Mittelmeerumrundung Teil 1 - Levante (April-Juni 1987)
Nachträgliches Vorwort nach oben
Jetzt sitz ich hier am Küchentisch und schreib auf‘nem teuren MacBook (Sorry, Marius!) und versuche zu verstehen, wie die Welt sich mit 20 angefühlt hat. Alles, was ich hier schreibe, beruht auf Erinnerungen, die in mehr als 30 Jahren zu einer Art Wirklichkeit geworden sind. Nur gelegentlich habe ich auf damalige Tagebuchaufzeichnungen und im Falle geographischer Unsicherheiten auf Google Maps und meine damaligen Landkarten zurückgegriffen. Hier also jetzt die wahre Geschichte:
Roadhouse Blues 1 nach oben
Tag 11, Sonntag
»Hey, wart mal!« … »Du bist das doch mit der alten BMW, oder?«. Ich bleibe kurz stehen, drehe mich um. An einem Tisch auf der Terrasse sitzt ein langer dünner Mann mit strähnigem Haar und blonden Bartstoppeln, er grinst mich an. Ich stehe vor einem kleinen Hotel-Restaurant direkt an der Kreuzung der beiden Haupt-Fernstraßen der europäischen Türkei. »Hast Du Hunger? Ich änder‘ das Menü schnell auf zwei Personen und bestell noch‘n Wein, ok?« Ich lächle, schüttele den Kopf, gehe aber trotzdem zum Tisch und sage »Danke, sehr gern.« Er steht auf, streckt mir die Hand hin und sagt »Ich heiße Jan, bin aus Offenbach und mit dem Laster da unterwegs.« Er deutet mit dem Kopf auf den Parkplatz zu einem großen silbrig-weißen Sattelschlepper. »Und wo willst Du hin? Dein Mopped sieht nicht nach Badeurlaub aus. Was großes?« Ich nicke und sage »Ja, was großes: einmal rund ums Mittelmeer.« Er nickt kurz. »Und wo geht’s zurück?« - »Algerien, Marokko, Spanien.« »Ah, die ganze Runde?!« Ich grinse zustimmend und bin froh, mal verstanden zu werden.
Er erzählt, dass er am Anfang immer wieder mal Leute unterwegs nach Indien oder Nepal getroffen hat, aber das sei nun vorbei. Er fährt seit 1976 mindestens zweimal im Jahr die Strecke Frankfurt-Baghdad und zurück mit seinem 40-Tonner. »Heute mal wieder ›Klimaanlagenelektronik‹.« Er malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft und grinst schief.
Ich muss an den Stiefvater eines Freundes denken, der für eine Hamburger Tiefbau-Firma im Irak Autobahnen gebaut hat »komisch nur, das die immer nur 2 km lang sind und in der Wüste anfangen und wieder aufhören«, so der Stiefvater damals.
»Naja, Elektronik ist es jedenfalls. Das haben die Österreicher mit Ihrem Röntgengerät an der yugoslawischen Grenze bestätigt. Ein Zolldokument für Bulgarien habe ich aber wieder nicht mitbekommen. In den Ostblock darf es nicht, aber für unseren Freund Saddâm ist es normal...« Ein Kellner kommt mit der Vorspeisenplatte, einem zweiten Gedeck und einer weiteren Flasche Weißwein. Jan schenkt mir ein, hebt sein Glas und sagt ›Auf die internationalen Geschäfte!‹. Jetzt musst Du aber was essen und von Deiner Tour erzählen, normal, oder?«. Der Wein ist überraschend gut und ich probiere ein paar der verschiedenen Pasten und gegrillten Gemüsestückchen. Mit einer gefüllten Olive in der Hand sage ich »Eigentlich hat Karl May Schuld.« Ich stecke die Olive in den Mund, nehme noch einen Schluck Wein. »Ich hab‘ die Kara-Ben-Nemsi-Bücher ein bisschen spät, erst mit 15, gelesen und sofort beschlossen, ›das will ich auch‹. Da eine Reise mit dem Pferd mir unpassend vorkam, war ein Motorrad die naheliegende Alternative. Ich habe also die letzten 4 Jahre in der Schule mit theoretischen Reisevorbereitungen verbracht, alles gelesen, was mir zum Thema in die Finger kam, vor anderthalb Jahren diese BMW gekauft und seitdem praktisch jede ihrer Schrauben mindestens einmal in der Hand gehabt.« Jan nickt anerkennend. »Um mit dem einfacheren Teil anzufangen, habe ich schon früh beschlossen, Kara Ben Nemsis Weg entgegengesetzt zu fahren: Yugoslawien, Griechenland, Türkei, Syrien, Jordanien, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, Spanien, Frankreich, nach Hause. Und letztes Jahr, als ich den 52-Liter-Tank endlich wirklich dicht bekommen hatte, hat Reagan seine Bomber nach Tripolis geschickt. Die libyschen Grenzen wurden geschlossen und ich hockte Stundenlang vor meinen Afrikakarten. Wenn Libyen zu ist, fahr ich halt außen rum, so mach ich‘s mit Libanon und Israel ja auch: in Ägypten den Nil hoch, statt am Mittelmeer lang, dann Sudan, Tschad, Nigeria, Niger, Algerien. Vielleicht gibt es sogar einen direkten Weg vom Tschad nach Niger, das hängt vom Wetter ab, wenn ich da ankomme.« - »Alter Schwede!« Jans Hand schwebt mit einem Stück Brot kurz vor seinem Mund. »Das ist ja ein Mörderding! Hast Du solche Touren schon mal gemacht? Wie alt bist Du, 19? Und alles ganz alleine?« - »20. Ja, alleine, da kann ich selbst entscheiden, was ich tun und lassen will, muss nix diskutieren, nur nachdenken und entscheiden. Und nee, Offroad kenne ich nur vom Truppenübungsplatz und aus der Kieskuhle, aber Motorradtouren mache ich seit ich 16 bin. Dreimal Südfrankreich, einmal Nordspanien.« Jan grinst. »Also doch Normal-Urlaub an der türkischen Riviera.« Er hat mich als Spinner abgestempelt.
»Quatsch! Morgen bin ich in Asien und in drei Wochen in Syrien, dann noch zwei Wochen bis Afrika und im September bin ich wieder zu Hause mit einer Mittelmeerumrundung im Ehrenregal. Ich schick Dir Kopien von den Stempeln in meinem Pass, wenn Du willst.« Jan ist noch nicht überzeugt. Trotzdem mag ich ihn irgendwie. Immerhin weiß er, wovon er spricht, woran er zweifelt. Vielleicht stürze ich mich aber einfach auch nur auf jeden, der überhaupt mit mir spricht – auf Deutsch.
Ostereier nach oben
Ich bin jetzt nicht mal zwei Wochen unterwegs – immer noch im mehr oder weniger zivilisierten Europa - und fühle mich schon einsam wie nach drei Monaten Wüste. Und der Rücken ist auch immer noch nicht wieder richtig gut. Vielleicht sind die Schmerzen in Schultern und Nacken doch nicht einfach nur Folge einer unbequemen, kalten Nacht in den Hügeln hinter Maribor. Eigentlich hatte der Nacken schon gezwickt als ich noch bei Georg auf dem Harley-Davidson-Berghof bei Berchtesgaden war, und genau genommen sogar schon in München auf dem unglaublich teuren Campingplatz. Offenbar war schon dort mein Kopf so voller unausgesprochener Dinge, Sorgen und Befürchtungen, dass die Spannung keinen anderen Weg als in die Muskulatur fand. Jedenfalls kann ich mich an diese Zeit in Süddeutschland schon jetzt fast nicht mehr richtig erinnern.
Tag 7, Mittwoch

Mi., 15. April 1987, Berchtesgarden - Maribor
Wirklich klar werden die Bilder erst wieder mit dem ersten Grenzübertritt nach Österreich, peinlich besorgt, mautpflichtige Straßen zu vermeiden, bin ich einen ganzen Tag lang auf mittleren und kleinen Landstraßen von Berchtesgarden bis Maribor gezuckelt. Dort nach einem einsamen und unbefriedigenden Abendessen auf Feldwegen in die Hügel gefahren und habe mir einen Schlafplatz mit Blick auf den Sonnenuntergang gesucht. Das mit dem Sonnenuntergang war keine gute Idee, die Hügelseite zu Sonnenaufgang wäre morgens wärmer gewesen. Aber an Schlaf war sowieso nicht zu denken. Jederzeit konnten irgendwelche – vielleicht gefährlichen - Leute auftauchen und die ganze Nacht über bellte irgendwo ein Hofhund, wenn einer aufhörte, fing woanders ein anderer an.
Tag 8, Donnerstag

Do., 16. April 1987, Maribor - Velika Plana
Als auf der Ostseite des Hügels schon die Sonne schien, lag ich noch frierend in meinem von Raureif überzogenen Schlafsack und versuchte den verkrampften Nacken vorsichtig wieder beweglich zu machen. An irgendeiner Tankstelle vor Zagreb habe ich dann einen Kaffee ergattert und bin auf den Autoput eingebogen. Immer mit den Horrorgeschichten von der tödlichsten Fernstraße Europas im Kopf. Tatsächlich erwies sich der Autoput als zügige Verbindung Richtung Südost. Mittags hatte ich ein kurzes Gespräch mit einem Reiserückkehrer aus Ägypten auf einer Yamaha-Enduro. Er frustrierte mich mit Geschichten von großen Problemen mit der Nasser-See-Fähre von Assuan nach Wadi Halfa im Sudan. Meine sowieso schon schlechte Stimmung verdüstert sich mehr und mehr. Ohne diese Fähre wäre Ägypten eine 1000 km lange Sackgasse. Am späten Nachmittag war ich bei Belgrad. Belgrad gab mir den Rest. Graue, schmutzige Stadt und das Wetter konnte mich auch nicht aufheitern. Die Ortsumgehung von Belgrad war fast eine richtige Autobahn, es gab sogar eine Autobahnraststätte mit Tankstelle. Heute musste ich was vernünftiges essen und einen richtigen Svhlafplatz finden, ein Motel, Campingplatz, irgend'was. Vor dem Restaurant parkten zwei Suzuki-Chopper mit deutschen Kennzeichen. Drinnen waren die beiden Fahrer schnell auszumachen. Ich holte mir ein Gulasch vom Buffett und setzte mich zu ihnen. Wolfgang und Thomas - oder wie Wolfgang sofort sagte ›Wowa und Tom‹. Die beiden beschimpfen sich liebevoll gegenseitig. Die üblichen Woher-Wohin-Fragen, ich hatte mir schon länger als einfache Beschreibung meines Mittelmeerprojektes die Antwort ›Ägypten auf dem Landweg und dann mal gucken‹ zurechtgelegt, was nun mit der offensichtlich problematischen Fährverbindung nach Sudan noch richtiger war. Der Plan der beiden war weniger ambitioniert, aber klarer: nach zehn Jahren mal wieder zusammen mit dem Motorrad nach Kaş, das an der türkischen Riviera gewissermaßen das alternative Antalya ist, touristisch geprägt, aber immer noch ein Fischerdorf. Wohnen wollten sie etwas westlich von Kaş auf ihrem und Wolfgang Niedeckens Stamm-Campingplatz, beim antiken Patara. Vorher mussten sie aber unbedingt noch einen Abstecher nach Assos machen. Wenn ich die wahre Türkei kennenlernen und nicht nur hindurch rasen wollte, musste ich alle diese Orte sehen, sagte Wowa. Alles das war besprochen, bevor wir aufgegessen hatten. Als Tom das Geschirr wegbrachte, kam er mit drei Flaschen Bier zurück. Schnell war ausgemacht, dass sie mir heute Abend einen guten Schlafplatz für uns drei zeigen würden. Nach dem Bier hatte keiner von uns mehr große Lust auf Kilometerfressen, so dass sie mich schon kurz hinter Belgrad vom Autoput weg Richtung Velika Plana lotsten, dort zu einem Bolzplatz bei einem großen Park. Wowa und Tom rollten ihre Isomatten aus. Ich bestand nach der Erfahrung der letzten Nacht darauf, mein Zelt aufzubauen. Wowa hatte von der Autobahnraststätte noch ein Sixpack mitgenommen, Tom fing an, einen Joint zu bauen. Wir saßen noch lange vor meinem Zelt und erzählten uns Reisegeschichten. Die beiden würden am nächsten Tag in Niš Richtung Bulgarien abbiegen, ich wollte über Skopje nach Griechenland, um vielleicht in Thessaloniki Creon, einen Bekannten aus Hannover zu treffen. Unsere Wege würden sich also morgen trennen, aber das Wiedersehen in Assos oder spätestens Kaş war fest vereinbart.
Tag 9, Freitag

Fr., 17. April 1987, Velika Plana - Evzoni
Am nächsten Morgen tat mein Nacken immer noch weh, aber immerhin hatte ich geschlafen. Während wir unsere Sachen aufpackten, erschien ein Roma-Mädchen und wollte eine Zigarette schnorren, kurz darauf eine ganze Fußballmannschaft von Roma-Teenagern. Schnell waren Wowas und Toms Marlboros zu Ende, ich hatte nur Samson-Tabak, den sie verschmähten. Die Roma zogen weiter, Wowa und Tom führten mich im Ortszentrum durch schmale Gassen zum Hintereingang eines Restaurants, Wowa kloppfte laut gegen die Tür, eine alte Dame erschien, die Wowa offenbar wiedererkannte und sich überzeugen ließ, uns ein ›serbisches Frühstück‹ zuzubereiten. Die Mengen an Grillfleisch mit scharfer Tomatensoße und Reis hätten für ein gutes deutsches Abendessen ausgereicht. Am Nachmittag erreichten wir Niš. Vor dem Abzweig nach Sofia stoppten wir auf einem Parkplatz, Wowa und Tom versuchten nochmals, mich zu dem kürzeren Weg durch Bulgarien zu überreden, bestanden aber jedenfalls darauf, dass wir uns in spätestens vier Tagen in Assos treffen müssten.

Fr., 17. März 1987, Vardartal
Am Abzweig winkten wir uns noch kurz zu, dann war ich wieder alleine unterwegs nach Thessaloniki. In Belgrad, in der Hauptstadt der Sozialistischen Föderativen Republik Yugoslawien, scherte sich niemand um Skopje, um Mazedonien, um Griechenland. Das Transit-Geschäft ging um die Türken, und die nahmen den kürzesten Weg über Bulgarien. Hinter Niš wurde die ›Europastraße‹ Richtung Thessaloniki und Athen zu einer gewöhnlichen südeuropäischen Landstraße, die trotzdem noch den prestigeträchtigen Namen Autoput führte. Hinter Skopje schlängelte sich die schmale Landstraße durch das Tal der Vardar. Bei einem Photostopp schmiss ich die BMW beim Aufbocken auf dem sandigen Randstreifen um, jetzt schon das dritte Mal: Nummer 1 war auf einer Raststätte vor München, Nummer 2 gestern Abend auf einem Feldweg kurz vor unserem Schlafplatz. Ich musste noch allerhand lernen vor Afrika. Der Versuch, die 300 Kilo von der Waagerechten wieder zurück in ihre korrekte Stellung zu bringen, scheiterte wie schon gestern Abend. Immerhin lief kein Benzin aus und ich beschloss, eine kurze Zigarettenpause zum Kräfte sammeln einzulegen. Bevor die Zigarette aufgeraucht war, hielt ein Wohnmobil aus Koblenz neben mir. Ein Hippie-Pärchen lief zu mir, die ersten Hippies, die ich unterwegs traf. Ich erklärte Ihnen, dass ich keinen Unfall hatte, das Motorrad nur im Stand umgekippt war. Zusammen gelang es, die BMW wieder auf die Räder zu stellen und zurück zum Asphalt zu schieben, dort bockte ich sie sicher auf. Ich bedankte mich, bot Zigaretten an und wir rauchten. Sie erzählten, dass sie auf dem Weg in ein kleines Dorf auf dem südlichen Peloponnes seien. Ich sagte nur, ich wolle nach Thessaloniki. Wir sahen uns den restlichen Nachmittag noch ein paar Mal, zuletzt kurz vor Sonnenuntergang an der Grenze nach Griechenland. In der ersten Ortschaft in Griechenland fand ich ein kleines Hotel mit Restaurant. Zimmer und Essen waren sehr preiswert, aber doch weit über meinem Budget. Ich versuchte, mit einer langen heißen Dusche Nacken und Schultern zu entspannen. Im Restaurant war Hochbetrieb. Einige Tische entfernt, aber nah genug, um jedes Wort zu verstehen, saßen drei deutsche Motorradpärchen. Ich wollte nur etwas essen und dann schnell ins Bett.
Tag 10, Samstag

Sa., 18. April 1987, Evzoni - Stavros
Am nächsten Tag schien die Sonne und ich machte mich auf nach Thessaloniki, die Adresse von Creon war unauffindbar. Mit viel Mühe organisierte ich mir griechisches Kleingeld und fand eine funktionierende Telefonzelle, niemand nahm ab.
Nachmittags war ich wieder auf dem Weg Richtung Osten, in den Außenbezirken von Thessaloniki stoppte ich kurz an einer Kreuzung, um die Karte auf die richtige Seite umzudrehen, nach weniger als einer Minute hielt ein griechischer Motorradpolizist neben mir, fragte, wo ich hinwollte und bestand darauf, bis zum Ortsausgang vor mir her zu fahren. Zwei Stunden später gab die Landstraße den Blick auf das Meer frei und in einer kleinen Hafenstadt mit dem höchst griechischen Namen Stavros fand ich ein sehr billiges Hotel. Abends nach der täglichen kleinen Motorradwartung (Öl-, Reifen-, Felgenkontrolle) aß ich am Hafen gegrillten Fisch, heute war der erste einigermaßen warme Tag der Reise. Die ganze Stadt schien in Festtagslaune zu sein.
Tag 11, Sonntag

So., 19. April 1987, Stavros – Keşan
Am nächsten Morgen bestand der Hotelwirt darauf, mir statt des Touristenpreises von 700 Drachmen (knapp 10 Mark), nur 650 zu berechnen, weil Motorradfahrer keine ›richtigen‹ Touristen seien. Danach trank ich am Hafen einen eisgekühlten Milchkaffee, noch immer waren die Straßen voller festlich gekleideter Familien, viele mit kleinen Kindern, alle in weißen Anzügen oder Kleidern. Im Restaurant von gestern Abend fragte ich, ob sie mir Brot verkaufen könnten, der Kellner schenkte mir ein ganzes großes Weißbrot. Als ich zurück zum Motorrad ging, legte eine alte Dame gerade zwei hartgekochte und rot gefärbte Eier auf die Alukoffer. Ostern! Natürlich. Ich war froh über die kleine Geste, machte ein Photo der Ostereier und verstaute sie zusammen mit dem Brot sicher in der Küchenbox.

