabschiedete sich, legte den Hörer auf und ging zu seinem Auto. Er fühlte sich, als habe er alles richtig gemacht. In wenigen Minuten hatte er das Reihenhaus gefunden. Die Haustür stand offen. Er rief Hallo und ging in den dunklen kühlen Flur. Am Ende des Flurs stand eine große schmale Frau, sie kam ein paar Schritte auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte »Hallo ich bin Sarah.«Sie deutete nach rechts in eine Sofaecke und sagte, »da ist übrigens Becca.« Sarah meinte das Telefon. Er ging hin, nahm den Hörer in die Hand und sagte »Hallo?« Bork hörte Beccas Stimme. Er war so aufgeregt, dass er kaum verstand, was sie sagte. Sarah war inzwischen auf die Terrasse gegangen und fragte ihn, ob er etwas essen oder trinken wolle, Bork verneinte und sagte, er wolle jetzt zuerst Becca besuchen.


Sarah bestand darauf, dass Bork wenigstens kurz erzählte, wie er sie gefunden hatte, Bork berichtete von seiner nächtlichen Suche nach ihrem Namen in den Telefonbüchern in Bern. Sie zeigte ihm auf seiner Straßenkarte den Weg in eine kleine Stadt, wo er sich mit Becca am Bahnhof treffen sollte.


Er fuhr durch eine Landschaft mit Hügeln, Wiesen und einem großen Fluss, der Sense hieß. Der Bahnhof in dem verabredeten Ort war leicht zu finden. Becca war noch nicht da. Er parkte, setzte sich auf die Motorhaube seines Taunus’ und wartete. Nach ein paar Minuten kam ein japanischer oder französischer Kleinwagen auf den Parkplatz gefahren. Der Wagen hielt, Becca stieg aus und rannte auf ihn zu. Sie trug enge kurze Hosen, ein schwarzes Feinripp-Tanktop und flache Segeltuch-Turnschuhe ohne Socken. Ihre Arme und Beine waren braungebrannt. Bork war wie immer etwas ungelenk, er machte ein paar Schritte auf sie zu und sie umarmten sich, er sagte, wie froh er sei, sie endlich gefunden zu haben. Sie sagte, sie wolle die ganze Geschichte später mit allen Details hören, aber jetzt wolle sie nach Hause, weil sie am Mittag eine Hochzeit photographieren müsse. Sie stieg wieder in den Kleinwagen und sagte ihm, er solle ihr folgen. Sie fuhren durch kleine Straßen und bogen am Ortsausgang nach rechts auf eine schmale, helle Schotterpiste ab. In einem Wald kam ihnen ein Geländewagen entgegen, Becca grüßte den älteren Mann am Steuer winkend.


Sie hielten an einer kleinen  Bahnstation. »Rüplisried-Mauss«. Becca parkte ihr Auto, zog eine Reisetasche von der Rückbank und ging die Schienen entlang zu der Bahnstation. Auf der anderen Seite der Schienen hinter der Station stand ein kleines zweigeschossiges Haus. Becca überquerte die Bahnlinie und hielt darauf zu.


Sie schloß die Tür auf, machte eine einladende Geste und fragte Bork, ob er etwas trinken wolle. Ihm war nach Whiskey, aber er sagte Kaffee. Sie bugsierte ihn hinter das Haus auf eine kleine Terrasse, ging ins Haus und kam mit zwei hohen schlanken bunten Tassen zurück. Es roch nach starkem italienischem Caffè. In dem Caffè war viel Milch und Zucker. Becca stand vor ihm, er umarmte ihre nackten Beine und fragte sie nach den Photos bei dieser Hochzeit. Sie mache manchmal nebenbei ein paar Photos, sagte sie. Sie erzählte kurz, was in der vergangenen Woche geschehen war.

Becca hatte am Dienstagabend, versucht, ihn anzurufen. Sie hatte sich nachmittags eine wüste Prügelei mit Sven geliefert, in deren Verlauf er versucht hatte, ihre Pistole zu finden, um sich von ihr damit erschießen zu lassen. Sie hatte die Beretta im Schuppen versteckt. Schließlich hatte das Auftauchen ihres Nachbarn die Situation gerettet und Sven war zu Freunden nach Bern gefahren, wo er noch immer war, auch sie hatte die letzten Nächte bei Freunden verbracht.


Sie fuhren in Borks Wagen zu der Hochzeit im nächsten Dorf. Bork legte die Country-Cassette ein, die er für die Fahrt aufgenommen hatte. Er war froh und stolz, dass Becca die Musik gefiel. Er saß eine halbe Stunde in der Sonne, während Becca ihre Photos machte. Dann fuhren sie wieder zurück zu dem kleinen Haus. Sie öffnete eine Flasche Weißwein. Dann waren sie zusammen im Bett. Aber eher weil das selbstverständlich zum Wiedersehen dazugehörte, als aus purer Lust. Bork war noch immer erstaunt, wie wenig Sex zu seiner Beziehung mit Becca gehörte. Und das lag sicher nicht daran, dass er sie nicht sexy fand. Im Gegenteil: ihr schlanker, muskulöser Körper machte ihn total an. Vielleicht war es einfach ihre intellektuelle und emotionale Bindung, die ihm wichtiger war. Für einen Mann klang das nicht sehr plausibel. Bork war jedenfalls glücklich, er fühlte sich so frei wie noch nie zuvor in seinem Leben. Alles war richtig. Sie verbrachten den restlichen Tag auf der kleinen Terrasse und aßen abends von Becca zubereitete Nudeln mit einer vegetarischen und käselosen Sauce.


Für Sonntag, hatte Becca einen Ausflug nach Montreux zum Frühstücken geplant. Sie fuhren vormittags auf Landstraßen in Borks Taunus Richtung Süden und erreichten Montreux gegen Mittag. Becca führte sie in ein kleines Café am Seeufer. Es gab eine reichhaltige Frühstücksauswahl und einen beeindruckenden Blick über die Côte d’Azur der Schweiz. Später spazierten sie am Seeufer entlang. Bork blieb lange fasziniert bei der knapp lebensgroßen Bronzestatue von Freddy Mercury stehen und fragte sich, was für ein Land das hier sei: saubere kleine Touristenstädtchen mit Denkmälern für schwule Rockstars. Aber immerhin war es die Stadt von ›smoke on the water‹. Auf der Rückfahrt hörten sie im Wagen eine Johnny-Cash-Cassette und Becca schüttelte sich vor Lachen über den Text von ›A Boy Named Sue‹. Bork fuhr zügig über die dunkel werdende Landstraße.


Am Donnerstagmittag fuhr Bork zurück nach Hannover und war pünktlich abends um acht zur Party da. Er erzählte vom Wiedersehen mit Becca. Er war traurig, dass sie nicht mitgekommen war, er hätte gerne mehr Zeit mit ihr verbracht, sie an seinem Leben teilnehmen lassen, mit ihr angegeben. Vorläufig war daran nicht zu denken.


Freitagabend war Bork wieder in seiner Dachgeschosswohnung in Kreuzberg.


