Der Anfang (November 1996)


Bei Gott, er hatte tatsächlich den Überblick verloren. War das nun der fünfte oder der sechste? Es gab nicht viele Läden in der Stadt, die ausreichend von diesem Whisky mit dem Namen einer Katze — aber das ist eine andere Geschichte — verkauften, damit man eine Chancen hatte, ihn zu trinken, bevor er verdarb. Hier jedoch gab es eine Frau, eine Barkeeperin, die den Einkäufer gut genug kannte, dafür zu sorgen, daß ihr Lieblingswhisky in das Sortiment aufgenommen wurde. Eigentlich mochte er diese Ecke der Stadt nicht besonders. Viele Touristen. Gegenüber die Ruine, die einmal das Zentrum der Avantgarde war und heute nur noch den Totentanz einer vergessenen Welt in ihren Mauern träumt. So im Sitzen ging es eigentlich, und mit einer Kombination Kaffee und Wasser sollte ein weiterer Whisky erlaubt sein. Es war lange her, daß er so frei in einer Bar gesessen hatte. Das letzte Mal hatte dann auch gleich das Schicksal unbarmherzig zugeschlagen — wir nennen alles Schicksal, das uns unbarmherzig erscheint, dabei sind wir es doch immer wieder selbst, die den Wagen steuern — in den Graben. Also: das einnehmendste Lächeln ins Gesicht gezaubert und das Sprachzentrum abgecheckt. Er hatte ihren Blick eingefangen und lenkte ihn mit tiefer Trauer auf sein leeres Glas. Ihr Lächeln zeigte Verstehen. »Und noch nen Kaffe’ und ein Glas Wasser dazu. Bitte.« Wieder lenkte er ihren Blick, diesmal auf den Wasserhahn. Er haßte es, für scheußliches Mineralwasser mit halbvergammelten Zitronenscheiben Geld zu bezahlen.


Einige Zeit konnte er sich mit den Zuckertüten und dem heißen Kaffee beschäftigen, doch dann mußte er wieder zurückkommen. Er war immer noch da. Da, wo er vor zwei oder drei Stunden begonnen hatte. Eigentlich war er jetzt sogar noch weiter entfernt als am Anfang.


Der Anfang war wie immer die Verkettung einer Reihe unglaublicher Zufälle. Es war eben jener 6. Juni — er hatte diesen ganzen Montag auch heute, nach so langer Zeit noch immer genau im Kopf —, jener Abend der ihn so stolz gemacht hatte — und so frei. Und der so viel Glück und Liebe im Gefolge gehabt hatte. Doch all das war nur die Haupthandlung zu der Nebenhandlung, die das Spiel so lange beherrschen sollte. Die ihn immer noch beherrschte. Eigentlich war seitdem erst ein einziger Tag vergangen — und dreieinhalb Jahre. Seine ganze aktuelle Wirklichkeit, hatte er an diesem Montag schon gewußt. Und heute war Dienstag. Aber der Sommer war vorbei.


Trotzdem war eine frühlingshafte Fröhlichkeit in ihm. Selbst der Whisky konnte das nicht überdecken. Damals war es genauso — einen kurzen Montagabend lang.


Er war zurückgekehrt in diese Bar, die er gerne sein Wohnzimmer nannte und die es in diesem Sommer tatsächlich werden sollte. Das erste Mal seit er sie kannte, saß sie auf der richtigen Seite des Tresens. Hatte Feierabend. Er auch — aber nicht von der Arbeit. Na klar, noch n Whiskey — von der Katze wußte er damals noch nichts. Nach Hause fahren? »Ok, aber ich muß mein Fahrrad mitnehmen.« Für ein bißchen Zärtlichkeit hätte er eine Elefantenherde in den Kofferraum gepackt und zum Nordpol gefahren. Auch das Fahrrad. Sie wohnte in der bescheuertsten Straße, die man sich denken kann, wenn man ein Mädchen nach Hause fährt. So ein Gründerzeitviertel, das der Bauaufsicht damals wohl durchgerutscht sein muß. Heute, wo links und rechts geparkt wird, ist der Weg so schmal, daß immer nur ein Auto Platz hat — wie soll man da ungestört knutschen? Darüber hatte sich natürlich keiner Gedanken gemacht — er schon.

Was für ein Tag also: Den Abend mit dem bei weitem schönsten Mädchen, das er jemals kannte, verbracht — ganz absichtlich ohne jeden Kontakt. Dann in völliger Überraschung die Frau fürs Leben verloren — und so: gerettet. Und schließlich die coolste Bedienung seiner Lieblingsbar im Auto geküßt — sehr vorsichtig zunächst.