Ostersonntag, 19. April 1987, Stavros
Am späten Nachmittag wollte die Straße mich in Richtung Norden, ins nördliche Evros, Richtung Bulagrien schicken, aber ich bemerkte den Fehler rechtzeitig. Die griechischen Straßenbauer wollten den Weg zum ehemaligen Kriegsgegner und noch immer gehassten NATO-Partner Türkei so unauffällig wie möglich halten. Statt die Straße geradeaus zu fahren, musste ich rechts abbiegen, um dem geraden Weg Richtung Istanbul zu folgen. Die griechische Ausreise verlief unspektakulär. Die griechischen Grenzpolizisten warnten mich noch vor den gefährlichen Türken und empfohlen, besser in den Süden Griechenlands zu fahren. Nach ein oder zwei Kilometern im Niemandsland empfing mich die Türkei mit einem protzigen Torbogen. Rechts und links verlief ein Drahtzaun. Die erste Kontrolle stellte nur sicher, dass ich über die nötigen Papiere verfügte, dann folgte eine Fahrt durch ein Wasserbecken – ich wusste nicht, ob zur Desinfektion oder um unter den Wagen versteckte ›Terroristen‹ aufzufinden. Für Motorräder war diese Wasserdurchfahrt nur lästig. Nach dem Betonbecken begann die eigentliche Einreiseprozedur. Von diversen Einreisen und Transitfahrten in die DDR geschult, ließ ich alles gelassen über mich ergehen, obwohl die mit Sturmgewehren bewaffneten Grenzsoldaten und die Anspannung bei Grenzern und Einreisenden eine Bedrohungsstimmung erzeugten, an die Marienborn oder Drewitz bei Weitem nicht heranreichen konnten – und hier befand ich mich immerhin an einer Staatsgrenze innerhalb der NATO. Meine Papiere waren selbstverständlich in Ordnung, das einzige kleine Problem tauchte auf, als ein Zöllner die Fahrgestellnummer meines Motorrads überprüfen wollte und die Nummer in der einbrechenden Dämmerung nicht finden konnte. Ich zeigte ihm die Stelle, hielt ein Papier darüber und pauste die Nummer mit einem Bleistift ab. Natürlich stimmte sie mit der Nummer in meinen Fahrzeugpapieren überein. Diverse Stempel wurden in meinen Pass gedrückt. Ich war in der Türkei, aber inzwischen war es vollständig dunkel, schon in Griechenland musste ich meine Uhr eine Stunde vorstellen. Und alle Bücher sagten, Regel Nr. 1 sei, niemals im Dunkeln zu fahren. Ich wollte nur noch die 30 km bis zur Kreuzung in Keşan fahren und morgen dort Richtung Assos abbiegen. Der Grenzübertritt hatte meine Stimmung stark angeschlagen und jetzt hörte die BMW nicht auf, Zicken zu machen, als wäre der Tank schon wieder leer oder die Zündung total verstellt, aber das musste bis Assos warten. Eigentlich fehlte jetzt nur noch ein kräftiger Regen.
Das Hotel direkt an der Kreuzung der beiden Fernstraßen war hell beleuchtet und hellte auch meine Stimmung wieder auf. Auf dem großen Parkplatz standen viele PKW, wenige LKW, und keine Motorräder. Nach dem Einchecken rief der Rezeptionist einen jungen Mann, der mich und das Motorrad durch ein großes Eisentor in den Hinterhof führte, das Tor wieder abschloss und mir dann half, die Sachen für eine Nacht in das Zimmer zu tragen. Zum Glück hatte ich für sehr wenig Geld bei der Ausreise aus Yugoslawien im Duty-Free-Shop eine Stange Lucky Strikes ›ohne‹ gekauft, eine Schachtel ging nun als Bakschisch an den freundlichen Helfer. Ich wusch mir den Dreck der Straße von den Händen und aus dem Gesicht und ging runter in das Restaurant. Das war jetzt die dritte Hotelübernachtung in Folge und ein drittes Restaurantessen wollte ich meinem Budget nicht zumuten, in der Essensbox hatte ich noch Brot von heute Morgen und eine Dose Corned Beef aus dem Notvorrat. Auf dem Weg zum Motorrad hielt ich kurz auf der Terrasse und automatisch wurde mir ein Tee gebracht. Ich rauchte eine Lucky Strike und trank vorsichtig den sehr heißen Tee. Auf dem Weg zurück von der Terrasse ins Hotel spricht Jan mich an.
Roadhouse Blues 2 nach oben
Tag 11, Sonntag
Jan hatte inzwischen von seinen eigenen Reise-Träumen erzählt. Er wollte nach Nepal fahren. 1974 hatte er es mit einem zum Wohnmobil ausgebauten Hanomag-Allrad-LKW bis zur türkisch-iranischen Grenze bei Van geschafft, wegen wochenlanger Verzögerungen bei der Einreise, weil sich die iranischen Militärs nicht einigen konnten, ob sein Hanomag ein Militärfahrzeug, also verboten, oder zivil, also erlaubt sei, hatte er das Zeitfenster für die Durchquerung Afghanistans vor Wintereinbruch verpasst und musste umkehren. Als er das nächste Mal genug Geld und Zeit für die Reise hatte, war das Vorspiel zur islamischen Revolution schon im Gange. So blieb er bei seinem Übergangsjob als Fernfahrer und riss zwei- bis dreimal im Jahr die 9.000 km nach Baghdad und zurück ab. In seiner Firma gilt er inzwischen als ausgemachter Orientexperte und natürlich kennt er die Strecke in- und auswendig - oder wie Jan grinsend sagt ›im Schlaf, normal‹. Er weiß, wo es das beste Essen und die besten Schlafplätze gibt, wo die türkische Polizei reguläre und die kurdische Miliz irreguläre Kontrollposten hat, wen man bestechen kann und bei wem man es besser nicht versucht. Und er kann all dieses Wissen in spannenden und lustigen Geschichten vermitteln - wahrscheinlich ebenfalls Auswirkung seiner Orienterfahrung. Im Scherz sage ich »Du solltest Seminare geben.« - »Normal. Mach ich doch schon längst!« Waren es am Anfang kurze Briefings für Kollegen in seiner Firma, sind es inzwischen halbstündige Referate für Spediteure in ganz Nordwesteuropa. »Aber da darf ich natürlich nicht die Wahrheit sagen. Alles muss sich hübsch legal anhören - und politisch normal.« Über das türkische Militär zu schimpfen und die kurdische PKK zu loben, habe ihm sein Chef nach dem ersten Referat strikt verboten. Einer der anwesenden Spediteure sei türkischstämmig gewesen und habe sich hinterher wütend über die kommunistische, anti-türkische Propaganda beschwert, sogar gedroht, das türkische Konsulat zu verständigen. »Das hätte mich fast meinen Job, und meinen Chef den Kontrakt gekostet.
Aber ich wollte mehr über die Osttürkei und den Irak wissen. Nur schweren Herzens hatte ich Mossul und Baghdad aus Zeitgründen und wegen des Iran-Irak-Krieges von meiner Route gestrichen, spielte immer noch mit der Option, in Syrien einen Abstecher in die viele tausend Jahre alte Wüstenstadt Palmyra zu machen.
»Weißt Du, normal: der Nordirak ist eigentlich genau wie die Südosttürkei, nur die Uniformen haben eine andere Farbe und die Kurden sind entspannter. Und ab Mossul sind die Straßen besser. Wenn Saddâms Geheimpolizei die Straße nicht gerade für eine politische Razzia gesperrt hat, ist die M1 besser als die meisten deutschen Autobahnen, und hat kein Speedlimit, normal, oder?. 120 brummt meine Biene da locker. Ist halt normal langweilig, alles braun und gelb, kein Baum, und immer geradeaus. Die einzige Abwechslung sind die Wracks am Straßenrand von Kollegen, die eingepennt sind. Haha. Muss man halt wachbleiben - normal! Aber das haste bei Frankfurt-Hamburg auch, nur dass da der Schrott am nächsten Tag weggeräumt ist. Und sie dich vielleicht noch halblebendig in ein Krankenhaus schaffen. Das kannste im Irak natürlich vergessen. Bevor sich die Cops da um den Fahrer kümmern, wird erstmal die Ladung gefilzt, ob irgendwas wertvolles dabei ist. Seitdem die Ayatollahs diesen Winter ihre neue Offensive im Süden gestartet haben, ist die Stimmung in Baghdad ein bisschen angespannter als sonst. Aber vom Krieg habe ich in den letzten sieben Jahren auf meiner Route noch nix mitgekriegt.« Ich denke an die erste Etappe von Hannover nach Wiesbaden, ich war nach einem Tag voller Reisevorbereitungen abends auf die Autobahn gefahren und kurz vor Frankfurt so müde, dass ich halb schlief und vor mir auf der Autobahn ein extrem langsames Moped halluzinierte und eine Vollbremsung hinlegte. Der VW-Bus hinter mir konnte eben noch ausweichen. Morgens um halb Neun war ich dann mit frischen Brötchen heil in Wiesbaden bei meinem Freund Chrischi.
Jans erste Flasche Wein war schon längst leer und unsere gemeinsame zweite inzwischen auch schon fast. Aber wir hatten gut und reichlich gegessen. Nach den Vorspeisen kam eine große Messingplatte mit verschiedenen gegrillten Fleischstücken. »Alles da, außer Nackensteak.« sagte Jan fröhlich. Diese Grillplatte war dem ›serbischen Frühstück‹ von neulich ziemlich ähnlich, aber natürlich ›halâl‹ und etwa die doppelte Menge pro Person. »Wie kommste denn da hin von hier aus?« - »Normal: Istanbul, Ankara, Adana, dann nach Kurdistan, die syrische Grenze lang und hinter Cizîr rüber in den Irak.« - »Ich fahr morgen runter nach Çanakkale, genauer nach Assos. Vielleicht treffen wir uns ja zufällig in Adana, da komm ich eh durch nach Antakya.« - »Glaub ich nicht. Wenn es in der Botschaft in Ankara keinen Stress gibt, bin ich Übermorgen an Adana schon vorbei, bin für Übermorgen bei meinen kurdischen Freunden in Nurdaği zum Abendessen und Übernachten angemeldet.« - »Mann, Du hast es ja eilig.« - »Klar, bin ja nicht im Urlaub, sondern bei der Arbeit.« Der Kellner erscheint und fragt etwas auf Türkisch. Jan sagt »Yok Çay! Mann, dieses ›Çay hier, Çay da‹ geht mir so auf die Eier. Die können so guten Mokka machen und trinken dauernd ihre Teeplörre. Iki Kahve, lüftfen.« Für mich hat der türkische Tee noch den Reiz des exotisch Fremden und ich habe gelernt, es gehöre zum Reisen dazu, sich den örtlichen Gewohnheiten anzupassen. Aber Jan ist eben kein Tourist und so passe ich mich seinen Gewohnheiten an. Ein anderer Kellner erscheint mit zwei kleinen dünnwandigen weißen Porzellantassen und einem Tellerchen mit Zuckerwürfeln. Ich muss noch lernen, dass unten in der Tasse Kaffeesatz ist, und man vorsichtig bis zum Satz trinken muss. Als der Kellner die leergetrunkenen Tassen nach wenigen Minuten abräumt, verstehe ich den Sinn der Frage: »Raki veya Konyak?« - »Was meinst Du?« fragt Jan. »Da wir schon Kaffee hatten, sollten wir auch Congnac nehmen. Ach, was solls! Bir Raki küçük, lütfen. Ein kleiner Raki sollte gehen, oder?« Wieder der erste Kellner, er stellt eine Karaffe Wasser auf den Tisch und eine Viertel-Liter-Flasche Raki mit Kronenkorken – klein eben. »Ach, das liebe ich.« Jan gießt Wasser in sein Glas und tröpfelt liebevoll den Raki dazu, bis sich die Flüssigkeit durchgehend eingetrübt hat. Das Glas schiebt er auf meine Seite des Tischs und wiederholt die Prozedur für sich selbst. Wir sind inzwischen die letzten Gäste auf der Terrasse und ich überlege, nun wirklich mal aufs Zimmer zu gehen und zu schlafen, als Jan mich anzischt und auf das einen guten Meter entfernte Terrassengeländer deutet. Ein daumengroßer brauner Skorpion läuft langsam das Geländer entlang. »Sag nix, sonst schlagen sie ihn tot.« Ich versuche, den Skorpion so unauffällig wie möglich im Auge zu behalten. Ich weiß, dass Skorpione in diesem Teil der Welt nicht gefährlicher sind als unsere heimischen Wespen, aber ich habe außer im Fernsehen noch nie einen gesehen. Ich wünsche mir, er würde irgendeine Beute finden und sie hier vor uns mit seinem Stachel erlegen. »Du weißt, was das einzig wirklich lebensgefährliche Tier zwischen Arktis und Sahara ist?« - »Wahrscheinlich der Mensch« sage ich. Jan lacht laut auf. »Du kennst Dich aus!« - »Ich hab' meine Hausaufgaben gemacht. Jetzt muss ich die Theorie nur noch umsetzen.« - »Das wird schon.« Jan hebt sein Glas und wir stoßen an. Die Kellner scharwenzeln unruhig um uns herum, räumen auf, einer hat angefangen Essensreste, Servietten und Zigarettenkippen von der Terrasse auf den Parkplatz zu fegen. »Ich glaube, wir müssen gehen.« Jan steht auf, trinkt sein Glas im Stehen aus. Er reicht mir die Hand, ich schlage ein. »Danke für den wahnsinnig interessanten Abend. Und das Essen.« - »Oh nein. Ich hab zu danken. Wann trifft so‘n alter Brummbär wie ich schon mal ‘n jungen Menschen, der bekloppte Ziele ernsthaft verfolgt.« Jan zeigt dem Kellner den Schlüsselanhänger seines Zimmers mit der großen Messingzahl für die Rechnung und drückt ihm ein paar Scheine Trinkgeld in die Hand. Ich setze mich wieder, trinke langsam den restlichen Raki. Ohne den verspannten Nacken, der inzwischen gar nicht mehr wehtut, wäre ich viel schneller gewesen, hätte Wowa und Tom nie getroffen und auch Jan nicht, wäre durch Keşan hindurchgefahren, ohne Idee, was ich verpasse. Hätte mich in der Millionenstadt Istanbul nach Unterkunft und Essen umsehen müssen, hätte versucht, dort irgendwas besonderes zu erleben ohne zu wissen, dass ich am Besonderen gerade blind vorbeigefahren bin, wäre noch viel einsamer als ich vorhin dachte. Alleine reisen ist das Gegenteil von einsam reisen, wenn man Augen und Ohren offen hält. Und bereit ist für Neues. Für heute war ich erstmal vor allem glücklich, dass ich nach so vielen Jahren Vorbereitung die Kurve gekriegt hatte loszufahren und, dass alleine Reisen sich als richtige und gute Entscheidung erwiesen hatte. Diese Kreuzung in der europäischen Türkei ist zu meinem Tor zum Orient geworden und dem eigentlichen Beginn meiner Reise.
Auch ich zeige dem Kellner meinen Schlüsselanhänger, aber der winkt nur ab und sagt »Jan arkadaş, tamam.« und irgendetwas mit ›Tsch‹ und ›Ü‹, das wahrscheinlich Gute Nacht heißt.

Mo., 20. April 1987, Keşan - Assos
Als ich am nächsten Morgen in meinen schweren Stiefeln zum Frühstückstee und -yoghurt auf die Terrasse schlurfe, ist Jans LKW schon nicht mehr auf dem Parkplatz. Einer der Kellner von gestern Abend sagt »Jan Baghdad.« und zeigt Richtung Osten. Ich sehe mir die Karte der Westtürkei an und entscheide mich, die Küstenstraße bis Kilitbahir und dann die Fähre nach Çanakkale zu nehmen. Von dort ist es nur noch eine Stunde bis zu meinem Treffpunkt mit Wowa und Tom. Vor dem Losfahren wechsele ich noch schnell die Zündkerzen.
Südlich von Keşan fahre ich durch eine hügelige Landschaft, die ebenso gut in Spanien oder Südfrankreich liegen könnte. Die selbe mediterrane Vegetation, die selben kleinen Dörfer mit weiß getünchten Häusern. Die BMW läuft immer noch nicht wirklich rund. Spuckt und bockt, die Zündkerzen waren‘s also nicht. Ich bessere mein Türkisch auf, indem ich versuche die Ortsnamen und überhaupt alle Schilder mit Schrift laut zu lesen und zu übersetzen. Bisher habe ich aber nur gelernt, dass ›Köy‹ Dorf heißt und ›Nüfus‹ offenbar Einwohnerzahl. Hinter Kavakköy kommt das Meer wieder in Sicht. Einige Kilometer fahre ich die Nordwestküste der Dardanellen entlang, irgendwo hier hat eine der verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs zwischen den Truppen des osmanischen Reichs und des königlich australisch-neuseeländischen Armee-Corps stattgefunden. Immer wieder weisen Schilder nach rechts zu einem ›ANZAC War Cemetery‹ oder einem ›ANZAC Memorial‹. Links ist der asiatische Teil der Türkei zu sehen. Im Hafen der mittelalterlichen Festungsstadt Kilitbahir schiffe ich mich auf die Fähre nach Çanakkale ein. Das Boot ist sehr klein, gerade genug Platz für vielleicht sechs PKW. Heute sind außer mir nur zwei Kleinbusse und ein LKW auf dem Weg nach Asien.