Er war mit Tim, seinem besten Freund und Chef Essen gewesen. Er hatte sich auf dieses Treffen gefreut, denn Tim war bekannt dafür, dass er vor allem in Liebesdingen immer alles vor den Beteiligten wusste – so hatte ihn auch Sannes Trennung von Bork nicht überrascht – und Bork wollte ihn wenigstens dieses Mal erstaunt sehen. Tim wusste von Becca gar nichts. Immer mehr sah Bork in Tim einen englischen Tudor-König, der aus royaler, persönlicher Machtfülle heraus zum Besten seines Königreichs und seiner selbst herrschte, denn beides war in seiner Vorstellung eins. Die Einschränkungen seiner Macht durch die notwendigen Konstitutionen und vorgegebenen Traditionen konnte er nur schwer ertragen. Tim war aus tiefstem Herzen Unternehmensberater, aber ebenso mit Leib und Seele Beratungsunternehmer – Leib sowohl, als auch Seele von beeindruckendem Umfang. Tim hatte sich bereits mit 19 vorgenommen, mit 40 Millionär zu sein und war nach Borks Einschätzung auf gutem Wege, dieses Ziel früher zu erreichen. Hätte er sich entscheiden müssen zwischen dem Wohl seiner Mandanten, seiner Firma, seiner Freunde und seinem eigenen, hätte er sich zweifelsfrei für letzteres entschieden, überzeugt davon, dass das auch für seine Firma und Freunde das Beste sei. Aber heute war Tim vor allem Borks bester Freund. Bork hatte niemandem außer Sanne von seiner Affäre erzählt, einerseits um Sanne zu schützen, andererseits, weil er sich für diesen Vertrauensmissbrauch vor sich selbst schämte, außerdem hatte er es schon immer für stillos gehalten, seinen männlichen Freunden von Frauengeschichten zu erzählen oder gar damit anzugeben. So etwas machten Cowboys nicht, Gentlemen sowieso nicht. Er erzählte Tim die ganze Geschichte der letzten drei Jahre, vor allem aber des letzten Wochenendes, scheinbar gelang es ihm durch die Ausführlichkeit dieses eine Mal, die ganze Bedeutung klarzumachen und Tim zu überraschen. Sein Freund lachte und sagte »Das es so was gibt?!« Nach dem Essen versuchte Tim, das Gespräch wieder zu ihren gemeinsamen Projekten zurückzuführen, über Kinoneubauten und Wirtschaftlichkeitsberechnungen wollte Bork nicht nachdenken. Zu Hause begann er, einen langen Brief an Becca zu schreiben. Während der Woche schickten sie sich gegenseitig Faxe in ihre Büros und versicherten sich, wie glücklich sie seien und dass sie sich auf ihr nächstes Wiedersehen freuten.


Am nächsten Donnerstagabend war Bork wieder auf der Autobahn.


Im Morgengrauen war er an der Grenzstation Weil am Rhein/Basel. Bei Karlsruhe war der Auspuff kaputtgegangen, der Taunus war sehr laut. Er rollte mit so wenig Gas wie möglich zur Schweizer Grenzwacht, Der Polizist fragte, ob der Wagen in Ordnung sei, Bork sagte, »Ja.« »Nein!«, sagte der Grenzwächter. Die Abgasanlage sei defekt und das Fahrzeug zu laut, eine Einreise in Schweiz sei so nicht möglich. Bork sagte, der Auspuff sei gerade erst kaputtgegangen und er müsse nur nach Bern fahren und wolle gleich morgen in eine Werkstatt, um das reparieren zu lassen. »Nein«, eine Einreise in die Schweiz sei so nicht möglich. Bork wendete an der Abfertigungsstelle und stand nach wenigen Minuten wieder beim deutschen Bundesgrenzschutz.


Bork erinnerte sich daran, dass Becca von ›grünen‹ Grenzübergängen erzählt hatte. Er hielt an der nächsten Raststätte, rief Becca an, um sie nach geeigneten Übergängen zu fragen, aber morgens früh gegen vier war niemand zu erreichen. Bork schaute auf die Karte und entschied sich für die französisch-schweizerische Grenze. Er fuhr die A5 zurück bis zum Abzweig nach Mulhouse. Von dort auf Landstraßen Richtung Flughafen Bâle-Mulhouse und dann auf kleinen Wegen an der Grenze entlang. Er fand eine Übergangsstelle, die unten in einem Tal lag, so konnte er den Wagen fast ohne Gas rollen lassen und musste erst auf der schweizer Seite wieder Krach machen. Er konnte von weitem sehen, dass der rot-weiß gestreifte Schlagbaum geöffnet war. Etwa zwanzig Kilometer hinter der Grenze stand ein Polizeiwagen auf einem Supermarktparkplatz in einem kleinen Dorf. Mit einer leuchtenden Stoppkelle hielten die Polizisten ihn an. »Schweizer Grenzwacht, Guten Morgen. Wo sind Sie eingereist? Haben Sie etwas anzugeben?« Bork nannte den Namen des Ortes, in dem er in die Schweiz gefahren war und verneinte die Fragen nach Bargeld über 10.000 DM, Zigaretten, Drogen und Waffen. Die Grenzwächter sahen in den Kofferraum. Seine Werkzeugkisten wurden durchsucht und Bork musste das Apple PowerBook einschalten, um seine Funktion zu beweisen. Zu dem Auspuff sagten die Grenzwächter nichts. 


Als Bork an der kleinen Bahnstation ankam, war es schon Vormittag. Becca lachte.


Becca hatte sie für abends bei ihrer Mutter zum Essen eingeladen. Bork war neugierig und hatte Sarah ja auch schon getroffen, er wollte soviel Becca wie möglich mitnehmen, warum also nicht auch ihre Mutter kennenlernen. Becca zeigte ihm eine schweizer Illustrierte aus den Sechzigern mit einer schönen Frau auf dem Titel, die ihr verblüffend ähnlich sah: ihre Mutter, der Photograph war ihr Vater. Bork war beeindruckt und fragte sich, ob Becca mit diesem Titelphoto angeben, ihn beeindrucken wollte. Seine eigenen früheren Pläne, Photograph zu werden, kamen ihm in den Sinn und er sah sich mit Becca in einem Photostudio wie in Antonionis ›Blow up‹, er glaubte, noch immer so gut zu sein, in seinen Photos die wirklichen Menschen hinter ihren Posen aufdecken zu können. Dazu hörte er in seinem Kopf den wilden psychedelisch-wirren Rock der Yardbirds und frühen Pink Floyd. Er freute sich auf einen sechziger Jahre Rock’n’Roll-Familienabend mit Wein, statt LSD. Am frühen Abend fuhren sie mit Borks dröhnendem Taunus in die Reihenhaussiedlung. Sarah begrüßte sie herzlich und führte sie an einen gedeckten Tisch auf der Terrasse, dort saß bereits ein älterer Mann mit lichtem Haar und prallem Bauch unter einem blauen Polohemd, der gar nicht zu der Sarah, deren Photo Bork vorhin gesehen hatte, passen wollte.