Da war keine Gefahr. Sie erzählte gerne von ihrem Freund, der war Musiker in'ner Popband und viel unterwegs. Im Studio und auf Tour. Das war gut und sie mußte ja auch nachts arbeiten. Er nicht. Aber Alkohol war seine Passion in jener Zeit — noch heute — und er wußte seine Kräfte zu bündeln. Viele Monate war er nachts bei ihr und tags bei der Arbeit. Erst nach einem halben Jahr hatten sie das erste Mal nüchtern Sex miteinander (»nüchtern«, nicht »Sex«). Das war sogar noch besser. Dass er nebenbei, in der Haupthandlung, die größte Liebe seines Lebens getroffen und wieder verloren hatte, erschien ihm, wie der Film im Kino nebenan. Der Winter sah die beiden — nun von ihrem Freund erlöst — durch Nieselregen die Nordseeküste entlang streifen, Treibholz für den Kamin sammeln und alle Arten sinnlichen Vergnügens auskosten — zwischendurch fanden sie Zeit zu Essen und natürlich für ihren besten Freund: Jack. Sie erzählte Geschichten, die ihm heute nur noch als graue Schemen vorschweben: Von dem Gouverneur irgendeiner verkackten mexikanischen Provinz, der ihr 500 $ anbot, damit sie mit seinem Sohn schliefe — ein Geburtstagsgeschenk. Und von Heuschobern in der norddeutschen Endmoränenlandschaft, in denen sie ihre Unschuld verlor. Er war wirklich sehr verliebt in dieses kleine Biest — nur, daß er leider sehr genau wußte, daß es kein Spaß ist, in ein Biest verliebt zu sein. Und fast wie versehentlich sprach sie von Kindern und Häusern auf dem Land, von Glück und Liebe und Heimat, ruhigen Abenden auf der Veranda, nur gestört vom Lachen der Kinder und dem Bellen der Hunde — nein! keine Hunde, sie hasste Hunde. Ihre Worte wurden dann ironisch — und ihre Augen sehnsüchtig. Es war ein kalter Abend am Hafen dieser kleinen Stadt am nördlichen Ende der Insel, sie hatten viele Fischbrötchen und noch vielmehr Grog eingenommen. Der Westwind brachte eisigen Schneeregen und sie standen im Windschatten des verlassenen Zollhäuschens. Die Fähre hatte sich verspätet. Plötzlich wurde ihm die Tiefe seines Gefühls bewußt. Hatte er nicht eigentlich nur Spaß, Lust, Ablenkung gesucht? Und nun freute er sich über das Bild eines Hauses voller Kinder und einer schönen Frau, die klug genug war, ihr eigenes Leben zu leben — neben ihm. Einzelne Menschen, die gemeinsam ihre Stärke und Freude, ihre Hoffnung und ihre Angst, die ihre gegenseitige und je eigene Liebe sind, sein können. Als die Fähre endlich kam und sie beide so durchgefroren waren und betrunken, daß selbst der zollfreie Konsum sie nicht mehr verlocken konnte, war irgendetwas mit ihm geschehen. Eine Mauer war umgestoßen worden. Er konnte dieses Bild nicht mehr vergessen.

Vielleicht war es nur der Alkohol, der ihn, wie uns alle immer wieder, melancholisch werden ließ. Doch das war im nachhinein nicht mehr zu entscheiden. Und dann: was nützte der Verweis auf den Alkohol? Wenn er zur Normalität geworden war, dann war auch der durch ihn erzeugte Zustand: — die Normalität.

Irgendwie wurde der Winter langsam zu einer Art Frühling und ihre Pläne wurden komplizierter und konkreter. Dem Winter an der Nordsee sollte ein Frühsommer am Atlantik folgen. In dieser Hinsicht wurden Vorkehrungen getroffen — so, wie in anderer Hinsicht noch nie Vorkehrungen getroffen worden waren ...


Sie war dabei, sich sogar bei ihm zu Hause wohl zu fühlen — er hatte sich Mühe gegeben, die Reste seiner Wohnung an ihre praktischen und ästhetischen Bedürfnisse anzupassen. Die Freiheit war verloren, wie sie gewonnen war: schleichend und überraschend. Irgendwann kam er nachmittags nach Hause und fand sie in ihrer üblichen nach-dem-Aufstehen,-andere-Leute-würden-es-›Morgen‹-nennen-Positur in dem Pyjama-Oberteil, das er von seinem Vater geerbt hatte, auf der Fensterbank sitzen und traurig auf den Park blicken. Er kannte das, so war sie immer, wenn für sie ›Morgen‹ war und die Frage nach dem Sinn ihrer Kneipenexistenz ihr zu schaffen machte. Er wußte, daß er das ignorieren mußte, so schwer es ihm fiel. Reden — über sich selbst, ihr innerstes Ich reden — war nicht ihre Stärke, er konnte das akzeptieren, weil er es kannte, von sich selbst nur zu gut kannte. Also ignorierte er es auch jetzt. Im Bad sah er diese Utensilien auf der Waschmaschine liegen. Auch sie ignorierte er, wie er den Staub auf dem Boden und die Schicht von Kalk an den Wänden der Dusche ignorierte. Erst nach langer Zeit — ein oder zwei Minuten — sickerte in sein Bewußtsein, daß er diese Art Karton und dieses Plastikzeug und den Zettel daneben kannte. Während er sich die Hände wusch, versuchte er, ganz ruhig nachzudenken, aber kein Gedanke drang soweit in sein Bewusstsein vor, daß er neben dem Bild dieser Dinge auf seiner Waschmaschine Bedeutung gewinnen konnte. Mit klopfendem Herzen ging er zu ihr, setzte sich auf die andere Ecke der Fensterbank und versuchte ihren Blick zu fangen. Ihr Tee hatte schon grünliche Ringe an den Rand der französischen Milchkaffeeschale gesetzt, die Haut ihrer Wangen war gespannt wie von getrockneten Tränen, aber das einzige, was seine Aufmerksamkeit erregte, war: — daß sie unter diesem Pyjama-Oberteil nichts anhatte. Wie gerne hätte er seine Hand über den seidigen Stoff gleiten lassen, um das Wunder ihrer Brüste zu spüren, am unteren Saum die glatte, feste Haut ihrer Beine zu fühlen und sie wenig später dieses Wort sagen zu hören, das zum Begriff ihres Zusammenseins geworden war: »Mehr!« — Ihr leerer, auf den Park gerichteter Blick hielt ihn davon ab. Ihre Lippen kräuselten sich und ihr Kinn begann ganz leicht zu zittern. »Ich bin schwanger«, sagte sie leise, fast flüsternd.