Mo., 20. April 1987, Fähre von Kilitbahir nach Çanakkale (Europa-Asien)
Çanakkale ist eine kleine geschäftige Stadt. Der Hafenbereich ist zugleich Busbahnhof. Asien empfängt mich mit einem Gewimmel von Menschen auf einem staubigen grauen Betonplatz und wie angeknipst ist es plötzlich richtig warm. In den Vororten dominieren halb fertig gebaute kleine Häuser, Erdgeschoss und manchmal erste Etage sind fertig, aber aus dem Flachdach ragen bereits die Stützen für das nächste Geschoss, das bald – oder nie – weiter gebaut wird, später erklärt mir Wowa, dass für noch nicht vollständig fertiggestellte Häuser keine Steuer gezahlt werden muss, die ewigen Baustellen also auch finanzielle Gründe haben.
Am Ortsausgang tanke ich zum ersten Mal in der Türkei. Selbstbedienung ist streng verboten, oder jedenfalls nicht erwünscht, wenn ich den aufgeregt heranlaufenden Tankwart richtig verstehe. Ich begnüge mich damit, den Tankrucksack wegzuklappen und freue mich an den erstaunten Ausrufen des Tankwarts, als der Tank nach 30 Litern noch lange nicht voll ist. ›Hamdulillah‹ hätte Hadschi Halef Omar wohl gerufen. Der Tankwart sagt vermutlich etwas ähnliches, das ich aber nicht verstehe. Am Ende habe ich jedenfalls wieder Benzin für einige Hundert Kilometer und meine Geldbörse ist nur wenig dünner geworden. Obwohl der Betrag in türkischen Lira erschreckend hoch ist, habe ich umgerechnet nicht mehr bezahlt als beim Volltanken des originalen 22-Liter-Tanks in Deutschland. Und doch war das wahrscheinlich das teuerste Benzin der nächsten drei oder vier Monate. Die nächsten Kilometer auf der Landstraße verbringe ich damit, den Motorlauf zu beobachten und den Benzinverbrauch der letzten Tage im Kopf auszurechnen, bleibe in meinen Berechnungen aber schon bald stecken als das Meer wieder in Sicht kommt. Das Weiße Meer, wie das Mittelmeer im Gegensatz zum Schwarzen in der Türkei genannt wird, macht seinem Namen heute wirklich alle Ehre. Gefühlt kann man von hier bis Athen gucken, tatsächlich natürlich nicht. Und so bin ich etwas traurig als die Straße sich von der Küste abwendet und nach Südsüdost in's Landesinnere abbiegt. Statt Mittelmeer liegt rechts von mir jetzt das antike Troja, Ausgrabungsstätten sind aber nicht mein Hauptanliegen bei dieser Reise. Bei der Vorbereitung der Reise tauchten immer wieder große Namen antiker Hochkulturen auf. Dass ich jetzt auf dem Weg ins antike Assos bin, liegt nur an Wowa und Tom nicht an Aristoteles oder Alexander dem Großen. Kaum eine Stunde später passiere ich das Ortsschild von Ayvaçik. Wowa hatte mir eine genaue Wegbeschreibung mitgegeben. Die Fernstraße beschreibt in Höhe der Ortsmitte eine langgezogene Linkskurve, hier muss ich halbrechts auf die Landstraße Richtung Behramkale abbiegen und dieser folgen. Nach zwanzig Minuten auf der einspurigen Landstraße kommen links die ersten Häuser des heutigen Dorfes Behramkale in Sicht. Die Straße führt zwischen den Häusern des Dorfes und den Grabungsstätten des antiken Assos hindurch. Schließlich weist an einer Kreuzung ein Schild nach links Richtung ›Liman‹, dem Hafen des antiken Assos und des modernen Behramkale. Zwei weitläufige Kehren führen hinab zum Meer.
Nach wenigen Hundert Metern auf der Küstenstraße liegt das von Wowa beschriebene Hotel vor mir. Wowa und Tom sitzen vor zwei Bier auf der Terrasse vor dem Hotel. Als sie mich erkennen, winkt Wowa kurz und geht zur Rezeption, um dem Chef die Ankunft des angekündigten Gastes zu melden. Tom kommt mit breitem Grinsen auf mich zu. »Du bist ja überpünktlich! Wir haben dich eigentlich erst morgen erwartet« Er umarmt mich und klopft mir auf den Rücken. »Thessaloniki war schneller als gedacht. Hab den Bekannten aus Hannover nicht gefunden.« Wowa erscheint mit einem Jungen, der das Holztor eines umzäunten Bereichs neben dem Hotel aufschließt und mich samt Motorrad hineinwinkt. Die beiden Intruder von Wowa und Tom parken dort schon. Ich finde eine fast ebene Stelle mit hartem Untergrund, wo ich die schwere BMW sicher aufbocken kann. Auch Wowa begrüßt mich herzlich. Wowa und Tom reden durcheinander, dann höre ich Tom die entscheidende Frage stellen: »Erst abpacken oder erstmal Bier?« - »Bier« sage ich.
Wir gehen zur Terrasse, stoßen nach wenigen Minuten mit kleinen Flaschen sehr kalten Efes‘ an. Beide wollen die Geschichten der letzten paar Hundert Kilometer hören. »Nicht viel passiert, bin durch Griechenland hergefahren.« - »Ahh! Ein Norddeutscher, jedes Wort ist eins zu viel.« Wowa schüttelt den Kopf. »Wir haben Dir ein Zimmer reserviert, aber das wird erst morgen frei. Heute Nacht kannst Du oben auf dem Dach neben dem Wäscheraum schlafen, eigentlich nur ein Holzverschlag, aber ok und umsonst.« Ich nicke. »Wenn wir ausgetrunken haben, tragen wir dein Zeug hoch und ich zeig‘ Dir alles.« - »Klingt super!« Ich genieße die Aussicht auf einige ruhige Tage zusammen mit den beiden herzlichen kölschen Jungs. Und gerade jetzt genieße ich, dass ich mich für heute um nichts mehr kümmern muss, keinen Schlafplatz suchen, keine Entscheidung über das Abendessen treffen, keine Pläne für morgen machen. Zum ersten Mal seit Wochen, fühle ich mich wirklich entspannt. Das scheint man mir anzusehen. »Geht’s Dir gut?« Tom verzieht seinen großen Mund zu seinem typischen breiten Tom-Grinsen. »Besser als seit langem.« - »Dann lass uns deinen Krempel hochtragen, dass wir Feierabend machen können.« Wowa kümmert sich um die nötigen Schlüssel, Tom steht auf, winkt mir, ihm zu folgen, und geht zu unserem Motorrad-Gehege. Ich trenne das Oberteil des Tankrucksacks, in dem mein wichtiges Gepäck ist, vom Werkzeugfach und ziehe den Klamotten- und Waschzeugbeutel aus einer der Aluboxen. »Du brauchst Isomatte und Schlafsack«, sagt Tom. Wir tragen alles zurück zum Hotel. Wowa wartet am Nebeneingang zum Treppenhaus. Es geht hoch zum zweiten Geschoss, dass allerdings wie üblich bisher nur ein Flachdach mit rundherum führendem Mäuerchen ist. Neben dem Treppenhaus steht ein ca. 4 mal 4 Meter großer Holzverschlag, der mittig geteilt ist. Die erste Tür führt in den Wäscheraum, die zweite zu meinem ›Zimmer‹. Am anderen Ende der Dachterrasse steht ein großer roher Holztisch mit zwei langen Bänken und ein paar Stühlen. Meistens wird das Dach offenbar zum Trocknen von Wäsche genutzt. Überall sind kreuz und quer rote Wäscheleinen gespannt, auf einigen hängen noch Bettwäsche und Handtücher. Ich rolle die Isomatte in meinem Kämmerchen aus, packe den Schlafsack aus, drehe ihn von innen nach außen und hänge ihn zum Lüften auf eine der Leinen. »Wir essen heute hier oben. Is' Fisch ok für Dich?« Wowa hat alles schon geplant. »Ich hol' mal noch Bier.« Tom verschwindet die Treppe 'runter. Ich setze mich in der Nähe des Tisches auf den Boden, lehne mich an das Mäuerchen und erzähle Wowa von dem LKW mit Klimaanlagenelektronik für den Irak und dem Grenzübertritt in die Türkei. »Ja, die Jandarma machen einen gefährlichen Eindruck, die meisten sind aber Wehrpflichtige, noch halbe Kinder. Die überspielen nur ihre eigene Angst. Aber stimmt schon, die Grenze ist hart für europäische Augen.« Wowa steht am Mäuerchen an der Meerseite des Hotels »Guck mal, da steht der Feind.«