Beim Apéro erwähnte Bork, dass Becca ihm das Titelphoto gezeigt hatte. Während des Essens erzählte Sarah von ihrer Jugend als Modell und von der großen Freiheit, die das für sie in der Schweiz der sechziger Jahre bedeutet hatte, dann unterbrach sie sich mitten im Satz und lachte. Als Modell hatte sie ihren späteren Mann und Beccas Vater kennengelernt und mit einem Schlag diese ganze Freiheit wieder verloren: nun war sie die Ehefrau eines erfolgreichen Photographen, der jeden Tag mit anderen schönen jungen Frauen verbrachte, und Mutter eines kleinen Mädchens. Sie sagte mit bitterem Unterton, dass die Liebe zu diesem Mann für sie das Ergebnis ihrer Freiheit war. Jetzt lächelte sie wieder und sprach weiter: »… und zugleich die höchste Bestätigung meiner selbst in dieser Freiheit. Weißt Du, Bork, damals habe ich gelernt, dass Freiheit und Liebe keine Widersprüche sind, sondern dass wahre Liebe nur in der Freiheit möglich ist. Und das heißt nicht, dass alle wild durch die Gegend vögeln sollen oder dürfen. Denn das ist nicht die Freiheit, die ich meine. Es geht um eine Freiheit des Denkens und Träumens. Um die Freiheit der Zukunft.« Bork dachte an das Wenige, was er von Nietzsches Gedanken der ›ewigen Wiederkehr‹ wusste und bisher kaum verstanden hatte und an den zweiten Teil von James Camerons ›Terminator‹, in dem eine andere Sarah sagte, dass die Zukunft nicht festgelegt sei und es kein Schicksal gebe. Die Zukunft ändert sich in jedem Moment durch jede Handlung und jeden Gedanken.

Bork versuchte diesen Gedanken weiter zu denken: das hieße dann, dass Freiheit und Liebe beide nur für den Augenblick gültig sein können. Und man manchmal seine Träume zerstören muss, um sie leben zu können. Freiheit der Zukunft und Liebe des Augenblicks und der eigenen Beziehung zum Jetzt gehören zusammen, denn sie beide sind, was das Jetzt vom Nachher unterscheidet und so miteinander verbindet. In diesem Sinne wäre Liebe das beständige Ereignis der gegenwärtigen Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft. Und Freiheit das Anerkennen der fortwährenden Möglichkeit einer Zukunft, die auch völlig anders sein kann. Von diesen Gedanken wurde Bork nicht alles ganz klar, dennoch hatte er den Eindruck, damit seine Gefühle für Becca bestätigt zu finden.


Am Sonntag beschloss Bork, dass er nicht schon heute wieder nach Hause fahren konnte. Während Becca sich um ihren Garten kümmerte, bastelte er die Telefondose in Beccas Haus so um, dass er dort sein Powerbook anschließen konnte und schrieb eine email an sein Büro, entschuldigte sich mit seinem defekten Auto und kündigte seine Rückkehr für Dienstag an.


Nachmittags bockte er den Taunus so weit auf, dass er von unten an den Krümmer herankam: in der ersten Biegung, in der das Auspuffrohr von der senkrechten in die waagerechte Richtung wechselte war ein 5-Mark-Stück-großes Loch in dem Rohr. Bork wickelte Auspuff-Dicht um die entsprechende Stelle und befestigte zusätzlich eine Katzenfutter-Dose, die Becca ihm aus ihrer Mülltonne gefischt hatte, mit zwei stabilen Schellen. Er ließ den Wagen wieder auf alle vier Räder und startete den Motor. Becca war beeindruckt und lachte immer wieder: »mit ner Chatfood-Dose!«, »mit ner Chatfood-Dose!«, »Er hat das Auto mit ner Chatfood-Dose repariert!« Auch Bork selbst war ein bisschen beeindruckt.

Auf der Rückfahrt am nächsten Tag wurde der Auspuff kurz vor Basel wieder lauter, aber es war noch im erträglichen Bereich. Hinter Karlsruhe flog die ›Chatfood‹-Dose endgültig weg, der Lärm wurde abenteuerlich. Außerdem war es brütend heiß geworden und Bork konnte wegen des Krachs die Fenster nicht aufmachen. Er kaufte einige Dosen Jim-Beam-Cola, das betäubte den Schmerz, abends war er wieder in Berlin. Zu Hause checkte er seine emails. Sein Chef war sauer wegen des selbständig verlängerten Wochenendes.


Am Dienstag kaufte sich Bork das örtliche Kleinanzeigenblatt. Er fand etwas außerhalb der Stadt einen 78er Chevrolet Malibu mit noch einem Jahr TÜV. Er fuhr in das kleine Dorf kurz vor Königswusterhausen. Ein etwa 50 jähriger Mann in einem karierten Hemd, sehr kurzen ausgeblichenen Jeans-Shorts und Gummistiefeln begrüßte ihn und führte ihn in einen großen Obstgarten hinter dem Haus. Buchstäblich unter jedem Baum stand ein Auto. Der Chevy stand gleich vorne. Das war genau, was Bork wollte. Er probierte erstmal alle elektrischen options aus: Fensterheber, Sitzverstellung. Die meisten funktionierten. Dann schaute er in die Papiere und stellte fest, dass der Wagen nicht wie inseriert ein Jahr TÜV hatte, sondern nur noch etwas mehr als einen Monat. Der Verkäufer meinte: »Kein Problem. TÜV machen wir neu.« Sie einigten sich auf 1.500 DM mit zwei Jahren TÜV. Bork konnte den Wagen am übernächsten Tag abholen. Am verabredeten Tag ließ Bork sich von Tim wieder in das kleine Dorf fahren und brachte Nummernschilder für den Chevy mit. Das Auto machte Bork großen Spaß: es sah gefährlich aus, wie ein räudiger Köter, es war schwarz und silbern lackiert, mit schwarzem Vinyldach und die ganze linke Seite war verkratzt, die Chromleisten entweder abgefallen oder wie mit einem Dosenöffner aufgerollt. Der Wahlhebel der Automatik war an der Lenksäule angebracht, was im Fußraum auch in der Mitte viel Platz ließ. Er hatte einen Achtzylinder V-Motor mit knapp fünf Litern Hubraum. Bei einem Kickdown an der Ampel, drehten die Hinterräder geräuschvoll durch und der Wagen zog zügig davon. Der 1978 in Kalifornien schon vorgeschriebene ›katalytische Konverter‹ sparte auch 1994 in Deutschland noch Kfz-Steuern. Der Benzinverbrauch lag bei gemäßigter Fahrweise in der Stadt bei rd. 12 Litern Bleifrei auf 100 km, also etwa 20 Mark für 100 Kilometer. Außerdem war kein Wagen cooler. Marja taufte ihn später nach einem Stück der australischen Band The Beasts of Bourbon ›El Beasto‹, kein Name hätte besser passen können. Und schließlich war Louis Chevrolet Schweizer aus dem damaligen Westen des Kantons Bern, dem jetzigen Kanton Jura, der erst nach Frankreich und schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewandert war und dort als Rennfahrer und Autokonstrukteur sein Glück suchte und fand. 


Bork ließ sich halb willenlos von Becca und seinem Wagen durch die Berge des Jura schütteln und schwenken.


An einem Parkplatz auf dem Hauptkamm des Jura hielten sie und Bork hörte sich ihre Geschichten zu diesem Platz an. Nach einer Stunde dort oben, war der Wein ausgetrunken und Becca wollte nicht mehr fahren. Bork fühlte sich angenehm betrunken und übernahm das Fahren, um ihr nächstes Ziel anzusteuern. Nach einer schnellen Fahrt durch einige Autobahn-Tunnels an der Westseite des Neuenburger Sees führte Becca sie schließlich zu einem Restaurant, das Becca wegen seiner jurassischen Spezialität, Pferdefleisch, schätzte. Obwohl sie vegetarisch lebte, hielt sie das für einen angemessenen Abschluss dieses langen Sonntags im Jura. Auf der Rückfahrt von dem Restaurant zu Beccas Haus, hätte Bork beinahe eine Kurve verpasst und konnte den Wagen nur mit Mühe auf dem Asphalt halten. Bork hatte eine musikalische Entsprechung dieses Tages in Ravels ›la valse‹ gefunden, einem vielfach gebrochenen Walzer, der das ungestüme Tanzen des eigentlich bereits gestorbenen Wiens um 1900 vertonte.


Sehr spät lagen sie beide zusammen im Bett und Bork suchte Beccas Nähe, wurde von ihr aber weggestoßen.


Der Montagmorgen war hell und sonnig. Bork suchte seine Sachen zusammen. Schließlich hatte er alles – bis auf einige T-Shirts, die noch auf der Wäscheleine hingen – im Malibu verstaut.


Das war gestern. Er spulte die Cassette zurück und hörte zum siebenunddreißigsten Mal diesen Song: »all my tears wouldn’t bring her home«. Langsam sickerten andere Dinge in sein Bewusstsein: Aufgaben, Verpflichtungen, Ziele. Bork grinste sich selbst im Rückspiegel an. Seinem guten Freund und Chef hatte er einen kurzen Zettel geschrieben und ihn vor einem Haufen Klapperschlangen einfach stehen gelassen. Es gab tatsächlich wichtigeres auf der Welt als eingebildete Klapperschlangen. Er hatte alle Rückzüge abgeschnitten. Jemand hatte das Licht angeknipst. Es war wie im Film, aber normalerweise ist das Leben in Filmen nicht wie ein Film, jedenfalls nicht wie so ein Film.


Epilog – weg sein                             nach oben


4. Szene – Der Parkplatz                                 nach oben


Als Bork aufwachte, knackte das Cassettenradio vor sich hin, die Band-Endabschaltung funktionierte nicht. Er drehte den Regler auf ›off‹. Immer noch war gelegentlich das Brummen der Dieselmotoren und das Kreischen der Druckluftbremsen zu hören. Bork legte sich so gut es ging quer über die vordere Sitzbank des Malibu, den Kopf auf der Beifahrerseite. Er wachte erst wieder auf, als es hell wurde. Im Fußraum vor der Rückbank fand er einen Rest des Mineralwassers, das er gestern Mittag an der Tankstelle gekauft hatte, ein Schokoriegel lag im Armaturenbrett vor dem Tacho. Er aß ihn und trank ein paar Schlucke Wasser dazu, dann stieg er aus dem Wagen und suchte sich in den Büschen, die den kleinen Parkplatz gegen die Schlucht abschirmten, einen Platz zum Pissen. Neben dem Chevy nahm er einen großen Schluck aus der Wasserflasche, spülte damit seinen Mund kräftig durch und spuckte das Wasser auf den Boden neben seinem Auto. Das auf den Boden treffende Wasser wirbelte eine kleine Staubwolke auf. Als er wieder hinter dem Lenkrad saß und überlegte, ob vor der Abfahrt noch irgendetwas zu erledigen sein könnte, stellte er fest, dass er in der Nacht seinen Ohrring verloren hatte. Einen silbernen Hänger, den Sanne ihm vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Er suchte kurz und ohne viel Engagement auf und neben dem Beifahrersitz, der Ohrring blieb verschwunden. Der Verlust erinnerte ihn an das Messer und an Becca. Und er besann sich darauf, dass er nur noch eine handvoll Kleingeld besaß und dringend eine Bank finden musste. Sein Benzin reichte noch für etwa hundert Kilometer. Im Tal vor ihm lag Trujillo, eine Stadt, groß genug für eine Bank und vielleicht einen Messerladen – Bork fragte sich, ob nicht ein Jagdmessser aus Toledo-Stahl wenigstens einen Teil seines gestrigen Verlustes zu heilen im Stande wäre. Nach wenigen Minuten passierte er das Ortsschild von Trujillo und sah die Filiale einer Bank. Am Schalter bekam er Bargeld für einen seiner Schecks.

Am Ortsausgang hielt er an einer Tankstelle, füllte den Tank und trank einen Automaten-Espresso. Wenige Minuten später war Bork auf der Staatsstraße, die nun wieder autobahnähnlich vierspurig ausgebaut war.


Er wusste, dass das weder der kürzeste, noch der schnellste Weg nach Südportugal war, aber er kannte ihn und er mochte die Landschaft in diesem Teil der Extremadura. Nach ein paar Stunden traf er auf die Trasse der neuen Autobahn, die die alte Landstraße bald ersetzen würde. Viele Kilometer Baustellen. In einer langgezogenen Rechtskurve sah er schon von weitem den orange und weiß lackierten LKW, der ihm entgegen kam, auf der wegen der Baustelle schmalen Landstraße hätte eine kleine Unaufmerksamkeit ausgereicht, in den Gegenverkehr zu geraten und alle Sorgen hinter sich zu lassen. Der LKW hatte eine hohe senkrechte Front und Bork spielte leicht mit dem Lenkrad, der schwere Chevy schüttelte sich im Luftzug des eng an ihm vorbei fahrenden großen Lastzuges. Bork zündete sich eine Zigarette an und nahm noch einen Schluck von dem Weißwein. Erst in Merida, wo die Staatsstraße nach Badajoz abzweigt, wurde der Verkehr wieder ruhiger und das Fahren gleichmäßiger. Als er diese Strecke vor etlichen Jahren das erste Mal mit dem Motorrad gefahren war, hatte er sie die Gegend jenseits der Zaungrenze genannt. Niemand machte sich hier die Mühe, das Land einzuzäunen, es gab nichts, was diesen Aufwand Wert gewesen wäre: nur vereinzelt Ruinen von Bauernhöfen und Parzellen mit gepflügtem rotbraunen Boden, auf dem Olivenbäume oder Korkeichen wuchsen. Über ihm kreiste ein Raubvogel, der vermutlich wartete, ob ein Auto ihm die Hasenjagd abnahm. Badajoz präsentierte sich wie immer als Grenzstadt am Rande der Legalität. Aufdringliche Windschutzscheibenputzer und selbstmörderisch durch den bereits wieder anfahrenden Verkehr hüpfende ›Ampel-Bettler‹. Am Ortsausgang endete das Land, Portugal begann. Eine riesige neue Abfertigungstation wurde gerade gebaut: ein großer weißer Betonkasten, der schon im nächsten Jahr überflüssig werden sollte, weil dann die Grenzkontrollen wegfielen. Eine neue Autobahn von hier zur Hauptstadt am Atlantik war im Bau. Bork folgte der hügeligen alten Landstraße Richtung Westen. Kurz vor dem Ozean bog er nach Süden ab und erreichte die Provinz Algarve am späten Nachmittag. Gegen Abend saß er mit einem Bier und einem Ei-Tomate-Sandwich in Antonios Bar am Marktplatz der kleinen Ortschaft, deren Name übersetzt angeblich Zeckennest heißt. 