Mo., 20. April 1988, Wachturm in Assos
Ich stelle mich neben Wowa und gucke mit ihm hinaus auf‘s Meer. Wenige Kilometer entfernt blinken die Lichter einer Insel. »Lesbos, Griechenland. Und guck mal da rechts.« Ein paar Hundert Meter rechts an der letzten Kehre, die zum Hafen herabführt, sieht man im Gegenlicht der untergehenden Sonne einen Wachturm. »Jandarma. Die passen auf, dass der Grieche nicht rüberkommt – und Drogenschmuggler die saubere Türkei nicht verseuchen. Mit Drogen verstehen sie hier keinen Spaß, schon für einen Joint kannste einfahren, und mit mehr oder härterem kann es sein, dass Du nie wieder rauskommst. Trotzdem kiffen hier alle wie die Holländer.« Wie zur Bestätigung kommt Tom mit dem Bier zurück, setzt sich neben Wowa auf die Bank und fängt an, einen Joint zu bauen. »Hast Du ›Midnight Express‹ gesehen?« Wowa spricht mit mir, guckt aber Tom beim Bauen zu. »Nee, hab ich nicht.« - »Besser. Wir haben den vor zehn Jahren oder so zusammen im Kino gesehen und waren danach so paranoid, dass wir eigentlich gar nicht mehr in die Türkei wollten.« - »Wieso waren?! Wowa, Du bist doch immer noch total paranoid wegen Dope hier. Ich musste das gute holländische in Bulgarien vergraben und wir haben bei Freunden (Tom malt Anführungszeichen in die Luft) hier neues gekauft. Hahaha, halber Preis, aber auch nur halbe Qualität.« In diesem Moment erscheint der Junge von vorhin auf der Dachterrasse und spricht zu Wowa, ich verstehe Passaport. Wowa sagt etwas auf Türkisch und der Junge verschwindet wieder. »Du musst noch runter zur Rezeption und Dich eintragen. Der Chef hier bekommt Riesenärger, wenn nicht alle Gäste registriert sind, nimm Deinen Pass mit, damit er alles überprüfen kann. Aber nimm ihn wieder mit, ich hab in der Türkei schon die verrücktesten Sachen gesehen. Ein deutscher Pass ist viel Geld wert. Mach Dir keine Sorgen! Assos ist sicher, wir fahren hier schon seit fast 20 Jahren her, das sind hier Freunde.« Ich gehe runter zur Rezeption und sehe dem dicken Mann in dem zu kleinen bunten Hemd dabei zu, wie er die entscheidenden Daten von meinem Pass in ein sehr großes Querformatbuch mit vielen Spalten überträgt, dann fragt er noch nach ›Plaka Motosiklet‹, offenbar dem Kennzeichen meines Motorrads. «Ich schreibe das Kennzeichen auf einen kleinen Zettel, den er mir auf den Tresen legt. »Tamam.« Er nickt zufrieden. Ich stecke meinen Pass wieder in die Brieftasche und will zurück zur Dachterrasse, vor der Tür treffe ich auf Tom. »Wowa bestellt unser Essen. Willste Bier oder Wein?« - »Wein, ich hatte gestern in Keşan einen ziemlich guten weißen.« - »Ok, ich sag Bescheid. Geh ruhig schon vor, ich komm‘ gleich.« Auf der Dachterrasse setze ich mich an den Tisch und breite die Türkei-Karte vor mir aus. Nach einem kurzen Blick zurück auf die heutige Strecke, suche ich Kaş an der Südküste. Grob überschlagen 700 km südöstlich von hier, leider führt kein vernünftiger Weg an der Küste entlang, sondern immer mindestens einige Dutzend Kilometer im Inland. Tom kommt mit dem Wein und drei Gläsern, er schenkt den Wein ein und guckt über meine Schulter auf die Karte. Sein Finger tippt auf Kaş und fährt westlich von Kas die Küste hin und her. »Und hier ist Patara, wo unser Campingplatz ist.« Er tippt auf eine Stelle, wo die Karte wie eine Flussmündung aussieht, aber keinen entsprechenden Fluss zeigt. »Wenn Du da wirklich hin willst, treffen wir uns am besten in Kaş. Das ›Tal der Kröten‹ ist schwer zu finden. Wir sind da damals eher aus Versehen gelandet.« Jetzt kommt auch Wowa zurück auf die Dachterrasse. »Wowa, Gerd kommt uns in Kaş noch mal besuchen.« - »Prima! Sag ich doch, dass man sich Zeit lassen muss für die Türkei.« Wowa ist ehrlich froh, dass wir uns noch ein zweites Mal treffen - und scheinbar auch etwas stolz, dass ich seinem ursprünglichen Rat folgen und ihre Lieblingsplätze in der Türkei besuchen will. »Räumt die Karte weg, das Essen kommt gleich.«
Ich falte die Karte wieder ordentlich zusammen und tatsächlich erscheint nach wenigen Minuten der Junge von heute Nachmittag zusammen mit einem Mann in Kellnermontur. Der Junge platziert Teller, Besteck und Servietten, der Kellner stellt einen Brotkorb, eine Schüssel mit Salat und eine große Platte mit gegrillten Fischen und Meeresfrüchten auf den Tisch. Wowa sagt »Wunderbar!« und etwas auf Türkisch. Junge und Kellner lächeln, deuten eine Verbeugung an und ziehen sich schweigend zurück. Wowa verteilt Brot und Salat auf unsere Teller. Tom füllt unsere Gläser nochmals. »Auf die Türkei und Zufallsbekanntschaften!« Tom hebt sein Glas und wir stoßen alle drei an. Es gibt ein Dutzend kleiner Sardinen und drei etwas größere flache Fische, die ich für Doraden halte. Außerdem einige gegrillte Mini-Tintenfische. Zwischen den Fischen sind Zitronenspalten und eine weiße Knoblauch-Yoghurt-Sauce verteilt. Ich gabele einen der Tintenfische auf , tunke ihn in die Knoblausauce und stecke ihn in den Mund. »Köstlich!« Wowa und Tom haben je eine Sardine auf ihrem Teller, tröpfeln Zitrone darüber, schneiden die Schwänze ab, nehmen die Fische mit den Fingern am Kopf und stecken sie ganz in den Munde, dann ziehen sie die Gräten an den Köpfen wieder aus dem Mund. Ich filetiere währenddessen eine der Doraden. Die Fische sind perfekt gegrillt. Die Haut ist knusprig, das Fleisch saftig und löst sich fast von selbst von den Gräten. »Du willst also nach Kaş?« - »Wenns da auch so‘n Fisch gibt, auf jeden Fall.« »Haha! Mindestens.« Wowa deutet über das Mäuerchen Richtung Lesbos. »Wo’s Meer gibt, gibt’s Fisch. Logisch. Am besten wir treffen uns in Kaş in der Mavi-Bar, der Campingplatz ist schwer zu finden.« - »Ja, hat Tom schon gesagt. Ab wann seit ihr denn da?« - Oho, der junge Mann hat‘s immer noch eilig.« - »Im Gegenteil, will euch nur nicht verpassen.« Das stimmt allerdings nur halb. Tatsächlich kann ich mir zu viele Urlaubstage nicht leisten. Den Hochsommer in Südägypten und die Regenzeit am Tchadsee muss ich auf jeden Fall vermeiden. Außerdem habe ich Jans abfälligen Spruch vom Badeurlaub an der türkischen Riviera noch in den Ohren. Schließlich bin ich nicht im Urlaub, sondern auf einer Reise. »Wir machen morgen einen Ausflug nach Tevfikiye, wollen uns Troja noch mal angucken. Übermorgen fahren wir nach Kaş los, aber durch‘s Inland, übernachten in Pamukkale und liegen abends in einer Felsbadewanne mit warmem Salzwasser.« - »Und von da fahrt ihr nach Kaş?« - »Genau, wir sind dann Donnerstag in Patara und können uns Freitagnachmittag in der Mavi-Bar in Kaş treffen.« - »Hat Tom schon gesagt. Freitag passt gut. Wo ist denn diese Mavi-Bar?« - »Direkt am Hafen. Kannst'e gar nicht verfehlen.« Ich habe also noch zwei oder drei ganze Tage hier in Assos, kann entspannen und mich um die BMW kümmern, Luftfilter, Vergaser, Zündung und Ventile sind eigentlich schon seit Thessaloniki fällig. Mit dem großen Tank ist alles etwas komplizierter geworden, weil er den Zugang zu großen Teilen des Motors blockiert. Morgen muss ich versuchen, die Benzinhahnen zu kontrollieren, da scheint die Normal- und Reservestellung vertauscht zu sein und die Zündung muss ich einstellen, für das Wechseln des Hinterreifens habe ich dann noch Mittwoch und Donnerstag. Während ich über die fälligen Wartungsarbeiten nachdenke, kommt der Kellner wieder mit einem Tablett mit Tee und Baklava. Wowa bestellt dazu noch Raki. Wir lassen uns die kleinen klebrig süßen Blätterteigteilchen schmecken und schlürfen dazu den heißen Tee. Der Kellner kommt zurück, stellt eine Halbliter-Flasche Raki, eine Wasserkaraffe und drei Gläser auf den Tisch. Die leeren Teegläser räumt er ab. Als er weg ist, baut Tom schon wieder einen Joint. Ich nehme mir erstmal ein Glas pures Wasser. Wowa bereitet für sich und Tom den Raki vor. Ich gieße einen Schwung Raki in mein halbleeres Wasserglas. Wir stoßen noch mal an.
Wir plaudern noch ein bisschen über unsere Reisen und Motorräder. Die beiden erzählen von ihren gemeinsamen Türkeireisen. Wowa und Tom waren 1970 das erste Mal in der Türkei. Beide auf kleinen 125 Kubikzentimeter Motorrädern. Wowa, der noch mitten in seinem Volkswirtschafts- und Soziologiestudium war und studentenbewegt das sozialistische Bulgarien dem von einer Militärdiktatur regierten Griechenland vorzog, fand den kleinen Hafen von Assos im Nordwesten der asiatischen Türkei. Aus politischen Gründen kam damals auch das frankistische Spanien als Urlaubsziel für die beiden nicht in Betracht. Die kommenden Jahre waren sie fast jeden Sommer einmal zusammen in Assos und trauten sich mit verbesserter Motorisierung auch immer weiter nach Osten die Küste entlang. Mit Kaş hatten sie dann den Ort ihrer Träume gefunden und der kleine Campingplatz in Patara war als Winterquartier des Kölner Rockhelden Wolfgang Niedecken berühmt. Als 1980 in der Türkei das Militär wieder geputscht hatte und der spanische Diktator Franco schon fünf Jahre tot war, versuchten sie es mit Katalonien. »Kennt ihr Cadaques?« - »Natürlich, fast wie Kaş, aber viel teurer und zu voll. Warst Du da auch mal?« »Letzten Sommer, Probefahrt mit der BMW.« Ich war im vorigen Sommer in Cadaques gewesen und hatte mich sofort in das vom Massentourismus noch verschonte Fischerstädtchen verliebt. »Teurer als hier bestimmt, aber voll ist es da auch nicht. Und nur halb so weit.« - »Na, für uns war’s jedenfalls nix.« Tom ist schon wieder mit Drehen beschäftigt und ich gieße uns allen noch mal Raki nach. Tom hat den Joint gerade angezündet als der Chef in seinem am Bauch straff gespannten Hawaii-Hemd erscheint. Er saugt tief die Luft ein und lächelt, Tom reicht ihm den Joint, der Chef nimmt einen langen Zug. »Türk! Çok güzel.« Er gibt den Joint an Tom zurück, wendet sich an Wowa und spricht freundlich, aber ernst mit ihm. Ich verstehe ›Arkadaş‹, ›Jandarma‹ und ›Haş‹. Wowa erklärt: »Morgen Abend ist sein Freund, ein Oberst der Militärpolizei zum Essen hier und er bittet uns, mit den Joints sehr diskret zu sein. Hier oben auf dem Dach ist es ok, aber bloß nicht unten und keine Kippen runterwerfen!« Tom grinst sein Tom-Grinsen, nickt und reicht den Joint noch mal rüber zum Chef. Der klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust und schnalzt leise mit der Zunge. Er dreht sich um, an der Treppe hebt er grüßend die Hand »Iyi uykular« -»Gute Nacht. Los, Tom, lass uns auf‘s Zimmer. Wir wollen morgen früh los.« Wowa hat Pläne, Tom drückt den Joint aus und leert seinen Raki in einem Zug. Wir sind alle aufgestanden. »Schlaf gut, wir sehen uns morgen Abend.« - »Schlaft gut und viel Spaß in Troja.« Tom zuckt resigniert die Achseln und winkt von der Treppe ein Gute Nacht. »Bis morgen.« Ich setze mich wieder auf die Bank, den Rücken an das Mäuerchen gelehnt, falte die Karte auseinander und versuche die Entfernung nach Kaş genauer auszurechnen während ich hin und wieder einen Schluck Raki nehme. Meine Schätzung vorhin von 700 km ist ziemlich genau gewesen. Jetzt addiere ich die Einzeldistanzen zu 681 km. Das sind achteinhalb Stunden auf der Landstraße, ohne große Pausen. Keine Spazierfahrt, aber machbar. Oder vielleicht doch besser zwei Etappen? Ich entscheide, das morgen zu entscheiden, trinke meinen Raki aus und gehe schlafen.
Tag 13, Dienstag
Am nächsten Morgen sitze ich unten vor‘m Hotel auf der Terrasse, trinke Nescafé mit Milch und esse in kleine Stücke gerissenes Fladenbrot mit Marmelade. Ich beobachte das Treiben in dem kleinen Städtchen und versuche mich mit dem Jungen, der uns gestern empfangen hat, zu verständigen. Über ›Guten Morgen‹, ›Danke‹, ›Bitte‹, ›Kaffee‹, ›mein Freund‹ kommen wir aber nicht hinaus. Kurz vor Mittag frage ich dann nach dem Schlüssel für das Tor zum Motorradgehege und beginne, den leider erst gestern vollgetankten Tank abzubauen. Der Ölstand ist gut, ich muss nur etwa einen Viertelliter nachfüllen. Auch der Luftfilter sieht noch so sauber aus, dass ich im Kopf die Wartungsintervalle – zumindest bei der mäßigen Beanspruchung auf Landstraßen – von fünf auf siebeneinhalb Tausend Kilometer erhöhe. Nach der soweit erfolgreichen Mission beschließe ich, mir auf der Terrasse einen Çay zu gönnen. Beim Blick auf die gegenüberliegende Insel fällt mir wieder ein, was Wowa gestern von Lesbos und Assos erzählt hat: Assos sei von Siedlern von der Insel Lesbos gegründet worden und einst eine wohlhabende Handelsstadt gewesen. Die eigentliche Stadt liegt hinter mir auf und um den Felsgipfel, der die Küste weit überragt. Aristoteles hat sich nach dem Tod eines Lehrers und Freundes Platon hierhin zurückgezogen, ist aber schon nach ein paar Jahren nach Mytilene auf Lesbos weitergezogen. Nach Wowas Meinung, weil er sich von Mytilene, der Heimat der großen antiken Dichterin Sappho, Inspiration für seine philosophische Arbeit erhoffte. Platon hatte Sapphos Gedichte so geschätzt, dass er sie in den Rang einer Muse erhob. Außerdem war Wowa überzeugt, dass die Besiedlung von Lesbos auf die realen Vorbilder der mythischen Amazonen aus dem kleinasiatischen Hinterland zurückging. Ein matrilinear und matriarchisch geprägter Stamm, von dem auch Sappho direkt abstammen soll.
Ich reiße mich von meinen Gedanken los und gehe zurück zum Motorrad. Das Einstellen der Zündung bringt endlich den Grund für den unrunden Motorlauf ans Licht. Die Kontakte sind stark verbrannt und sowohl Kontaktabstand als auch Zündzeitpunkt sind weit außerhalb der Toleranz. Ich kratze die Kontakte so gut es geht sauber und stelle die Zündung wieder bestmöglich ein. Um die Benzinhahnen muss ich mich kümmern, wenn der Tank nicht ganz so voll ist. Vielleicht in Kaş. Stattdessen mache ich mich an die Aufgabe, den Hinterreifen zu wechseln, was überraschend schnell und problemlos über die Bühne geht. Jetzt sind vorne und hinten endlich wieder gleiche Reifen montiert – tatsächlich genau die gleichen 18 x 4.00 Trialwing, denn meine Wahl für ein passendes Profil war aufgrund der Felgengröße stark eingeschränkt, so dass ich nach langem Blättern in Reifenkatalogen und noch längeren Diskussionen mit meinen technischen Beratern die ungewöhnliche und etwas verrückte Entscheidung getroffen hatte, vorne ein komplettes Hinterrad einzubauen und mit zwei 18“ Felgen und entsprechenden Trial-Reifen zu fahren. Dazu musste ich nur die Bohrungen für die Rückholfedern der vorderen Bremsbeläge einen halben Zentimeter versetzen, um die Federn an der Trommel der Antriebsverzahnung vorbei zu führen. Insgesamt hatte der 18“ Trial-Reifen vorne einen größeren Durchmesser als ein originaler 19“ Straßenreifen. Die ersten Testfahrten in Hannover waren vielversprechend, obwohl der einen Dreiviertel Zentimter breitere und flachere Vorderreifen vor allem beim Einlenken gewöhungsbedürftig war.
Ich baue alles wieder zusammen, putze das Werkzeug und räume es in das Werkzeugfach. Fünf Minuten später bin ich im Badezimmer des ersten Stockwerks und schrubbe meine öligen Finger sauber. Dann bin ich wieder auf meiner Dachterrasse und repariere ein paar aufgegangene Nähte an Lederhose und -jacke, auch die Motorradbrille bekommt eine gründliche Reinigung und ein paar neue Nähte. Schließlich schreibe ich noch einen Brief an Ande, berichte von den ersten zwei Wochen meiner Reise. Ande und ich kennen uns schon seit Jahren, sind aber erst seit Anfang des Jahres ein Paar. Nachmittags beim Blättern in meinen Reiseführern habe ich einen Brief gefunden, den sie dort versteckt hatte.
Als es zu dämmern beginnt, höre ich die beiden Intruder die Küstenstraße hinunterbollern. Ich blicke über das Mäuerchen und sehe im Gegenlicht Wowa und Tom und dahinter zwei BMWs. Ich mache es mir auf meiner Bank gemütlich und warte, wen Wowa diesmal nach Assos gelotst hat.

Di., 21. April 197, Assos, Motorradgehege
Zunächst erscheint nur Tom auf der Dachterrasse. »Willst Du in dein Zimmer umziehen oder erstmal hier oben bleiben?« - »Ich find‘s super hier oben und umsonst ist ein Preis der mir gut passt.« Tom grinst. »Dann nehmen Marie und Peter dein Zimmer für heute Nacht.« - »Morgen muss ich sowieso los.« Ich habe mich am Nachmittag entschieden, die Tour nach Kaş in zwei Etappen zu fahren. Tom nickt. »Wir klären das unten und kommen dann gleich hoch.« Ich hatte total vergessen, dass ich heute eigentlich in ein Zimmer im ersten Stock hätte umziehen sollen, war mit der neuen Situation aber sehr zufrieden. Mein Kämmerchen auf dem Dach war klasse und mehr als ein paar Mark würde mir der Chef dafür sicher nicht berechnen, wenn überhaupt etwas.
Ich höre die beiden BMWs starten und die wenigen Meter zu ihrem umzäunten Parkplatz fahren. Bei einem der Motoren klappern die Ventile ziemlich laut. Ein Blick über das Mäuerchen schafft mir Gewissheit, dass beide fast neue R 80 G/S sind. Zahnärzte, denke ich. In den letzten anderthalb Jahren, in denen ich fast jeden Tag mit meinem BMW-Lehrer Heiko verbracht habe, ist es uns zur Gewohnheit geworden die G/S als Zahnarztmototorrad zu verspotten. 10.000 Mark für ein Motorrad, dessen Wettbewerbsvariante zwar regelmäßig die Paris-Dakar gewinnt, in der Normalversion mit deutscher Straßenzulassung aber vor allem durch für BMW untypischen Verschleiss zentraler Bauteile und durch die unnötige Erregung von Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit erregt. Heiko waren vor allem die vielen elektronischen Komponenten suspekt. Bei der Paris-Dakar mit einem LKW voller Ersatzteile kann man einen vielleicht defekten elektronischen Regler einfach austauschen, wollte man alleine durch die Wüste, konnte man einen elektro-mechanischen Regler mit Schraubenzieher, Zange und einem Stückchen Coladose reparieren. Jedenfalls war das Heikos Meinung, und wie konnte ich Heiko widersprechen? Reparieren mit Zange und Coladose ist jedenfalls schnell zu einem stehenden Begriff unter uns geworden. Trotzdem ist das untere Fach meines Tankrucksacks mit ca. 15 Kg Werkzeug gefüllt und im oberen befinden sich einige essentielle elektrische Ersatzteile. Von dem Ersatzreifen oben auf die Gepäckrollen hinter mir geschnallt, einem Päckchen Ersatzschläuchen und etlichen Ventilen, einer handvoll Speichen und dem unvermeidlichen Gaffatape, ein paar Lagen GFK und einer kleinen Dose Härter ganz zu schweigen.
»Gerd. Heute Hirtenplatte statt Fisch?« Wowa winkt mir von der Treppe aus zu. »Das sind Marie und Peter, die wollen unbedingt den verrückten Afrikafahrer kennenlernen.« Eine ca. 30-jährige rundliche Frau mit blonden Locken und ein sehr dünner gleichaltriger Mann mit Halbglatze und ansonsten kurz rasiertem Haar kommen hinter Wowa die Treppe ‘rauf. »Hirtenplatte find ich gut. Und Rotwein heute.« Wowa reckt den Daumen hoch und verschwindet wieder nach unten. »Hi, ich bin Marie.« - »Peter. Wie geht’s?« - »Gerd. Hat Wowa also mal wieder jemanden nach Assos gelockt.« Wir stehen uns gegenüber und schütteln uns über dem Tisch die Hände. »Du willst mit deiner alten Gummikuh also nach Afrika?« - »Ja, allerdings. Und bei euch muss irgendwer mal Ventile einstellen. Das klappert ja, als ob ihr‘n Sack Schrauben in den Zylindern habt. »Das hab ich vorhin auch gedacht«, sagt Marie und guckt ihren Freund triumphierend an. »Peter hat gesagt, das sei normal, wenn sie kalt ist.« - »Nach 60 km Landstraße ist sie aber definitiv nicht mehr kalt.« Peter blitzt Marie böse an und sagt »Das ist ne BMW, gerade mal 20 Tausend auf’m Tacho, das bisschen Klappern tut doch keinem weh.« Ich schüttele den Kopf und sage einen der Lieblingssprüche aus unserer Motorradwerkstatt-Kommune in Hannover auf: »Kontinuität und Gründlichkeit in der Fahrzeugpflege erhöhen die Lebensdauer und den Fahrspaß.« Lutz, einer unserer Kommunarden hatte das aus seiner KFZ-Mechaniker-Lehre bei Ford mitgebracht und gleich hinterhergeschoben »Ihr wisst ja, was ›FORD‹ heißt? ›Fix Or Repair Daily‹!« Das Gelächter war groß und sofort hatten wir angefangen andere Markennamen zu ›übersetzen‹. ‹Heute Ohne Nennenswerte Defekte Angekommen‹ fiel dann gleich auf Lutz zurück, der eine 125er Honda-Enduro fuhr.
»Ja, hast ja recht. Ich guck mir das morgen mal an«, sagt Peter und lächelt zum ersten Mal seit unserer Begrüßung. »Aber jetzt erzähl‘ mal. Wo geht’s denn hin? Kapstadt? Tom hat nur gesagt ›Ägypten und dann mal sehen.‹ und dass dein Motorrad älter ist als Du.« - »Na, nicht ganz. Sie ist Baujahr ’73, ich ’67. Ich will einmal rund ums Mittelmeer. Und weil Libyen zu ist, muss ich da unten drum‘rum fahren. Sudan, Tchad, Nigeria, Niger und durch Algerien zurück ans Mittelmeer.« - »Respekt!« sagt Peter, »ich muss mal auf’ne Karte gucken, um das zu verstehen. Und wie kommste dann zurück?« - »In Algerien bin ich ja schon wieder halb zu Hause.« Wieder jemand, der das Wort Umrundung nicht versteht. Das kannte ich von zu Hause gut genug. Die meisten Leute glaubten, eine Reise sei, irgendwohin zu fahren und dann zurück zu kommen. Dass eine Reise auch einen Kreis beschreiben kann, war offenbar für viele Leute schwer zu verstehen. Ich hatte in den letzten fünf Jahren gelernt, Geduld für dieses Unverständnis aufzubringen. Ich schlage mein Notizbuch auf, lege es quer vor uns und zeichne ein liegendes Ei auf das Blatt, rechts übertrieben flach, links übertrieben spitz. Das Ei bekommt den Namen ›Mittelm.‹. Oben, rechts der Mitte male ich X ›Assos‹, unten rechts am Ei hängt hochkant ein Rechteck mit dem Namen ›Ägypt‹, links davon ein Quadrat ›Lyb‹, unter ›Ägypt‹ und ›Lyb‹ sind noch ein paar Flächen, zum Teil recht unbestimmt. Am oberen Blattrand in der Mitte startet ein Kugelschreiberstrich, ich erkläre, »da komm ich her, Norddeutschland, runter nach Bayern, Österreich, Yugoslawien, Griehenland, Türkei, Der Stift hält an dem X ›Assos‹, die türkische Küste lang nach Syrien, der Stift ist jetzt rechts an der flachen Seite und etwas entfernt vom Rand des Eis, dann durch Jordanien nach Ägypten, den Nil hoch, Sudan, durch die unbestimmten Flächen unter ›Lyb‹, bis er links von ›Lyb‹ wieder hoch zurück zum Ei und an seinem Rand entlang bis zur Spitze führt. Die Spitze trägt den Namen ›Gibr‹, hier wird der vorher durchgehende Strich zu einer gepunkteten Linie. »In Marokko muss ich dann eine Fähre nach Spanien nehmen. Und der Rest ist eine Urlaubsfahrt.« Marie nickt und sagt »Verstehe.«

Di., 21. April 1988, Skizze zur geplanten Gesamtreise
Bei Peter bin ich mir nicht ganz sicher. »Aber wie kommste denn nach Ägypten? Musste da nicht durch Israel?« wendet Peter zu recht ein als Wowa und Tom lachend die Treppe hinauf kommen. »Von Aqaba gibt’s ne Fähre auf den Sinai.« - »Ihr habt gar nicht erzählt, was Gerd wirklich vor hat«, beschwert sich Marie bei Wowa und Tom. »Konnten sie auch gar nicht. Mehr als ›Ägypten und dann mal sehen‹ hab ich ihnen nicht erzählt. Ich wollte es auf einer Autoput-Raststätte nicht zu kompliziert machen.« Wowa versucht aus meinem Gekritzel schlau zu werden. »Mann, Du bist ja noch irrer als ich dachte. Ägypten fand ich schon schlimm, aber das sieht aus wie erst durch’n Rhein schwimmen und dann auf’n Dom klettern.« Wowa schüttelt den Kopf und sieht mich ernst an. Er versucht Toms Aufmerksamkeit von seinem Joint auf meine Skizze zu lenken. »Guck Dir mal an, was unser Gerdchen wirklich vorhat, Tom. Thomas! Jetzt lass doch mal! Du weißt doch, dass der Oberst schon da ist. Guck mal hier.« Er wedelt mit meinem Notizbuch vor Toms Nase herum. Zum Glück kommt sehr bald der Wein und unser Essen, so dass ich nicht mehr im Mittelpunkt des Gesprächs stehe, weder Irrer, noch Held sein muss. Zwischen diesen beiden Extremen schwanke ich schon alleine unentschlossen hin und her. Dass andere ebenso schwanken, kann ich – solange ich es selbst nicht weiß - wirklich nicht gebrauchen. Mit Jans Respekt für meinen Plan und seinen begründeten Zweifeln an meiner Fähigkeit ihn umzusetzen, konnte ich ganz gut umgehen. Aber diesen vier hier will ich kein Urteil erlauben. Oder jedenfalls will ich ihr Urteil nicht hören, bis ich selbst eines gefällt habe. Ich habe außer dem halben Fladenbrot heute morgen nichts gegessen und zu schnell zu viel von dem schweren Rotwein getrunken und bin schon während wir noch essen halbwegs betrunken. Nach dem Essen bestellt Wowa Raki – heute wird uns eine Literflasche hingestellt, wieder mit Kronenkorken. Ich nippe noch an meinem Çay, rauche eine Lucky Strike nach der anderen und versuche zu verstehen, auf was für ein Abenteuer ich mich hier eingelassen habe oder genauer: ob ich mich auf dieses Abenteuer einlassen will und kann. Ich denke daran, dass ich auf nicht mal 3000 Kilometern die BMW schon dreimal im Stand umgeschmissen habe und es nur einmal geschafft habe, sie alleine wieder aufzurichten. Daran, dass ich noch nie mehr als 500 Meter am Stück auf unbefestigtem Untergrund gefahren bin, und noch nie mehr als zehn Meter auf weichem Sand. Dass diese knapp 3000 Kilometer Autobahn und Landstraße überhaupt die ersten sind, die ich die BMW in voller Reisebeladung fahre, wie das auf schlechten Pisten, wahrscheinlich sogar in Sandverwehungen gehen soll, davon habe ich keine Ahnung. Theoretisch weiß ich, wie’s geht, aber wirklich gemacht habe ich es noch nie. Aber ich stelle mir eben auch das triumphale Gefühl vor, nach der Reise durch die Toristengegenden in Spanien und Südfrankreich zu fahren. Als Held nach Hause zu kommen. Die Teegläser werden abgeräumt und Tom gießt mir das Wasserglas halbvoll Raki. Meine abwehrende Geste kommt zu spät, also fülle ich das Glas mit Wasser auf und stoße mit den anderen an. Peter bedient sich eifrig am Raki und raucht von jedem Joint, den Tom in üblicher Regelmäßigkeit baut, mindestens die Hälfte. Wowa und Marie versuchen ihn zu mäßigen. Wowa erzählt ihm vom Oberst der Jandarma, der unten vor dem Restaurant auf der Terrasse sitzt und sich fröhlich mit unserem Hotelwirt unterhält. Aber es ist schon zu spät. Peters Oberkörper beginnt zu pumpen, er springt auf und schwankt die zwei Schritte zum Mäuerchen an der Frontseite. Wowa stößt einen kleinen Schrei aus und Tom lässt seinen Joint fallen. Aber Marie ist schon bei Peter und bugsiert ihn zur Rückseite der Dachterrasse. Dort ist es zu dunkel, um sehen zu können, was passiert, aber was wir hier am Tisch hören können, lässt keinen Zweifel daran, dass allein Marie den Oberst vor einem überraschenden Schwall Erbrochenem aus fünf Meter Höhe bewahrt hat. Tom hat seinen Joint inzwischen unter dem Tisch wiedergefunden. »Es ja nochmal jod jejange. Wat fott es, es fott.« Wowa lacht und gießt uns dreien noch mal Raki ein. Peter hustet und lässt sich von Marie 'runter zum Badezimmer führen. Im Vorbeigehen grinst Tom sie an, Marie lächelt entschuldigend zurück. Tom zuckt mit den Achseln. Von Wowas Kölsch angesteckt sage ich in meiner besten Werner-Imitation »Un‘ ich sach noch, Pedda. Pedda, mach das nich, sach ich noch. Mach das nich, Pedda« Wir lachen. Aber so langsam wird auch mir komisch im Kopf und im Bauch. »Ich leg mich mal hin und ihr wollt doch morgen auch früh los, oder?« - »Wir seh‘n uns Freitag in der Mavi-Bar. Schlaf gut« - »Gute Nacht und gute Fahrt euch beiden morgen.«

Mi., 22. April 1987, Assos - Yenifoça
Die Hälfte des Vormittags verschlafe ich und die andere Hälfte vertrödele ich auf der Terrasse vor dem Hotel. Wowa und Tom sind natürlich längst unterwegs nach Pamukkale. Marie und Peter sind noch da, sie wollen nachmittags zurück nach Griechenland. Peter setzt sich zu mir, bestellt einen Çay. »Ganz schön peinlich gestern. Tut mir leid. Ich geh jetzt mal nach den Ventilen gucken.« - »Alles ok. Wenn Du Hilfe oder Werkzeug brauchst, sag Bescheid. Ich bin ja noch’n bisschen hier.«
Ich packe mein Zeug auf der Dachterrasse zusammen und bringe alles zu unserem Motorradgehege. Die Alukoffer werden wieder gefüllt und die Gepäckrollen fest verzurrt. Dass jetzt nur noch ein Reifen oben drauf liegt, macht zumindest optisch einen großen Unterschied, ob es auch das Fahrverhalten ändert und, wie der neue grobe Stollenreifen hinten es verändert, wird sich nachher zeigen. Schließlich befestige ich das Oberteil des Tankrucksacks wieder auf der Werkzeugabteilung. Vorher frage ich Peter noch mal, ob er nicht doch irgendetwas braucht. Ich gucke über seine Schulter auf den geöffneten Zylinderkopf, der sich von dem meiner fast 15 Jahre älteren BMW kaum unterscheidet. Der Tankrucksack sitzt an Ort und Stelle und bekommt noch seine Extra Befestigung mit einer Bootsleine an den Zylinderschutzbügeln. Alles sieht abreisefertig aus, ich gehe zurück ins Hotel, finde den Wirt an der Rezeption und mache die Geste für Bezahlen. Er lächelt, schnalzt leise mit der Zunge und sagt etwas auf Türkisch, ich verstehe nur ›Wowa‹ und ›arkadaş‹. Geld will er jedenfalls keins. Draußen auf der Terrasse sitzt inzwischen Peter mit Marie beim Çay. Ich verabschiede mich, wünsche den beiden einen schönen restlichen Urlaub und eine gute Fahrt.
Kurz nach 2 am Nachmittag bin ich dann wirklich wieder auf der Landstraße. Als die Straße sich der Küstenlinie folgend nach Südwest wendet, steht die Sonne schon dunkelorange tief am westlichen Himmel. Eine dreiviertel Stunde später passiere ich Bergama, das antike Pergamon. Die Hügel zu meiner Linken sind in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht und ich beginne nach einem geeigneten Ort zum Übernachten Ausschau zu halten. An einer Kreuzung biege ich rechts nach Yenifoça ab. Schon seit einigen Kilometern preisen Werbeschilder die Strände und Hotels dieser kleinen Stadt an der Westküste der Türkei an. Ich versuche mein Glück und finde außerhalb des Zentrums ein kleines Hotel mit Restaurant. Ich esse eine Art Pfannkuchen gefüllt mit Fleischgeschnetzeltem und Salat. Das Zimmer ist sehr klein, aber passt zu meinen Bedürfnissen. Ich fühle mich, als ob eine Erkältung im Anzug sei. Nach dem Essen und zwei Efes gehe ich schlafen.
Tag 15, Donnerstag

Do., 23. April 1987, Yenifoça - Patara
Zum Frühstück gibt es das übliche Fladenbrot mit Marmelade und einen Nescafé mit Milch. Um kurz nach Neun bin ich schon wieder auf der Straße. Das Erkältungsgefühl von gestern war wohl falscher Alarm. Als ich wieder auf die Fernstraße einbiege scheint noch die Sonne, aber kurz vor Izmir – die Landstraße ist inzwischen eine Autobahn geworden – ziehen dicke dunkelgraue Wolken im Südosten auf – oder ab, Izmir steht halb unter Wasser. Laster wirbeln graue Gischt auf, aber der Regen ist offenbar schon vorbei. Hinter Izmir führt mein Weg durchs Landesinnere in sicherem Abstand zu den Touristenhochburgen Kuşadasi, Bodrum und Marmaris. In einer langgezogenen Linkskurve öffnet sich vor mir das weite Tal des Mäander, hinter einer Stadt steigt die Straße in ein kleines Seitental an. Nach dem Anstieg befinde ich mich auf einer großen Hochebene, die auf allen Seiten von grün-schwarzen Bergen überragt wird. Die kleinen Ortschaften sind von Olivenhainen umgeben. Nach einem kilometerlangen schnurgeraden Teilstück am südlichen Ende der Hochebene beginnt der Abstieg durch eine malerische Schlucht. An einem kleinen Zwischenpass überquert eine Herde Schafe die Straße. Ich parke das Motorrad auf einer steinige Wiese neben der Straße und genieße den Ausblick. Der Schafhirte in Anzughose, Jeanshemd und Wollsakko erscheint und begrüßt mich mit vor der Brust zusammengelegten Händen. Er scheint sich für die Behinderung durch seine Schafe zu entschuldigen, ich versuche ihm klar zu machen, dass alles wunderbar ist und ich einfach nur die Landschaft genieße. Ich biete eine Zigarette an, die er nach einigem Zögern annimmt. Erst als er sich nach seinen Ziegen umdreht, sehe ich, dass er einen Gürtel mit großkalibrigen Patronen trägt, die Flinte hat er scheinbar irgendwo zurückgelassen, um keine Touristen zu erschrecken.

Do. 23. April 1987, Aydin-Gebirge, Hirte
Wir rauchen schweigend bis ein LKW sich den Weg frei hupt. Der Hirte pfeift und macht ein paar Armbewegungen zu seinem Hund, der die Schafe auf einer Wiese auf der anderen Straßenseite neu sortiert.
Die Straße führt an einigen großen Stauseen vorbei und senkt sich wieder zum Mittelmeer ab. Kurz vor Marmaris biegt mein Weg ins Landesinnere ab. Aber schon nach kurzer Zeit bin ich wieder auf einer Küstenstraße am Meer. Am Ende der Bucht führt die Straße geradeaus weiter in die Berge, nach ein paar Kilometern weist ein Schild an einer Kreuzung nach rechts nach Kaş. Die Straße folgt einem weiten Tal. In einer Linkskurve zweigt eine kleine Straße nach rechts nach Patara ab. Eigentlich bin ich einen Tag zu früh, bin erst morgen Nachmittag mit Wowa und Tom in Kaş verabredet. Ich folge der kleinen Straße und sehe bald auf der rechten Seite die Einfahrt zu einem Campingplatz. Ich halte vor der Einfahrt und sehe die beiden geparkten Intruder auf der Wiese des Zeltplatzes. Ich stelle die BMW ab und schlendere zu dem silbernen Zelt neben den Intruder. Tom werkelt an seinem Motorrad, Wowa ist nicht zu sehen. Als ich gerade Toms Namen rufen will, höre ich Wowa rufen, »Tom! Gerd ist da.« Wowa kommt eben mit einer Plastiktüte aus dem kleinen Rezeptionsgebäude und winkt. Tom blickt auf und kommt auf uns zu. Mit einem schon ziemlich schmutzigen Lappen versucht er seine öligen Hände abzuwischen, bei mir angekommen steckt er den Lappen in die Hosentasche und umarmt mich. »Schon wieder zu früh! Schön, dass Du da bist.« - »Ach komm, Tom, lass ihn doch erstmal ankommen.« - »Schön, euch wiederzusehen.« Wowa lässt uns mitten zwischen Eingang und ihrem Zelt stehen und bringt die Plastiktüte zu ihrem Platz. Als er zurückkommt sagt er, »Komm wir machen schnell die Anmeldung und dann kannst Du abpacken und dein Zelt aufbauen.« Nach zwanzig Minuten parkt meine BMW neben den zwei Intruder und mein Zelt steht ein paar Meter von den Motorrädern entfernt. Tom hatte gefragt, ob ich Hilfe brauche und sich dann wieder über sein Motorrad gebeugt, Wowa hat sich auf die Wiese gelegt und angefangen zu lesen. »Wir machen heute Nudeln mit Gemüse, ok?« Wowa hockt an der BMW und guckt sich die kantigen Koffer- und Kanisterträger an, die ich nach Heikos Konstruktion aus Vierkant- und Rundrohren gebaut habe. »Super Plan. Soll ich noch was kaufen?« - »Lass mal, wir kochen sowieso immer zuviel. Ach, vielleicht noch schnell ein paar Bier, der Laden macht um 6 zu.« Ich schnappe mir also meinen Rucksack und gehe zurück zum Rezeptionsgebäude, das zugleich der kleine Cmpingplatzladen ist. Tom hat die Wartungsarbeit inzwischen beendet und liegt mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken vor dem Zelt der beiden. Während Wowa das Essen vorbereitet, schreibe ich meine heutige Strecke auf und gucke mir die Umgebung auf meiner Karte näher an. Tom steht neben mir zeigt Richtung Süden und sagt, »Gut, das es dies’ Jahr so trocken ist. Wenn’s im Frühjahr viel regnet, ist hier abends ein Höllenlärm von den ganzen Kröten drüben im alten Flusstal. Und da hinten ist das alte Patara.« Außer ein paar Sanddünen hinter der Ebene des grünen Tals ist allerdings von hier aus nichts zu sehen. »In Izmir hat’s heute Morgen geregnet wie blöd. Aber als ich durchkam, war’s schon wieder vorbei, nur die Straßen standen noch unter Wasser.« - »Scheinst ja ein echtes Glückskind zu sein. Wirst’e auch brauchen.« Tom grinst sein Tom-Grinsen. Wowa ruft ihn, und Tom breitet eine Decke vor den Motorrädern aus und ›deckt den Tisch‹, ich suche meinen Alu-Teller und das Besteck aus dem Koffer und stelle alles auf die Decke. Kurz darauf hört der Gaskocher auf zu zischen und Wowa ruft, »Essen!«
Tom öffnet drei Bier, verteilt die Flaschen auf der Picknick-Decke, füllt Nudeln auf unsere Teller und setzt sich vor seinen. Wowa löffelt die Gemüsesauce auf unsere Nudeln. Dann flucht er, springt auf und läuft zu ihrem Zelt. Er kommt mit einer Plastikdose zurück und reicht sie mir stolz über die Decke. »Kein Parmesan, aber Anari tut’s auch. Original aus Zypern (dem Nordteil natürlich)« Die Dose enthält gemahlenen Hartkäse, der ziemlich salzg ist, aber gut zu der mediterranen Gemüsesauce passt. »Hmmm. Lecker. Wowa, kochst Du jetzt jeden Abend?« Wowa lacht. »Ich dachte, Du wolltest Fisch. Morgen essen wir in Kaş oder wir können hier grillen.« -»Gril-len! Gril-len! Gril-len!« gröhlt Tom, wir lachen und stoßen mit den Bierflaschen an. Wowa und ich sagen ›Prost!‹, Tom sagt ›Grillen!‹. Wir essen und es wird schnell dunkel. Wowa legt einen Finger vor die Lippen und deutet auf die Ebene. Weit entfernt hört man das Quaken einiger Kröten. »Und ich dachte schon, wir hätten die ganze Nacht Stille.« Wowa erzählt, dass bei ihrem ersten Besuch hier die Kröten so einen Krach gemacht hätten, dass sie den Platz am ersten Morgen in ›Tal der Kröten‹ getauft hatten. »Dieser Frühling war zu trocken, kein gutes Jahr für Kröten.«

Fr., 24. April 1987, Patara, Campingplatz, (Wowa)
Tag 16, Freitag
Auch nachts bleiben die Kröten fast unhörbar. Am nächsten Morgen sitzen Wowa und Tom schon auf der Picknick-Decke, als ich aus dem Zelt krabbele. »Guten Morgen. Komm doch ins Esszimmer, Frühstück ist fertig.« - »Ja, gleich. Muss erstmal pinkeln.« Ich gehe zu dem Waschhaus neben der Einfahrt. Zurück bei den Zelten fragt Wowa lächelnd »Hände gewaschen?« - »Klar. Und Zähne geputzt.« - »Kaffee?« Ich hole meinen Becher aus dem Zelt und halte ihn Tom hin. Die beiden haben sogar Kondensmilch dabei. Nach einem Schluck Kaffee angele ich mir ein Stück Fladenbrot. »Erdbeermarmelade oder Orange?« Wowa hält mir zwei Blechdosen entgegen. Ich entscheide mich für Orange.
Nach dem Frühstück packe ich das Oberteil des Tankrucksacks in mein Zelt und die paar Dinge für einen Tagesausflug in meinen Rucksack. Es ist warm, aber dicke weiße Wolken ziehen über den ansonsten blauen Himmel. »Räum’ dein Zeug lieber ins Zelt, nachher wird’s Regen geben.« Wowa und Tom legen die Picknick-Decke zusammen und verstauen sie mit ihrem übrigen Kram in ihrem Vorzelt.
Die Rezeption und der Laden sind geschlossen. Wir fahren zurück zur Fernstraße und biegen rechts nach Kaş ab. Nach ein paar Kilometern führt die Straße an einer beeindruckenden Steilküste entlang. An einer Stelle quert sie eine schmale hohe Schlucht mit einer kleinen Brücke. Wowa stoppt und stellt die Intruder am Straßenrand ab. Ich bocke die BMW auf und mache die obligatorischen Reisebericht-Photos.