5. Szene – Beim Fischer                                  nach oben

Bork hatte sich in der Pension der alten Dame einquartiert, die nicht müde wurde, ihn jeden Morgen vor der Sonne zu warnen und jeden Abend darauf hinwies, dass es heute wieder ganz besonders heiß gewesen sei. Wenn Bork nicht Bargeld von der Bank im nächsten Ort holen, tanken oder Reparaturen am Chevy ausführen musste, verbrachte er seine Tage lesend oder plaudernd vor Antonios Bar, ab etwa drei Uhr nachmittags erlaubte er sich, den Milchkaffee durch Bier zu ersetzen und gegen fünf bestellte er ein Sandwich mit Ei und Tomate. Vor Sonnenuntergang fuhr er mit dem Malibu über die Sandpiste zum Restaurant auf den Klippen. Es hieß, man ginge ›zum Fischer‹, denn dort oben auf den Klippen wohnten einige Familien, die vom Fischfang lebten und von der Bewirtung der wenigen Touristen, ›estrangeiros‹, also dauerhaft dort wohnenden Ausländer und sehr selten einigen Einheimischen. Bork setzte sich jeden Abend auf die selbe Bank, wo er den Gelegenheitsgästen nicht die Aussicht auf den Sonnenuntergang versperrte. Dort schien später das dieselgeneratorgespeiste Licht aus der Holzbaracke, die als Wohn- und als Schlecht-Wetter-Gastraum diente, so dass er auch nach Sonnenuntergang noch lesen konnte. Denn meist fuhr er alleine zum Essen. Er hatte das Exemplar von Bulgakovs ›Der Meister und Margarita‹ dabei, das Becca ihm geschenkt hatte, und war gefesselt. Zum Essen trank Bork Wein. Nach dem Essen ging er zu seinem Wagen, stieg ein, wählte eine Tom-Waits-Cassette, drehte das Radio an und fuhr mitsingend zurück ins Dorf. Meist kehrte er auf dem Rückweg noch für einen Espresso und einen der lokalen Schnäpse bei Antonio ein. Nach wenigen Tagen erkannte man ihn an seinem Chevy und er wurde von einigen der Gäste mehr oder weniger herzlich begrüßt. Zwei der Jungs, die er dort jeden Abend traf, kamen aus Berlin und entwickelten sich recht schnell zu seinen Abend-Begleitern. Nur sein allabendliches Essen beim Fischer zelebrierte Bork ungestört allein. Eines Abends setzten sich zwei junge Frauen aus dem Bergischen an seinen Tisch beim Fischer, sie waren noch immer atemlos von dem Spektakel des Atlantik-Sonnenuntergangs und von ihrer ersten Flasche Wein ziemlich angeschlagen. Der schmaleren und vermutlich älteren der beiden, Lisa, fiel es leicht Bork dazu zu bringen ihr die ganze Becca-Geschichte zu erzählen. Er berichtete ihr detailliert von Beccas erster Frage in der Milchbar bis zu ihrem letzten gemeinsamen Sonntag im Jura. Seine Gedanken zu Liebe und Freiheit erwähnte er nur am Rande. Es kam ihm vor, als seien diese Gedanken noch nicht zu Ende gedacht und er wollte seine so pathetisch empfundene Liebesgeschichte und seinen Schmerz nicht durch halbgare Rationalisierungen verkleinern. Lisa sah ihn bestürzt an und versuchte, ihn mit ein paar Worten zu trösten. Bork verstand nicht gleich, schüttelte den Kopf und trank einen weiteren Schluck Wein. »Es ist eine wahre Geschichte, und die sind immer traurig.« – »Aber das ist doch keine Geschichte, das ist Dir wirklich passiert«, sagte Lisa fragend und etwas entrüstet. Bork dachte über die Frage nach und sagte »Beides.« Er hatte den Eindruck, aus dem Kino zu gehen und zu merken, dass der Film, den er eben gesehen hatte, ein Film war, nicht sein Leben. Allerdings ein Film, der sein Leben verändert hatte. Die wirkliche Becca, neben der er vor einigen Tagen noch in seinem Wagen gesessen und in deren Bett er gelegen hatte, war zu einer Geschichte geworden, einer wichtigen Geschichte, aber irgendwie war sie aus der Wirklichkeit in die lange Erzählung seines Lebens gefallen

eine Erinnerung, das ›Becca-Kapitel‹ in der ›Bork-Geschichte‹.

Er dachte daran, dass er Lisa eben noch erzählt hatte, dass jede Liebe eine Liebesgeschichte sei, vom ersten Blitzschlag des Verliebtseins bis zum bitteren Ende des freien Falls durch Enttäuschung, Verlust und Einsamkeit; nur aufnehme und weitererzähle, was seit Beginn der Menschheit über Liebe und Zusammensein gedacht und erzählt wurde.


Sie waren die letzten Gäste im Restaurant und verabredeten sich beim Abschied für den nächsten Abend am gleichen Ort. An diesem Abend sang Bork auf der Rückfahrt nicht mit Tom Waits, sondern weinte still, bis er den Wagen hinter der Markthalle des kleinen Ortes geparkt hatte. Nach dem Besuch bei Antonio ging Bork sehr betrunken in seine Pension. Nachts wachte er erschrocken auf und notierte sich Datum, Uhrzeit und ein großes ›JETZT‹, weil er das sichere Gefühl hatte, dass gerade etwas Furchtbares passiert sein musste. Später erfuhr er, dass eine von Beccas Katzen, die den Namen ihres neuen schottischen Lieblings-Wiskys trug, in dieser Woche verschwunden und irgendwann von einem Fuchs getötet worden war.

6. Szene – Am Abgrund                                    nach oben


Am Vormittag saß Bork auf der Terrasse vor Antonios Bar und rührte in seinem Milchkaffee. Er hatte ein Sandwich bestellt und wartete, dass Antonios Frau in die Bar kam, um die Küche zu übernehmen. Antonio sah nach einem schrecklichen Kater aus und war nicht in der Lage, die Bar und die Küche gleichzeitig zu betreuen. Bork wartete. Er war froh, eine Pause einlegen zu können. Er dachte darüber nach, ob es vielleicht schon Zeit für die erste Zigarette des Tages sein könnte. Er sah Lisa und Anna um die Ecke kommen. Sie winkten ihm zu, setzten sich an Borks Tisch und begrüßten ihn mit einem zu fröhlichen »Guten Morgen!« Bork murmelte etwas Freundliches, fragte sie, ob sie Kaffee mit Milch wollten, stand dann auf, ging zu Antonio und bestellte. Bork nahm die hohen Gläser mit nach draußen und versuchte, sie möglichst elegant auf dem Tisch abzustellen. Lisa versuchte, Borks Augen hinter der Sonnenbrille genauer zu erkennen. Schließlich fragte sie ihn, wie es ihm ginge. »Alles gut!« sagte Bork.


Lisa fragte, was er heute vorhabe und, ob er zufällig zur Bank müsse, denn sie und Anna seien an der nur einige Kilometer entfernten Südwestspitze des Landes verabredet und hatten gehofft, er könne sie dort vielleicht hinbringen. Bork war froh, eine sinnvolle Aufgabe für diesen Tag zu haben und sagte »natürlich«. Mittags trafen sie sich bei Antonio. Die beiden kamen mit großen Rucksäcken, Bork wies auf den Chevy und ging voraus, um Türen und Kofferraum zu öffnen. Die beiden verstauten ihr Gepäck und bewunderten den Wagen. Anna sagte, dass sie auf jeden Fall noch Photos von dem Malibu machen wolle. Bork schlug vor, dazu auf die Klippen zu fahren. Sie saßen zu dritt auf der vorderen Sitzbank und Bork fuhr die sandige Piste zum Fischer hinauf. Etwas hinter dem Restaurant gab es einen staubigen Parkplatz direkt an den Klippen, der von Wohnmobilen genutzt wurde, wenn die Staatspolizei, das verbotene Übernachten im Naturschutzgebiet nicht unterband. Bork stellte den Wagen ab und Anna machte ihre Photos. Sie fragte Bork, ob er sie auf der Motorhaube des Chevy photographieren würde. Bork stimmte zu und machte mit seiner Kamera ein paar Bilder der beiden Mädchen auf und neben seinem Wagen.


Sie fuhren zurück zur Landstraße und machten sich auf den Weg zum Campingplatz, wieder saßen sie zu dritt vorne. Lisa in der Mitte, eng an Bork gedrängt. Er hielt auf dem Weg bei der Bank und tauschte einen weiteren Euroscheck in Landeswährung ein. Am Eingang zum Campingplatz hielt Bork, öffnete den beiden den Kofferraum und setzte sich auf die Motorhaube, um noch eine Zigarette zu rauchen.


Bork hatte die Kippe eben in den Staub geschnippst, als Anna und Lisa zurück auf den Parkplatz gelaufen kamen. Ihre Freunde waren noch nicht angekommen. Sie beschlossen, gemeinsam in die Provinzhauptstadt zu fahren, um Urlaubsmitbringsel und Postkarten zu kaufen. Bork fuhr über die fast kurvenlose, hügelige Landstraße der Stadt entgegen. Johnny Cash sang aus dem Cassettenradio Bob Dylans Song davon, dass er nicht derjenige sei, nach dem sie suche. In der Stadt kaufte Bork sich einen Ohrring, der ringförmig und aus geschwärztem Silber war. Schwarz schien ihm eine passende Farbe. Nach dem Einkaufen tranken sie noch zu dritt Café und aßen kleine Pasteten an einem Stehimbiss, Lisa erzählte von ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin und wie wichtig es ihr sei, etwas nützliches in dieser Welt zu tun – und davon, dass sie jede neue Krankheit, von der sie höre, meinte, selbst zu haben oder sehr bald zu bekommen. Diesen Sommer war sie einige Wochen fest überzeugt, ein Melanom zu haben. Bis ein mit ihrem Stationsarzt befreundeter Onkologe den Leberfleck auf ihrem Fußrücken als ungefährlich einstufte und sie plötzlich wieder gesund war. Lisa weinte während sie davon erzählte und lachte dann über ihre eigene Hypochondrie. Lisa bestellte die Rechnung, Bork bezahlte und Lisa bedankte sich bei der jungen Frau hinter dem Tresen und verabschiedete sich von ihr freundlich auf Portugiesisch. Auf der Rückfahrt im Wagen fragte Bork sie, woher sie so gut Portugiesisch könne. Sie erzählte, dass sie schon in der Schule Spanisch gelernt habe und seitdem davon träume, in Mittel- oder Südamerika zu leben. Sie wolle in der Karibik auf Schatzsuche gehen, sich von dem Geld ein kleines Haus auf einer Insel kaufen und dort mit einem guten Mann und ein paar Kindern glücklich leben, während sie sich um die Verbesserung der Gesundheitsstruktur auf der Insel kümmere. Als sie wieder in dem Dorf ankamen, war der Nachmittag schon fortgeschritten. 


Er ließ die Mädchen auf dem Marktplatz aussteigen und wartete bis sie ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum geholt hatten. Dann fuhr er zurück zu dem staubigen kleinen Parkplatz auf den Klippen. Er blieb im Wagen sitzen, hörte Musik und blickte auf den Ozean und den langgezogenen Strand in der südlich liegenden Bucht. Er dachte an Lisa, an Becca, an Berlin und dann fiel ihm die Uni ein. Er hatte im Urlaub eigentlich Lesen und sich auf die zweite Hälfte seines Projektkurses vorbereiten wollen. Er dachte an die Nietzsche-Gesamtausgabe, die in einer kleinen ledernen Reisetasche im Kofferraum lag. Bork drückte die Zigarette aus, öffnete die Tür und ging zur Rückseite des Wagens. Mit Band 13, in dem die ›Fröhliche Wissenschaft‹, sein Lieblingstext Nietzsches, abgedruckt war, setzte er sich wieder hinter das Lenkrad. Ziemlich weit hinten in dem Band fand er das ›Sanctus Januarius‹ überschriebene erste Stück des letzten Buches der ›Fröhlichen Wissenschaft‹. Im vergangenen Semester hatten sie die Bedeutung der letzten Sätze dieses Stücks diskutiert: was sollte ›amor fati‹, die Liebe zum Schicksal bedeuten? Bork blätterte weiter und stieß auf das Stück ›Sternenfreundschaft‹, das Nietzsche für seinen verlorenen Freund Richard Wagner oder eine seiner unglücklichen Lieben, Wagners Frau Cosima oder Lou Salomé, geschrieben hatte. Das übernächste Stück hieß ›Das Ende zu finden wissen‹. Bork konnte es trotz der wenigen Zeilen nicht zu Ende lesen. Es war sehr schnell dunkel geworden. Die Sonne war hinter dem kleinen Hügel rechts von ihm verschwunden und der warf seinen großen Schatten über den Parkplatz. Bork starrte wieder auf das Meer und wartete auf den kurzen Moment, in dem der Himmel grünlich glimmt. Als Bork das grüne Glimmen sah, fasste er einen Entschluss. Er startete den Motor und trat auf die Bremse. Der Wagen ruckte leicht, als er den Wahlhebel der Automatik nach unten drückte. Er hörte den Sand und die kleinen Steine, die von den Reifen aufgewirbelt wurden, sah die Staubwolke im letzten Sonnenlicht orange aufleuchten als er mit durchdrehenden Rädern rückwärts von dem Parkplatz fuhr.