Fr., 24. April 1987, Antalya-Fethiye-Yolu, zwischen Patara und Kaş
Links kann man nur ein paar Dutzend Meter in die dichte Vegetation der engen Schlucht blicken, rechts öffnet sie sich zu einem breiten wunderschönen Sandstrand. »Wenn die Sonne scheint, kann man hier prima baden.« Wowa macht eine Geste, als wolle er mir den Strand schenken. Ich habe inzwischen an der Felswand auf der östlichen Seite ein Schild mit vielen Namen und einer türkischen Inschrift entdeckt. »Die Männer, die beim Straßenbau abgestürzt sind oder versehentlich in die Luft gesprengt wurden«, sagt Wowa. Ich kenne diese Gedenktafeln aus den Alpen, dort sind es meistens italienische Namen, oft mit abgekürzten militärischen Dienstgraden.
Die Straße windet sich weiter die Küste entlang bis rechts eine Insel in Sicht kommt, wir fahren in ein Gewerbegebiet und das Ortsschild von Kaş begrüßt uns am rechten Straßenrand. Wir folgen der Hauptstraße, die von Nordwesten in die Stadt führt und am Hafen auf einem kleinen Platz endet. Rechts parken Autos , einige mit deutschen Kennzeichen, links liegen Fischerboote an langen hölzernen Stegen. Wowa und Tom stellen ihre Intruder links vor einer kleinen Wiese ab. Ich parke die BMW daneben. Gegenüber der Bootsstege sehe ich ein Café mit kleiner erhöhter Außenterrasse. Wowa und Tom sind schon auf dem Weg. Wowa wartet vor der kleinen Holztreppe. »Darf ich vorstellen: die Mavi-Bar. Beste Kneipe im Umkreis von 1000 Kilometern... soweit ich weiß.« Tom sitzt schon mit drei Bier vor sich auf der Terrasse. Wir steigen die vier Stufen hinauf und setzen uns zu ihm. Aus dem Inneren höre ich Led Zeppelin. Tom beginnt einen Joint zu bauen. »Ich hab schon gedacht, Du hast aufgehört«, sage ich grinsend. »Nee, der Campingplatzbesitzer will kein Dope auf seinem Platz und Wowa will keinen Ärger. Dope gibt’s nur in Kaş oder wenn wir grillen.« - »Verstehe. Wo sind denn hier die Klos?« - »Am Tresen vorbei. Hinten rechts.« Der Gastraum ist höchsten vier mal vier Meter groß, die rechte Wand wird von einem deckenhohen Flaschenregal eingenommen, davor der Tresen, links stehen ein paar kleine runde Tische. An der Bar sitzen Leute, die mitteleuropäisch gekleidet sind, sich aber auf Türkisch unterhalten. Der Barmann ist groß und dünn und hat halblange schwarze Locken und einen Vollbart. Ich denke im ersten Moment, dass er aussieht wie Jesus. Ich blicke mich suchend im Raum um und er deutet auf die rechte der beiden Türen an der Rückseite. Als ich zurückkomme spricht er mich auf Englisch an und fragt, ob ich ein Freund von Wowa und Tom bin. Ich sage, dass ich sie erst ein paar Tage kenne, aber dass wir seitdem Freunde sind. Er reicht mir seine Hand und sagt, dass wir dann jetzt auch Freunde sind. Wir sagen unsere Namen und schütteln uns lächelnd die Hände. Draußen ist unser Tisch inzwischen zwei Meter nach links gerückt und bildet dort mit dem langen Tisch an der Seite der Terrasse ein ›L‹. Wowa und Tom unterhalten sich auf Englisch mit zwei Frauen die dort sitzen. Beide offenbar Einheimische, aber für türkische Frauen sehr westlich gekleidet. Elena, der Tom mich eben vorstellt in einem knielangen bunten weiten Kleid, die andere in engen Jeans und T-Shirt. Elena erzählt, dass sie während der Militärdiktatur zwei Jahre im Gefängnis war, weil sie an der Uni Flugblätter verteilt hatte, und seitdem arbeitslos ist und ihre Eltern nicht mehr mit ihr reden. Wowa sagt etwas und Elena schüttelt den Kopf und fängt an, still zu weinen. Aischa, diejenige in Jeans und T-Shirt, hält tröstend ihre Hand. Ich sage auf Deutsch »Das Thema sollten wir wohl meiden.« Aischa antwortet auf Deutsch »Ja, Elena ist da noch nicht mit fertig. Nicht mal mir erzählt sie von der Zeit im Gefängnis.« Tom fragt, »Warum reden wir eigentlich Englisch, wenn wir auch Deutsch reden können?« - »Elena kann kein Deutsch. Ich bin in Mannheim geboren und als ich 11 war mit meinen Eltern zurückgekommen. Wäre lieber da geblieben, aber mein Vater wollte nicht, dass ich wie eine Deutsche aufwachse. ›Willst Du, dass sie Hure, oder, dass sie eine gute Ehefrau wird?‹ hat er damals im Streit meine Mutter gefragt als sie dachten, ich würde schon schlafen.«

Fr, 24. April 1987, Kaş
In gedrückter Stimmung blicken wir auf den Hafen und das Meer. Wowa zeigt zum Himmel. »Gleich geht’s los.« Schwarze Wolken hängen über der Bucht und man hört wie der Wind Wellen gegen die Hafenmauer drückt. Einen Moment später beginnt ein heftiger Hagelschauer, nach zwei Minuten ist der Platz vor uns weiß von den zentimetergroßen Hagelkörnern. »Fast wie Schnee, das vermisse ich«, sagt Aischa. »Ich nicht!« Der Hagel ist schon wieder vorbei und die Wolken machen der Sonne platz. Tom grinst und baut einen Joint. Er reicht ihn Elena zum anzünden. Sie nimmt zwei Züge und gibt ihn an Aischa weiter. »Ich hasse die Generäle, aber immerhin halten sie die Prediger in Schach. Wir können hier nur zwischen Pest und Cholera wählen. Wir brauchen mal eine echte Wahl. Und richtige Freiheit, nicht nur Bars, die so heißen.« Elena zeigt auf das Schild hinter ihr. »›Mavi‹ heißt Freiheit?« - »Nee, ›mavi‹ heißt blau und blau ist die Farbe der Freiheit.« - »Aber Du siehst doch was bei halbwegs demokratischen Wahl rauskommt: entweder die Schergen der Militärs oder irgendwelche religiösen Fanatiker gewinnen.« Wowa schüttelt den Kopf. »Das Land war 1920 so kaputt und zerrissen, dass es für Atatürk gar keine andere Möglichkeit gab, als seine neue Türkei auf diesem zerbrechlichen Gleichgewicht aufzubauen. Gesellschaftlich heißt dieses Patt erstmal Stillstand, aber guckt euch den enormen wirtschaftlichen Fortschritt an. Und der verändert auch die Gesellschaft. Langsam, aber unaufhaltsam.« - »Das hat Lenin auch gedacht«, werfe ich ein. »Stimmt, aber hier funktioniert’s. Vielleicht wechseln sich alle zehn Jahre die Militärs und Prediger in der Regierung ab und die ersten fünf Jahre sind sie erstmal damit beschäftigt, abzuschaffen, was die vorige Regierung eingeführt hatte, aber währenddessen geht der Aufschwung weiter. Die Türkei ist ein reiches Land geworden. Jedes Dorf hat Strom und die meisten haben Wasser und Abwasser, durch’s ganze Land führen gute Straßen. Die Krankenhäuser sind die besten der Region. Und in ein paar Jahren tritt die Türkei der EG bei, in der NATO ist sie ja schon lange.« - »Gut gebrüllt, Löwe.« Tom schüttelt den Kopf. »Wo kriegen wir denn jetzt noch was zum Grillen her?« Aischa bietet an, dass sie uns zu ihrem Onkel bringen kann, der Fischer ist, und sicherlich noch Fisch von heute früh hat. Wowa steht auf und fragt »Los?« - »Ich glaube, es ist besser, wenn nur Elena mitkommt. Was wollt ihr denn?« Wowa nickt und setzt sich wieder. »Egal. Sardinen oder ‘n paar Große, was er eben hat.« Er reicht Aischa ein paar Scheine über den Tisch. Aischa lehnt das Geld ab, aber Wowa besteht darauf bis sie sie schließlich einsteckt. Als die beiden weg sind, steht Wowa auf. »Ich geh‘ mal Salat organisieren.« - »Und ich geh‘ noch mal auf’s Klo.« Tom baut wieder einen Joint und ich gehe in die Bar. Inzwischen ist die Bar leer und Deep Purple dröhnt aus den Boxen. Auf dem Rückweg vom Klo frage ich Jesus, ob er uns zwei Flaschen Wein verkaufen kann. Er nickt, legt aber den Finger vor die Lippen. Er drückt mir eine Plastiktüte in die Hand. Ich versuche aus dem Glaspreis an der Tafel neben dem Tresen den Flaschenpreis hochzurechnen und lege drei Scheine auf den Tresen, einen schiebt er lächelnd zurück. Draußen stelle ich die Flaschen in der Plastiktüte klappernd vor Tom auf den Tisch. »Du bist ein Genie.« Tom grinst. Er nimmt meine Jonglierbälle, die auf dem Tisch liegen und lässt sich von mir erklären, wie man sie in einem Dreierkreis laufen lässt.

Fr., 24. April 1987, Kaş, Mavi-Bar (Tom)
Nach ein paar Versuchen hat er es raus und guckt den Bällen lächelnd beim Kreisen zu. Dann fängt er alle drei in einer Hand auf und trinkt sein Bier aus. »Ich geh‘ mal zahlen.« Während Tom am Tresen steht, kommt Wowa mit einer durchsichtigen Plastiktüte mit Tomaten, einer Gurke und Petersilie zurück. Kurz danach legt Aischa einen Packen Zeitungspapier auf den Tisch, der deutlich nach frischem Fisch duftet. »Der kommt zum Salat in meine Tüte, dass wir uns nicht die Packtaschen versauen.« Tom kommt zurück. »Wollt ihr mit nach Patara zum Grillen?« Aischa guckt zu Elena und zurück zu Tom. »Nee, glaub‘, eher nicht.« Elena sieht aus, als wäre sie gerne mitgekommen. Die vier verabschieden und umarmen sich. Ich bin schon die Stufen ‘runter auf der Straße und winke. »Bis bald.« - »Bis morgen«, lacht Aischa. Bei den Motorrädern frage ich Wowa, »Haben wir denn ‘n Grill und Kohle?« - »Liegt alles neben der Rezeption. Der Besitzer meint, das wäre einfacher, als dauernd den Rasen zu reparieren oder ein Buschfeuer zu riskieren.« - »Hat er recht.« Wir fahren der untergehenden Sonne entgegen zurück nach Patara.

Fr., 24. April 1987, Antalya-Fethiye-Yolu, westlich von Kaş
Auf dem Zeltplatz fängt Tom erstmal an, einen Joint zu bauen. »Freitags ist eh niemand hier.« - »Wein?« Ich suche mein Taschenmesser mit Korkenzieher und öffne die erste Flasche, Tom hält mir seine Blechtasse hin.
Wowa holt den Grill und einen Sack Holzkohle, nach fünf Minuten brennt ein wenig Benzin auf den Kohlen. Wowa bereitet den Salat vor und schüttet alles in einen Alutopf, zwischendurch fächelt er immer wieder die Glut an. Erst jetzt packen wir den Fisch aus dem Zeitungspapier aus. Es sind sechs ziemlich große Sardinen. Wowa mischt aus Wein, Olivenöl und ein paar Kräutern eine Marinade und pinselt die Fische mithilfe eines Stück Zeitungspapiers damit ein. Kurz darauf duftet der ganze Campingplatz nach gegrilltem Fisch. Zum Glück sind wir die einzigen Gäste, so dass niemand neidisch werden kann. »Mann, das ist ganz schön heiß hier am Grill.« - »Wein kommt!« Tom sucht Wowas Blechtasse und ich schenke allen Wein ein. Wir stoßen an. Die Sardinen sind köstlich, aber zu groß, um sie wie in Assos im Ganzen zu essen.
Nach dem Essen sitzen und liegen wir noch stundenlang vor den Zelten, reden und gucken in die Sterne.
»Wenn morgen früh die Sonne scheint, fahren wir zum Strand und dann in die Mavi-Bar.« Tom ist zufrieden mit Wowas einfacher Tagesplanung für morgen und brummt Zustimmung.
Tag 17, Samstag
Tatsächlich scheint am nächsten Morgen die Sonne und es ist so warm, dass ich mich fast entscheide in Jeans, statt in Lederhose zu fahren. Wir trinken einen schnellen Kaffee und packen für den Strand und Kaş zusammen.
Wir stellen die Motorräder kurz hinter der Schlucht bei einem holländischen Wohnmobil ab und klettern den steilen Weg zum Strand herunter. Außer uns ist noch eine Familie mit zwei Kindern am Strand. Wir suchen uns einen Platz weit von ihnen entfernt, dort, wo der kleine Bach aus der Schlucht den Strand teilt und ins Meer fließt. Wir breiten unsere Handtücher und die Picknick-Decke aus. Tom baut einen Joint, Wowa packt Fladenbrot und Marmelade aus, ich gehe das Wasser testen und ein paar Photos machen. Das Meer ist ruhig, aber noch ziemlich kalt. Ich bringe die Kamera und meine Brille zurück zu unserem Platz und renne ins Meer, vier, fünf kräftige Kraulzüge und zurück an den Strand. Als ich zurückkomme, sind Aischa und Elena ›zufällig‹ auch am Strand und sitzen zwischen den Jungs in der Sonne. Das Meer ist wirklich noch kalt und die Vormittagssonne braucht lange um mich wieder einigermaßen aufzuwärmen. Ich rauche eine der türkischen Möchtegern-Marlboros (Maltepe), die ich gestern in Kaş gekauft habe. Tom ist schon wieder dabei, einen Joint zu bauen, als hinter uns jemand ruft »Seid ihr die deutschen Moppeds?« Tom winkt den großen Mittzwanziger mit Joe-Strummer-Tolle zu uns. Er steht neben unseren Handtüchern. »Hi, ich heiße Tom, darf ich?« - »Och, nö, nich‘ noch’n Tom!« Wowa lacht und macht eine einladende Geste. »Der da mit dem Joint ist auch’n Tom und der lange da ist Gerd. Die beiden Ladies sind Elena und Aischa. Ich heiß‘ Wolfgang.«

Sa., 25. April 1987, Kaputaş Plaji, zwischen Patara und Kaş (›neuer‹ Tom, Wowa, Elena, Gerd)
Der neue Tom setzt sich in den Sand, schnürt seine Cross-Stiefel auf und versucht, sich aus seiner Lederhose zu befreien. Schließlich reicht unser Tom ihm den Joint, steht auf und zieht an den Hosenbeinen bis die Hose endlich von den Beinen rutscht, der neue Tom kippt aus dem Sitzen in die Waagerechte und unser Tom torkelt nach hinten und fällt dann lang in den Sand. Alle lachen. »Gute Vorstellung. Ihr solltet zum Zirkus gehen.« Wowa nimmt den Joint und gibt ihn nach zwei Zügen an seinen Tom weiter, der inzwischen wieder bei uns sitzt. Die beiden Toms gehen jetzt auch kurz schwimmen, um den Sand abzuspülen. Auf dem Rückweg bleiben sie an dem Bach stehen und schieben mit den Füßen den Sand zu einem kleinen Damm zusammen, der natürlich sehr schnell von dem nachfließenden Süßwasser überspült wird. Ich habe in meiner Kindheit an jedem Meer und jedem See, an dem ich war, Stauseen und Dämme gebaut, gehe zu den beiden und gebe gute Ratschläge. »Wenn ihr ‘n anständigen Stausee wollt, müsst ihr oben einen Überlauf und einen Kanal zum Meer bauen, sonst wird der Damm alle fünf Minuten eingerissen.« Wir bauen einen Abzweig in den Bach und einen Überlaufkanal vom oberen Teil des Stausees zum Zweigkanal, der in sicherer Entfernung von unserem Damm ins Meer fließt. Wir sind so vertieft in unsere ›Arbeit‹, dass wir von der Englischen Frage, ob wir Deutsche seien, total überrascht werden. Der Vater, der kleinen holländischen Familie hundert Meter entfernt, steht hinter uns und lächelt. »Einfach nur am Strand liegen, können Deutsche wohl nicht. Braucht ihr Hilfe? Mit Dämmen und Kanälen kennen wir Holländer uns aus.« - »Mach mal oben den Zulauf zum Stausee zu, der Damm löst sich schon auf.« Unser Stausee ist schnell wieder im Gleichgewicht und wir setzen uns rund um unser Bauwerk in den Sand. »Mein Name ist Piet, ich verstehe Deutsch ganz gut, aber sprechen ist schwierig, wir sollten bei Englisch bleiben, das ist fairer«, sagt der er lächelnd. Wir stellen uns ebenfalls vor und stimmen zu, beim Englischen zu bleiben. Jetzt setzt sich auch Wowa zu uns, Tom stellt ihm Piet vor und erklärt unser Bauwerk von heute Vormittag. »Und ich dachte schon, ihr baut ‘n Hafen für griechische Feta-Schmuggler.« - »Holländische Edamer-Schmuggler!« sagt Piet und grinst. »Jungs, wollen wir mal nach Kaş fahren, ich krieg langsam Hunger.« - »Ach, Wowa, Du willst mit Elena allein sein. Das ist alles.« Wowa nimmt eine Handvoll Wasser aus unserem Stausee und spritzt Tom nass. »Neuer Tom, kommst Du mit was essen und in die Mavi-Bar?« - »Sicher, hab ich von gehört, soll gut sein.« - »Ist gut!« Wowa steht auf. »Los?« Wir versuchen, den Sand so gut wie möglich von Beinen und Füßen abzuwischen und ziehen uns wieder an. Ich stopfe den meisten Kram in meinen Rucksack. Piet, der inzwischen wieder bei seiner Familie sitzt, winkt uns zu. »Bis später!« Wir winken zurück und steigen den Hang zur Straße wieder hinauf. Inzwischen brennt die Sonne ganz schön. Alle Schwitzen und schnaufen in den dicken Motorradklamotten. Der neue Tom fährt eine hellblaue XT 600. Offenbar hat er hier noch nirgends Quartier genommen, denn die Ténéré ist vollbeladen, inklusive eines Ersatzreifens auf der Gepäckrolle. Er guckt meine enduromäßig umgebaute BMW skeptisch an, nickt dann und wir fahren die Küstenstraße Richtung Osten. In Kaş parken wir die Motorräder am Hafen und Wowa führt uns zu einem Restaurant in einer kleinen Seitenstraße. Nach dem Essen geht’s in die Mavi-Bar, wo Jesus auf der Terrasse sitzt. Wir begrüßen ihn, stellen unseren neuen Tom vor und bestellen Bier.