7. Szene – Heim!                                      nach oben


Bork hatte sich entschieden, dass der Schmerz um Becca ihn stärker machen sollte. Er musste seinen geliebten, nun mit diesem Schmerz verbundenen Ort schnellstmöglich verlassen. Die beiden Jungs, denen er jeden Abend begegnete und die unter den Touristen im Dorf Hanni und Nanni genannt wurden, obwohl sie nur so ähnlich hießen, suchten eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin, weil sie ihre Surfbretter nicht im Flugzeug nach Hause bringen wollten. Nach ein paar Tagen war klar, dass auch Tobi zurück nach Deutschland fahren wollte. Er hatte Chris und dessen Freundin, Manu, als Passagiere gewonnen.


Sie saßen zu siebt nachmittags vor Antonios Bar und bestimmten den Dienstag als ihren Abfahrtstermin. Tobi und Bork hatten lange über Borks Karten gesessen und die Route über die südliche Autobahn, Huelva, Cordoba und Valdepeñas ausgewählt. Die Hauptroute über Madrid, Paris und Belgien war ohnehin gesetzt, weil Tobi in der Nähe von Köln lebte und Chris und Manu nach Aachen mussten. Schon am nächsten Tag wurde klar, dass Chris Montag noch ins Nachbardorf zur Bank musste, um neues Geld seines Vaters abzuholen.


Montagabend wollte er dann mit einem der Estrangeiros in die Provinzhauptstadt fahren, um seine Drogenration für die Rückfahrt zu beschaffen. Tobi fand das alles inakzeptabel. Bork war beunruhigt. Er wollte nicht mit Leuten, die er kaum kannte und die illegale Drogen im Gepäck hatten, über irgendwelche Grenzen – oder gleich vier hintereinander – fahren.


Montag stellte sich heraus, dass das Geld von Chris’ Vater noch nicht eingetroffen war. Bork lieh Chris umgerechnet etwa 100 DM, um die nächsten Tage Essen und Getränke für ihn und Manu bezahlen zu können. Ihre Pensionswirtin hatte wohlweislich jeweils wöchentliche Vorauszahlungen verlangt und erhalten.


Bork hatte den Chevy bis Montagnachmittag reisefertig gemacht. Abends wurde klar, dass sie alle die Abreise verschieben wollten. Bei Espresso und Schnaps in Antonios Bar beschlossen sie gemeinsam nach dem Essen, erst Donnerstag – dann aber ganz bestimmt! – aufzubrechen.


Bork lehnte sich zurück und ärgerte sich. Dann stand er auf, ging zur Bar und bestellte noch einen Medronho und kaufte eine Schachtel Zigaretten. Er hatte keine Lust mehr, sich um die Belange und Probleme anderer zu kümmern, war aber auch zu lethargisch, um seinen Willen durchzusetzen. Antonios Selbstgebrannter erschien ihm als guter Ausweg aus diesem Dilemma.

Donnerstagvormittag saßen sie alle an den Tischen vor Antonios Bar, noch bevor die Jalousien hochgezogen waren. Die beiden Wagen standen vor dem Laden, alle Türen und die Kofferraumklappen weit offen. Tobi hatte die Rückbank umgeklappt und hinten in seinem Diesel-Kombi eine große Liegefläche geschaffen. Bork hatte sein Gepäck im Malibu verstaut und ein paar Spanngurte und eine alte Decke für die Surfbretter bereitgelegt. Chris hatte seinen wilden blonden Vollbart zu einem modischen Oberlippen- und Kinnbart gestutzt. Die Jungs saßen neben Ihren Rucksäcken und Surfbrettern. Nach einem schnellen Frühstück wurde das übrige Gepäck in den beiden Wagen verteilt. Die ersten 160 km bis vor die spanische Grenze wollten Chris und Manu in Borks Chevy mitfahren. Mit dem ganzen Gepäck und sechs Leuten war der Malibu so überladen, dass bei Bodenwellen die Reifen in den Kotflügeln aufsetzten. Kurz vor der Grenze hielten sie an einem Supermarkt, gaben ihr letztes portugiesisches Geld für Zigaretten, Kekse, Schokoriegel und Bier aus, Chris und Manu wechselten in Tobis Wagen, wo sie sich die Liegefläche mit Bergen von Gepäck und Tobis Hund teilten.


Am späten Nachmittag mussten sie kurz hinter Cordoba die autobahnähnliche E4 wegen einer Baustelle verlassen und eine Umleitung über eine Landstraße Richtung Norden nehmen. In einem kleinen Bergstädtchen an der Provinzgrenze zwischen Andalusien und Kastilien passierten sie ohne angehalten zu werden eine große Kontrolle der Staatspolizei. Kurz danach während der Auffahrt zu einem kleinen Pass verschwanden die Scheinwerfer von Tobis Wagen aus dem Rückspiegel des Chevy. Bork reduzierte das Tempo. Er und seine Mitfahrer waren besorgt, dass Tobi vielleicht eine Kehre verpasst haben könnte. Nachdem sie von einigen Lieferwagen und einem holländischen Lastwagen überholt worden waren, tauchte im Rückspiegel wieder ein Paar PKW-Scheinwerfer auf. Bork ließ die Warnblinker einmal aufblinken, Tobi antwortete mit der Lichthupe. Am späten Abend erreichten sie die E90, die Bork vier Wochen zuvor in den Süden gebracht hatte. Bei einer der Tankstopps hatte Hanni erzählt, dass Nanni am nächsten Tag Geburtstag und er in dem portugiesischen Supermarkt für eine mitternächtliche Überraschungsparty eine Flasche Sekt gekauft habe. 30 km vor Madrid verließen die beiden Wagen erneut die E90 an einer Tankstelle. Hier erzählte Nanni, dass er in zehn Minuten Geburtstag habe. Hanni versuchte, ihn abzulenken und alle grinsten wissend. Manu verschwand in Tobis Wagen, um unauffällig den Sekt vorzubereiten. Sie trödelten noch einige Zeit herum, indem einer nach dem anderen vorgab, noch auf die Toilette zu müssen. Die letzten zehn Sekunden bis Mitternacht zählten sie alle im Chor herunter. Dann sprang Manu mit dem Sekt hinter Tobis Wagen hervor und ließ den Korken über den Parplatz knallen. Nanni hüpfte vor Überraschung und erzählte allen begeistert davon, dass er an diesem Geburtstag in Madrid und Paris sein würde. Sie tranken den Sekt aus der Flasche und waren eine halbe Stunde später auf dem Autobahnring um Madrid.


Am nächsten Vormittag auf der langweiligen französischen Nationalstraße, die die spanische Grenze mit Bordeaux verbindet, überließ Bork Hanni für einige Stunden das Steuer. Bei einem weiteren Tankstopp zwischen Poitiers und Tours übernahm Bork wieder das Fahren. Chris und Manu lagen schlafend in Tobis Kombi. Nannis Angebot zu fahren lehnte Tobi ab. Ihm gehe es gut und er sei nicht müde. An der letzten Mautstelle vor dem Périphérique wechselte Chris wieder in Borks Malibu, weil Tobi seine Musik nicht spielen wollte. Sie passierten Paris fast ohne Stau und hörten dabei sehr laut das erste Bodycount-Album.


Mit einsetzender Dämmerung begann es zu regnen und sie erreichten die Grenze zu Belgien. Gegen neun setzten sie Chris und Manu an Manus Wohnung ab. Eine gute Stunde später parkten sie die Wagen vor dem Haus, in dem Tobi wohnte. Er lud sie ein, zu einem späten Abendessen mit in seine Wohnung zu kommen. Sie nahmen die Einladung gerne an und verbrachten noch zwei Stunden bei Tobi. Müde und leicht angetrunken starteten Hanni, Nanni und Bork gegen halb eins Richtung Berlin. Hinter Hannover, nachdem er ein paar Mal halb eingeschlafen war, musste Bork das Fahren wieder an Hanni abgeben. Auf dem Beifahrerplatz schlief Bork sofort ein und wachte erst kurz vor der A10 wieder auf. Sie mussten tanken und Bork übernahm wieder das Steuer.


Er brachte die beiden zu ihren Wohnungen in Charlottenburg und Friedrichshain und fuhr vom Schlafentzug und dem gewonnen Kampf gegen die Entfernung euphorisiert nach Hause. 42 Stunden für die gut 3.000 km war für Bork ein neuer Rekord. Direkt vor dem Mir war ein Parkplatz frei. Bork sammelte die wichtigsten Dinge aus dem Wagen zusammen und ging zu seiner Haustür. Für den Aufstieg in die Dachgeschosswohnung fehlte ihm die Energie. Er schloss den Briefkasten auf und sortierte grob Post und Werbung. Die Post steckte er in die hintere Hosentasche, die Werbung warf er auf den Boden und ging wieder nach draußen, über die Straße zum Mir. Es war der 1. Oktober und recht kalt in der Stadt. Er setzte sich im Mir an die Bar, bestellte einen Whiskey und sah seine Post durch. Es war eine Postkarte von Becca dabei. Bevor er den zweiten Whiskey bestellte und die Karte las, fragte er Susie, die hinter dem Tresen stand, ob sie ihm bis nächste Woche einen Deckel machen könne. Er hatte nur noch einige deutschen Münzen und musste wegen des Feiertags warten bis Dienstag die Banken wieder öffneten, um neues Geld zu bekommen, denn seine EC-Karte funktionierte auch in Deutschland nicht. Becca hatte ihm geschrieben, dass er einige T-Shirt auf ihrer Wäscheleine vergessen hatte, die sie schnellstmöglich nach Berlin schicken werde. Der Schluss lautete »immer in Eile, auch jetzt. Ciao bes.« Bork begann gerade, sich über ihre Wortkargheit zu ärgern, als der Schmerz in wieder eingeholt hatte. Er trank den Whiskey aus, nickte Susie zu, bedankte und verabschiedete sich. Die Müdigkeit und der Whiskey machten den Weg in den fünften Stock zu einer anstrengenden Sache. In seiner Wohnung angekommen, ließ Bork sich auf das Sofa fallen und zündete eine Zigarette an. Er bemühte sich, nicht einzuschlafen und nicht an Becca zu denken. Das Erste gelang gut, aber nur auf Kosten des Zweiten. Er starrte das Telefon an und überlegte, ob er sie anrufen sollte. Stattdessen dachte er darüber nach, wie er das lange Wochenende ohne Geld überstehen sollte. Frühstücken konnte er im Mir. Für das Abendessen kam vielleicht der Würgeengel in Frage. Der Würgeengel passte ihm gut, er hoffte Marja dort zufällig zu treffen und ihr den traurigen Schluss seiner Liebesgeschichte zu erzählen. Und er hoffte schließlich mit ihr knutschend in seinem Wagen vor ihrer Haustür zu landen – oder in ihrem Bett. Er wachte davon auf, dass ihm die Sonne, die nun weit im Westen über der großen Stadt stand, ins Gesicht schien. Viertel nach sieben. Der Würgeengel hatte eben aufgemacht. Bork ging ins Bad, putzte sich die Zähne, durchwühlte seinen Kleiderschrank nach einem sauberen T-Shirt, zog die Lederjacke an und ging die fünf Treppen hinunter zu seinem Wagen. Im Würgeengel fragte er den Barkeeper, ob er für das Wochenende einen Deckel machen könne, bestellte ein großes Bier und eine Pizza. Er war noch etwas verschlafen und hatte noch gar nicht darauf geachtet, ob Marja arbeitete. Die Pizza wurde von einer anderen Kellnerin gebracht, er frage sie nach Marja, verstand aber nur zwei Worte der Antwort: »Urlaub. Eltern.« Bork bekam schlagartig enormen Hunger und trank einen großen Schluck Bier. Bevor er mit der Pizza begann, rauchte er noch eine Zigarette. Als die erste Rauchschwade bei den Filmleuten – oder Touristen – am Nebentisch ankam, blickten die beiden leicht angwidert und genervt zu Bork herüber. Als er die Pizza aufgegessen hatte und die Kellnerin den Teller abräumte fragte er, wann Marja wieder arbeite. Diesmal bestand die Antwort aus drei Worten: »Weiß nich’. Mittwoch?« Bork wechselte an den Tresen, bestellte einen Whiskey und begann ein schleppendes, immer wieder durch dessen Arbeit unterbrochenes Gespräch mit dem Barkeeper. Bork erzählte hastig von den letzten zweieinhalb Tagen auf der Autobahn und den vier Wochen Portugal zuvor. Dabei fiel ihm Katja ein, die er in dem kleinen Dorf mit ihrem zuviel trinkenden Freund getroffen hatte, die in Berlin wohnte und ihm ihre Telefonnummer gegeben hatte, damit er sie nach seiner Rückkehr anrufen sollte. Bork durchwühlte seine Brieftasche und fand die leere Zuckertüte, auf der ihre Nummer stand: nach den ersten drei Ziffern zu urteilen, in Kreuzberg, obwohl man da seit dem Mauerfall und der Deregulierung des Telefonmarktes nicht mehr so sicher sein konnte wie in den alten Zeiten. Bork nahm sich vor, sie Sonntag anzurufen. Als er Sonntagnachmittag zum Frühstück vor dem Mir saß, hatte er Katja und die Zuckertüte mit ihrer Nummer vollständig vergessen. Stattdessen fragte er sich, ob die Sache mit Marja und ihm irgendeine Zukunft haben könnte. Bork hielt die Espressotasse und eine Zigarette in der rechten Hand Er konzentrierte sich auf die Glut an der Spitze seiner Zigarette.


Ein schmaler grauer Faden zog langsam durch das Gegenlicht der tief stehenden Sonne.