Sa., 25. April 1987, Mavi-Bar (›neuer‹ Tom, Wowa, Gerd, Tom)
Der neue Tom erzählt von seinen Reiseplänen. Er will nach einer Woche Urlaub an der Küste zum Ararat und zum Vansee. Unser Tom grinst und sagt nur, »Wahnsinn.« Ich denke zum ersten Mal seit Tagen wieder an Jan, dessen Traum von Nepal in Van an der iranischen Bürokratie scheiterte, sage aber nur, »Warst Du da schon mal? Der Ararat soll wunderschön sein.« Tom schwärmt von seiner letzten Reise nach Ostanatolien während Wowa und Tom auf Englisch mit Elena und Aischa plaudern und sagt, er würde sehr gerne mal in den Iran und in den Kaukasus, beides ist leider zur Zeit nicht möglich. Natürlich muss auch ich dann meine Reisepläne vorstellen. Tom versteht sofort und fragt, ob ich das Tote Meer und Petra besuchen wolle. »Das Tote Meer wahrscheinlich schon, Petra eher nicht. Historische Stätten sind nicht so mein Ding. Troja und Pergamon hab ich ja auch rechts und links liegengelassen.«
»Meinst Du nicht, Deine BMW ist ein bisschen schwer für eine Saharadurchquerung?« - »Ja, vielleicht schon, aber jedenfalls ist sie zuverlässig. Und meine Sorge ist gar nicht Algerien, sondern das erste Stück Sudan von Wadi Halfa nach Khartoum wird schwierig, vor allem die Navigation.« - »Ach, das machst Du schon. Klingt doch alles durchdacht.« - »Ja, wird schon gutgehen. Aber Übermut tut selten gut.« Der neue Tom lacht. Endlich habe ich jemanden gefunden, dem ich meine Bedenken ausbreiten kann und der mir trotzdem zuredet. Endlich sind die Rollen vertauscht. »Kennst Du Ted Simon?« - »Sicher!« Jupiters Fahrt von Ted Simon war meine wichtigste psychlogische Resevorbereitung, natürlich eine Empfehlung von Heiko. Ted Simon ist in den ‘70ern auf einem völlig ungeeigneten Motorrad, einer 650 ccm Straßen-Triumph einmal rund um die Erde gefahren. Nach einer Menge von Wetter-, Dinge-verlieren- und Bürokratieproblemen hatte er im Nord-Sudan seine erste ernste Motorradkrise. Weder er noch sein Motorrad waren vorbereitet auf schlechte Pisten mit Sandverwehungen und schwierige Navigationsverhältnisse. Diese Etappe war die einzige, die meine mit Ted Simons Tour gemeinsam hatte. Obwohl ich sicher war, dass meine BMW für dieses Teilstück besser geeignet war als seine Triumph wusste ich von der Problematik. Ted Simon war seinerzeit völlig überrascht von den Schwierigkeiten. Insgesamt standen meine Chance also besser als die von Ted Simon und auch er war ja schließlich in Khartoum angekommen. Alle diese Gedanken teile ich mit Tom, der aufmerksam zuhört und dann und wann Zustimmung zeigt. »Aber vor dieser schwierigen Etappe muss ich überhaupt mal in den Sudan ’reinkommen. Die Landgrenze ist von ägyptischer Seite wegen irgendwelcher politischer Streitigkeiten seit Jahren geschlossen und von den beiden Fähren für Fahrzeuge ist letztes Jahr eine gesunken und die andere abgebrannt.
Theoretisch ist es wohl möglich auf der Personenfähre ein Motorrad als Gepäck mitzunehmen, aber erst letzte Woche hab ich jemanden getroffen, der gerade da war und in Kairo jemanden getroffen hat, der den Kampf gegen die ägyptische Bürokratie aufgegeben hatte.« - »Mist! Aber gib nichts auf solche Gerüchte. Die Wirklichkeit ist immer anders als die Geschichten, die erzählt werden.« Tom hat natürlich recht. Wie oft hatte ich auf meinen bisherigen Touren gehört, dass diese oder jene Route ›unmöglich‹ sei und sie dann problemlos befahren. Trotzdem besorgte mich dieses unberechenbare bürokratische Problem mehr als schlechte Straßenverhältnisse im Sudan oder die schwierige Navigation im Tchad. Tom kennt diese Zweifel, vor seiner ersten Tour zum Ararat wollten ihm das alle ausreden. Seine alte 500er XT sei untermotorisiert und nicht zuverlässig genug, die Kurden in der Osttürkei unberechenbar gefährlich und überhaupt sei der Weg viel zu weit, nur um einen Berg zu besuchen. Ich lache wissend. »Hör‘ auf, Du klingst ja wie meine Mutter.« Die mich allerdings trotz Angst und Bedenken immer in meinem Plan unterstützt hatte.
Der Ararat ist allerdings ein Klacks. Von hier aus nur noch soweit wie Barcelona von zu Hause. Ich bin fast ein bisschen neidisch auf Toms einfache Tour. Er scheinbar aber auch auf meine schwierige. Wieder sehe ich mich durch die spanischen und südfranzösischen Urlaubsgebiete als heimkehrender Abenteurer fahren. Meine Tour ist besser! Weil sie schwieriger ist. »Einfach kann ja jeder.« Tom nickt. »‘n Bier?« - »Sicher.« Tom geht zum Tresen, in der Bar läuft schon wieder Led Zeppelin. Wowa und Tom sind schon länger beim Bier und plaudern immer noch mit Elena und Aischa. Tom kommt mit zwei Bier zurück, ich biete ihm eine Maltepe an. Er schnalzt leise mit der Zunge. »Nee, ich bleib‘ lieber bei richtigen Marlboros.« - »Dieses Zungenschnalzen heißt ›Nein‹?« - »Ja, wie unser Kopfschütteln. Aber wenn jemand ablehnt, musst Du immer noch zwei Angebote machen. Das erste – und auch noch das zweite - Angebot anzunehmen, gilt als sehr unhöflich hier. Wie man auch das erste und zweite ›Nein‹ nicht ernstnehmen darf.« - »Meine Herr‘n! Das’s ja kompliziert.« - »Nicht mehr als bei uns, aber anders.« Tom grinst. »Wo bleibst Du den heute? Dein Mopped sieht so aus, als hättest Du noch nichts.« - »Weiß noch nicht. Wollte hier nach‘m billigen Hotel gucken.« - »Komm doch zu uns nach Patara auf den Campingplatz. Wowa und der andere Tom sind die Experten hier. Die empfehlen den und fahren da schon ewig immer wieder hin.« Tom guckt auf den Hafen und nickt langsam. »Wowa, wir haben einen neuen Nachbarn. Tom will auch nach Patara.« - »Gut. Dann geh‘ ich mal einkaufen und wir grillen heute noch mal.« - »Gril-len! Gril-len! Gril-len!« Wowa und ich lachen. Der neue Tom versteht den Witz noch nicht. Wowa steckt seinen Kram in die Jackentaschen, steht auf und geht Richtung Hauptstraße. Elena folgt ihm.
Abends gibt es Lammsteaks, die wir mit den Fingern direkt vom Grill essen. Dazu Rotwein, den ich wieder bei Jesus gekauft habe. Der neue Tom hat sein Zelt ziemlich weit entfernt von uns auf der - außer uns - immer noch völlig leeren Campingplatzwiese aufgestellt. Spät Abends als der Vollmond schon direkt über uns sein blasses Licht auf den Platz wirft, schwankt der neue Tom zu seinem Zelt. Wowa und sein Tom fahren morgen Nachmittag wieder los. Sie wollen sich nicht hetzen und rechnen eine Woche für die Heimreise nach Bonn.
Tag 18, Sonntag
Wie immer sitzen Wowa und Tom morgens in unserem Esszimmer und verteilen Kaffee, Fladenbrot und Marmelade. Ich setze mich dazu und nach zehn Minuten kommt auch der neue Tom zu uns.
»Ich werd’ übermorgen Früh auch los nach Antakya. Heute bleibe ich noch hier, morgen ziehe ich nach Kaş in ein Hotel um, dann komm ich morgens schneller los.« Seit sich die Türkei in Sachen Sprit, Essen und Unterkunft als billger als erwartet herausgestellt hat, bin ich auch mit meinem Budget etwas großzügiger geworden. Nach dem Frühstück mache ich mich an die geplante große Wartungsrunde.

So., 26. April 1987, Patara, Campingplatz, Motorradwartung
Heute kann ich auch den Tank abnehmen und so hinstellen, dass ich die Benzinhahnen abschrauben kann, ohne dass Benzin ausläuft. In den Sieben hängen kleine Rostflocken – offenbar noch Reste von den Schweißarbeiten im letzten Herbst. Und tatsächlich sind die kleinen Röhrchen, die auf den beiden Ausläufen für Normal und Reserve sitzen, falsch herum montiert, so dass die Oberkante des Röhrchens für Reserve schon längst im Trockenen steht, wenn das Röhrchen für Normal kein Benzin mehr ziehen kann. Ich tausche die Röhrchen und hoffe, damit das Benzinhahnproblem endgültig gelöst zu haben. Natürlich nutze ich die Gelegenheit des halb gestrippten Motorblocks auch für Ölkontrolle, eine weitere Überprüfung der Zündung und zum Einstellen der Ventile. Das Ventilspiel ist fast rundherum sehr gut, nur die Einlässe auf beiden Seiten sind ein halbes Zehntel zu weit und auch die Zündkontakte sehen wesentlich besser aus als letzte Woche in Assos. Wahrscheinlich war der Kontaktabstand schon in Hannover zu weit und die Autobahnhetze nach München hat zu erhöhtem Kontaktabbrand geführt. Im Moment sieht der Kontakt so gut aus, dass ich ihn in Antakya wohl doch nicht austauschen muss. Wowa und Tom haben inzwischen ihr Zelt abgebaut und rollen eben Isomatten und Schlafsäcke zusammen. Ihre Küche und unser Esszimmer sind bereits in den Ledertaschen der beiden Intruder verstaut. Als alles aufgepackt ist, verabschieden wir uns herzlich. Ich muss versprechen, mich bei Wowa zu melden, sobald ich wieder zu Hause bin.
Als die beiden winkend vom Zeltplatz gerollt sind, setze ich mich mit dem neuen und nun einzigen Tom auf die Wiese. »Die beiden sind echt spitze. Ohne Sie hätte ich das alles hier nie gesehen.« - »Wollen wir nachher mal zum alten Patara wandern?« Ich sage, was ich immer sage. »Ach, sind doch nur alte Steine.« Bin aber inzwischen doch neugierig auf die antike Stadt, die nur eine Viertelstunde von uns entfernt am Meer liegt. »Mein Reiseführer sagt, der Strand soll cool sein.« - »Ok, lass uns einfach mal gucken gehen.«

So., 26. April 1987, antikes Patara,
Eine halbe Stunde später stehe ich staunend vor den Ruinen von ein paar Tempeln und einem Amphitheater, die allesamt schon mehr als halb von den Dünen verschluckt sind. Tom spendiert Wissen aus seinem Reiseführer: »›Die einst blühende Handelsstadt und einer der wichtigsten Marinestützpunkte des hellenistischen Reiches verlor seine Bedeutung, weil der Hafen schon in der Antike durch Sandablagerungen des Xanthos, der hier ins Meer fließt, begann zu verlanden, trotzdem war Patara noch im Römischen Reich ein wichtiger Verbindungshafen zwischen dem westlichen und dem östlichen Mittelmeer.‹ Blablabla... Im Mittelalter war die Stadt bereits verlassen und tauchte nur noch als Schauplatz einer der letzten Angriffe des inzwischen von Jerusalem nach Rhodos geflohenen Johanniterrordens gegen die Osmanen in den Geschichtsbüchern auf. Und der Nikolaus wurde hier geboren!...« - »Dollet Ding! Aber guck mal, die Inschriften und gravierten Wappen sehen noch fast aus wie neu.« Wir stehen vor einem großen roten Sandsteinblock, der nur noch einen guten Meter aus den Dünen ragt. Halb vom Sand verdeckt ist ein sehr gut erhaltenes Wappen mit einer Harfe oder einem Dreizack mit Meereswellen zwischen den Zacken zu sehen. »Dichter und Musiker oder nur Poseidon, was meinst Du.« - »Ähh, Poseidon.« Tom guckt in sein Buch. »Nee, die griechische Lyra!«
Wir stehen noch vor dem roten Sandsteinblock, von hier aus ist das Meer und der lange helle Sandstrand zu sehen. Der Strand ist aber noch etwa einen Kilometer entfernt und trotz diesigen Himmels ist es heute richtig warm. Wir beschließen, nicht an den Strand zu laufen und stattdessen auf ein Bier in die Mavi-Bar zu fahren und dann in Kaş zu essen.

So., 26. April 1987, Patara Plaji
Wir parken unsere Motorräder wie immer vor dem kleinen Rasen am Hafen von Kaş, Tom geht schon vor zur Mavi-Bar, ich muss noch zu der Bank auf der Hauptstraße, um D-Mark in türkische Lira zu tauschen, dann folge ich ihm. Während ich an der niedrigen Hafenmauer entlang gehe, ruft hinter mir jemand, »Hey, Du arbeitest doch auch im BAD?« Ich bleibe stehen und drehe mich um. Tatsächlich habe ich den größten Teil des letzten Sommers in Hannover in einer Disco namens BAD gearbeitet, ein ehemaliges Freibad zwischen den Herrenhäuser Gärten und der Leine, das zu einem Musik-Veranstaltungszentrum umgebaut worden war. Ich hatte dort den Großteil meiner Reisekasse verdient und hatte mich mit einem der beiden Besitzer angefreundet. »Schon länger nicht mehr, und Du jetzt auch?« - »Markus, ich bin da seit Herbst an der Bar. Hab dich ‘n paar Mal mit Ronald am Tresen quatschen sehen.« - »Die Welt ist ein Dorf! Unglaublich. Trinkst‘n Bier?« - »Nee, Danke, muss weiter. Meine Freundin wartet schon. Eske, die kennst Du wahrscheinlich noch.« - »Ja, sicher. Grüß‘ sie schön von Gerd.« Ich gehe in die Mavi-Bar. Tom sitzt an unserem Tisch von gestern mit zwei Gläsern Bier vor sich. Ich erzähle ihm von dem Überraschungstreffen. Er arbeitet in einer Bar mit Livemusik in Bremen. »Da sind wir also auch Kollegen.« - »Na, nicht wirklich, im BAD war ich nur Gläsersammler und hab‘ das Catering für Bands und Mitarbeiter gemacht.« - »Ich mach in Bremen die Technik. Sound, Licht und so.«
Wir verplaudern den Nachmittag bis es anfängt, dunkel zu werden. Dann gehen wir in das kleine Restaurant, in das Wowa uns gestern zum Mittagessen geführt hat. Es gibt mal wieder eine Grillplatte und wir trinken Flaschenbier.
Tag 19, Montag
Morgens auf dem Campingplatz müssen wir zum ersten Mal unseren Kaffee selber kochen. Ich packe also meinen DDR-Benzinkocher aus, heize ihn mit ein paar Tropfen Benzin vor und zünde das verdampfende Benzin an. Tom hat eine kleine Alu-Espressokanne dabei, die ich auf den wie ein wütender Drache schnaufenden Kocher stelle, nach zwei Minuten ertönt das gurgelnde Geräusch, das anzeigt, dass der Kaffee fertig ist. Wir trinken unseren Kaffee zu ein bisschen Fladenbrot, das wir gestern Nachmittag in Kaş gekauft hatten. Marmelade gibt es heute keine. Aber wir sind mit unserem Frühstück zufrieden.
Ich räume mein Zelt aus und packe Isomatte und Schlafsack zusammen. Das Zelt ist schnell abgebaut und die einzelnen Teile in den diversen Säcken verstaut. Bevor ich aufpacke drehe ich noch eine kurze Inspektionsrunde um das Motorrad. An der Ablassschraube des Hinterachsgetriebes hängt ein kleiner Tropfen Öl. Ich ziehe die Schraube vorsichtig etwas fester und vermerke im Kopf, beim nächsten Ölwechsel die Kupferdichtscheibe zu tauschen. Zuerst muss ich jetzt die Alukoffer packen und die Benzinkanister wieder in ihren Haltern befestigen, dann kommt der Tankrucksack und zuletzt die Gepäckrollen. Bevor ich meinen Rucksack hinter dem Tankrucksack festzurre, setze ich mich noch kurz zu Tom auf die Wiese, die nun fast völlig leer ist. Während wir verabreden, uns abends in Kaş zu treffen, um ein letztes Mal zusammen zu essen, laufen der Sohn und die beiden Töchter des Campingplatzbesitzers auf die Wiese und beginnen, Fußball zu spielen. Die größere ist alt genug, um schon ein Kopftuch tragen zu müssen. Die kleinere hat halblanges ziemlich vefilztes braunes Haar. Ich frage die große, die ein bisschen Deutsch spricht, ob ich Photos machen darf.

Mo., 27. April 1987, Patara, Campingplatz
Sie stellt sich in Positur und führt ihre Fußballtricks vor. Die kleine guckt ihrer Schwester beeindruckt zu. Schließlich packe ich die Kamera ein, ziehe meine Jacke an und gehe zur Rezeption, um zu bezahlen. Inzwischen erschrecken mich die hohen Zahlen auf den türkischen Rechnungen nicht mehr. Die Umrechnung in D-Mark ist für mich bereits fast automatisch geworden. Ich verabschiede mich von Tom bis heute Abend. Halstuch, Nierengurt, Jacke, Helm, Handschuhe, BMW ankicken und los. An der kleinen Brücke über unserem Strand stoppe ich noch mal kurz, denke an die letzten entspannten Tage mit Wowa und den beiden Toms, und weiter geht's nach Kaş. In der Mavi-Bar frage ich Jesus nach einem netten Hotel.

Mo., 27. April 1987, Mavi-Bar, ›Jesus‹
Er schickt mich auf den Hügel nahe der Moschee und sagt, ich solle nach der Pansiyon Baçi fragen. Ohne Probleme finde ich die Pension und miete mich für eine Nacht ein. Ich gehe zurück zum Hafen und bringe die BMW zur Pension. Der Besitzer besteht darauf, dass ich sie im engen Innenhof abstelle. Ich bringe mein Zeug für eine Nacht in das kleine Zimmer und bezahle für die Nacht im Voraus, dann wandere ich wieder zurück zum Hafen. Ich setze mich auf die Kaimauer gegenüber der Mavi-Bar und gucke, ob ich Markus oder Eske irgendwo sehe. Jesus kommt mit einem Bier herüber und fragt, ob in der Pension alles geklappt hat. Ich bedanke mich für den Tipp und das Bier. Er setzt sich für eine Zigarette zu mir auf die Mauer. Dann hören wir Toms XT die Hauptstraße herunterkommen. Jesus geht zurück zur Arbeit, ich warte auf Tom und dann sitzen wir wieder auf der Terrasse der Mavi-Bar. Ich erzähle Tom von der Pension und zeige rüber zum Hügel. »Na, Du willst ja eh morgen früh los. Bei Sonnenaufgang wird der Muëzzin dich wecken.« - »Stimmt, hab‘ ich gar nicht d‘ran gedacht. Aber passt mir gut. Dann schaffe ich morgen wenigstens was.« Nach zwei Bier, zahlen wir und gehen am Hafen entlang, um uns ein Restaurant zu suchen. Wir essen Fisch und ich berichte von den gelpanten Etappen für die nächsten zwei Tage. Morgen will ich versuchen, möglichst bis kurz vor Adana zu kommen, damit ich übermorgen rechtzeitig in Atakya ankomme, um mir einen guten Platz für die Vorbereitung für Syrien zu suchen. »Bis Antakya sind es gut 900 Kilometer, ich will morgen mindestens 600 davon schaffen.« - »Die Küstenstraße ab hier ist ganz schön busy, wird schwierig.« - » Na, ja. 5-600 sollte ich schaffen.« - »Irgendwo vor Mersin, also. Sollte gehen.« Ich rechne für Landstraßen über den Tag immer noch mit einem Stundenschnitt von 80 km/h. Tom ist da realistischer und sagt, wenn man nicht trödelt, kann man über den Tag 60 km/h schaffen. Mit einer Mittagspause und ein paar Photos wären 600 km also rund zwölf Stunden. Ab morgen werde ich das genauer beobachten, um in Zukunft meine Tagesetappen realistisch zu planen. 60 km/h im Tagesdurchschnitt hatte ich bisher für unbefestigte Pisten als Basis genommen. Wenn Tom recht hat, muss ich ab Assuan wohl eher mit einem Stundenschnitt von 40 oder 50 km rechnen. Wenn ich mal wieder ein paar Tage Ruhe habe, muss ich den restlichen Reiseplan mit den Werten der nächsten Tage noch mal neu rechnen. Ich habe auf Toms Rat hin ızgara çipura bestellt, eine gegrillte Dorade, die fast noch besser ist als in Assos. Wir bestellen zwei Raki, nachdem der Kellner uns unaufgefordert Çay und Baklava gebracht hatte. Es ist noch nicht Mitternacht als wir bezahlen und zurück Richtung Hafenplatz gehen. An Toms XT tauschen wir unsere heimischen Telefonnummern aus und verabschieden uns. Ich gehe langsam den Hügel hinauf und bin um 1 Uhr im Bett. Den Wecker stelle ich nicht, weil die Moschee nur hundert Meter entfernt ist und mich der Muëzzin sowieso wecken wird.
Tag 20, Dienstag
Im Zimmer ist es noch dunkel als mir ein Lautsprecher in einer eigenwilligen Melodie mitteilt, dass Allah groß ist. Genau genommen ›größer‹ und ›am größten‹. Das Arabische unterscheidet nicht zwischen Komparativ und Superlativ – wie ich bei den Reisevorbereitungen gelesen habe. Ich gehe unter die Dusche, putze mir die Zähne, suche meine Sachen zusammen und gehe so leise wie möglich ‘runter in den Hof. Ich packe die BMW und ziehe meine Motorradklamotten an. Die Stiefel binde ich hinten auf die Gepäckrollen und fahre heute in Basketballschuhen. Gerade als ich überlege, ob ich die BMW im Hof oder besser erst auf der Straße starten soll, wird mit großem Geklapper das Hoftor aufgeschlossen. Der Besitzer kommt von der Moschee zurück, wir begrüßen und verabschieden uns gleich wieder. Er legt noch den Finger über die Lippen und ich schiebe die BMW auf die Straße, die so steil abfällt, dass ich sie einfach bis zum Hafen rollen lasse. Ich parke direkt vor der Mavi-Bar. Jesus steht hinter’m Tresen und zeigt fragend auf seine Kaffeetasse. Ich nicke und setze mich auf die Terrasse. Gegen Mittag parkt Tom seine XT vor der Terrasse. »Hey, was machst Du denn noch hier?« - »Ich war um halb acht abfahrbereit, bin aber irgendwie nicht los gekommen.« - »Auch nicht schlecht! Ha Ha Ha.«
Jesus hatte mir den Milchkaffee zum Tisch gebracht und sich zu mir gesetzt. Wir plauderten über die politische Situation in der Türkei und über unsere Leben. Um neun wurde mir klar, dass ich erst morgen losfahren würde. Um halb zehn kam Jesus‘ Kollegin, um die Vormittagsschicht zu übernehmen, Jesus ging zum Einkaufen. Nach einer Stunde kam er zurück und fragte, ob ich frühstücken wolle. »Wir haben ab heute ein kleines Frühstück auf der Karte.« - »Du willst Dich den Touristen anpassen?« - »Nee, dem, was meine Gäste wollen.« - »Ok, ich nehm‘ ein kleines Frühstück.« Kurz danach kam Jesus mit einem Stück gerösteten Fladenbrot und einem Rührei mit kleinen geschmolzenen Fetastückchen. »Willste noch ‘n Kaffee?« Ich lächelte ihn an und nickte.
Tom setzt sich zu mir und guckt auf den Teller mit dem Rest meines Frühstücks. »Sowas will ich auch! Gibt’s hier jetzt auch Frühstück?« - »Seit heute. Hat er vorhin erfunden.« Ich deute zu Jesus, der am Nebentisch sitzt. Tom bestellt ein Frühstück. Wir plaudern weiter bis die ersten Gäste für ihr Nachmittagsbier ercheinen. Nach ein paar Bier ist es Zeit, dass wir uns Gedanken über das Abendessen machen. Tom und ich beschließen, wieder in das Fischrestaurant von gestern zu gehen, vorher fahre ich die BMW noch kurz in die Pension und verlängere mein Zimmer für eine weitere Nacht. Im Restaurant bestelle ich heute die gegrillten Tintenfische, die Tom gestern hatte.
Wieder ist das Essen ausgesprochen gut und die Kellner noch freundlicher als gestern – wir werden bereits wie alte Freunde behandelt. Nach dem Çay gehen wir langsam zurück zur Mavi-Bar, wo Toms XT seit heute Morgen steht. Wir verabschieden uns nochmals. »Viel Glück beim losfahren morgen.« - »Danke. Und Dir ‘ne gute Zeit am Ararat. Und gute Fahrt! Komm heil nach Hause.« Wir umarmen uns kurz und ich gehe zu meiner Pension.
Tag 21, Mittwoch
Zum Sonnenaufgang weckt mich wieder der Muëzzin, ich dusche, packe zusammen und treffe wieder den Pensionswirt im Hof als ich das Motorrad reisefertig mache. Ich schiebe die Fuhre auf die Straße und lasse mich den Hügel herunterrollen, kurz vor dem Platz am Hafen lege ich den zweiten Gang ein und lasse die Kupplung kommen, das Motorrad bremst ab und der Motor springt an. Am Platz biege ich links auf die Hauptstraße ab.
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Mi., 29. April 1987, Kaş - Alanya
Um sieben Uhr bin ich auf der Landstraße, die zunächst ein paar Kilometer durch die Berge führt. Die Straße ist in sehr gutem Zustand und die Kurven passen der BMW genau. Kurz nach dem flüssigen Aufstieg in die Berge ist auf einem Plateau die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt und eine geschotterte Umleitung führt parallel neben der Landstraße entlang. Meine erste längere Strecke ohne Aspahlt unter den Reifen. Zehn Kilometer türkische Schotterpiste als Vorgeschmack auf Afrika. Ich fühle mich frei und so gut wie lange nicht mehr. Ich habe die Tage in Assos und Kaş sehr genossen, bin aber froh jetzt endlich wieder auf meiner Reise zu sein. Viel zu lange war ich im Urlaubsmodus, jetzt wird es Zeit in den Reisemodus zurückzufinden. Der Badeurlaub ist zu Ende! Hinter Finike an einem Café neben einem Aussichtspunkt über die Steilküste steht eine hellblaue XT 600 und ich denke, Tom sei auch heute früh losgefahren, aber daneben steht noch eine rot-weiße Honda. Ich halte für einen Çay und plaudere mit den beiden Schweizern, denen die Motorräder gehören. Sie machen eine Rundtour durch das westliche und zentrale Anatolien, wollen heute nach Alanya für ein paar Tage Badeurlaub und dann nach Kayseri und Göreme in Kappadokien. Es ist erst Mittag, aber ich bin schon müde wie nach 1000 km Autobahn, außerdem habe ich heute morgen in den Bergen hinter Kaş einen meiner Lederstiefel verloren, der hinten auf das Gepäck geschnallt war. Kurz überlege ich, zurück zu fahren, um den Stiefel zu suchen, aber dann wäre der ganze Tag verschenkt. Stattdessen beschließen wir bis Alanya zusammen zu fahren. Am Ende der steilen Bucht führt die Straße geradeaus weiter in die Berge. Als das Meer wieder in Sicht kommt, fängt es an zu regnen. Wir fahren die Ostküste der großen Bucht von Antalya entlang nach Norden und die schwarzen Wolken vor uns lassen nicht hoffen, dass der Regen bald aufhört. Im von deutschen Touristen überlaufenen Antalya halten wir an einem Restaurant für ein spätes Mittagessen und um uns ein bisschen zu trocknen und aufzuwärmen. Meine Füße quietschen in den Kunstlederturnschuhen. Das Wasser vom Vorderrad spritzt an die Schienbeine, läuft von dort die Lederhose herunter, die Socken saugen es auf und verteilen es gleichmäßig in den Schuhen. Wochenlang bin ich bei meist gutem Wetter in den dicken Knobelbechern vom THW gefahren, heute morgen verliere ich einen und schon fängt der Regen an. Ich erzähle das Roman und Stevie. »Murphy’s Law«, sagt Roman und lacht. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich lustig ist, die nächsten 30.000 km in Turnschuhen zu fahren. Spätestens, ab da, wo der Teer aufhört, wären stabile Stiefel besser und sicherer. Ich habe den beiden bis jetzt nur erzählt, dass ich nach Antakya und dann vielleicht nach Syrien will, von Afrika wissen sie noch nichts. Im Moment interessieren mich aber tatsächlich mehr meine nassen Füße und die nasse Lederhose, die an den Plastikstühlen festklebt. Die Speisekarten hier haben deutsche Erklärungen unter den türkischen Namen der Gerichte. Als wir uns setzen begrüßt der Kellner uns ohne weitere Frage auf Deutsch, unaufgefordert zählt er auf, wie lange er in welcher Stadt für welche deutsche Firma gearbeitet hat. Ich höre kaum zu, ›Bosch, Mercedes, Audi‹ rauschen an mir vorbei. Wir bestellen eine Grillplatte für zwei Personen und essen sie zu dritt. Dazu trinken wir Cola, und hinterher natürlich jeder noch einen Çay ›auf’s Haus‹. Der Kellner spricht mit einem starken südwestdeutschen Akzent, jeden Satz beendet er mit einem ›gelt?‹. Alle paar Minuten versuchen wir, von unserem Tisch aus den Himmel zu sehen und geben eine Wetterprognose ab. Wir beschließen, dass wir schon in Side nach einer Unterkunft suchen wollen, wenn es nicht aufhört zu regnen. Side passt für Roman und Stevie sowieso besser, weil sie von dort aus direkt ihren Weg landeinwärts nach Konya nehmen können. Hinter Antalya führt die Straße ein paar Kilometer landeinwärts auf der Küstenebene Richtung Osten entlang. Als wir uns 20 km vor Side wieder dem Meer nähern hört der Regen auf und wir fahren am Abzweig nach Side vorbei. 15 km später am Abzweig nach Konya fängt der Regen wieder an. Wir stoppen kurz und besprechen, dass wir noch bis Alanya fahren und dort übernachten. In den wenigen kleinen Ortschaften, die wir passieren, brennt bereits die Straßenbeleuchtung, obwohl es erst Nachmittag ist. Über dem Meer rechts von uns hängen niedrige schwarze Wolken und die Berge links von uns sind unsichtbar im dichten Regen. Gegen 6 oder 7 fahren wir ins hell beleuchtete Alanya ein. Im Ortszentrum folgen wir dem Schild zu einem ›Tourist-Hostel‹. Wir parken die Motorräder auf dem Gehweg vor dem Hotel, schnappen uns unser wichtigstes Gepäck, der Mann an der Rezeption spricht Deutsch und wir nehmen ein Vierbett-Zimmer für eine Nacht. Das Zimmer in der dritten Etage hat zwei Doppelstockbetten, das Bad ist am Ende des Flures. Nicht schön, aber trocken und sogar die Heizung funktioniert, so dass wir unsere Sachen zum Trocknen darüber hängen können. Ich schäle mich aus der nassen Lederhose und gehe über den Flur, um eine heiße Dusche zu nehmen. Das heiße Wasser ist allerdings schon nach drei Minuten zu Ende und damit ist auch die Dusche vorzeitig beendet. Zurück im Zimmer ziehe ich mir trockene Sachen an und berichte von der kalten Dusche. Roman meint, wir sollten irgendwo was essen und sehen, ob hinterher vielleicht wieder warmes Wasser kommt. Ich muss also wieder in die nassen Turnschuhe und wir gehen ‘runter auf die Straße. Es nieselt inzwischen nur noch ein bisschen. An der Strandpromenade finden wir einen Kiosk, der Pizza und Bier verkauft. Da wir erst vor ein paar Stunden Mittag hatten, reicht jedem von uns ein Stück Pizza und ein Bier. Vorsichtshalber nehmen wir noch zwei Bier für jeden mit aufs Zimmer. Als erstes ziehe ich die nassen Turnschuhe und die inzwischen auch wieder nassen Socken aus. Roman testet die Dusche, da er nach einer Zigarette noch nicht zurück ist, scheint es wieder warmes Wasser zu geben. Stevie und ich öffnen uns je ein Efes und erzählen uns unsere besten Geschichten über Motorradfahrten bei schlechtem Wetter. Meine Nachtfahrt von Hannover nach Hamburg bei Null Grad und Nieselregen, der auf dem Visier gefriert, kann er mit einer Urlaubsrückfahrt von ihm und Roman aus Italien im Spätsommer toppen, als sie zwischen Mailand und Lugano wegen Schnee in einem Hotel übernachten mussten und am nächsten Morgen das ganze Tal eingeschneit war und sie dort vier Tage festsaßen. »Immerhin war’s ‘n komfortables Hotel mit gutem Restaurant und der TCS hat die Kosten für die drei Extra-Tage übernommen.« - »Gut zu hören. Ich hab auch ‘n TCS-Schutzbrief.« Ich erkläre Stevie, wieso ich als Deutscher einen Schutzbrief beim Schweizer Touring Club, statt beim ADAC abgeschlossen habe. Roman kommt zurück. »Is‘ noch Wasser übrig oder muss ich bis morgen warten?« - »Ähh, ich glaub morgen is‘ besser, wurde schon merklich kühler am Ende. Hab‘ eben noch das Shampoo aus den Haaren bekommen.« - »Kein Problem. Bier wärmt ja auch.« Stevie lacht und macht ein Bier für Roman auf. »Gerd hat eben erzählt, dass er einen Schutzbrief vom TCS hat, weil er dem ADAC nicht traut. Verrückt, oder?« - »Ach, ich find‘ diese Schweiz-Lobhudelei nervig. Das geht schon hiermit los!« Roman zieht seinen roten Pass aus der Brieftasche. »Alle sind verrückt nach diesem Ding. Ich würde gerne mal mit irgend’nem anderen Pass reisen, würde auch keinen Unterschied machen. Wenn irgendwer fragt, wo ich herkomme, sage ich manchmal Deutschland oder Österreich. Wenn ich Schweiz sage, flippen immer alle aus. Das nervt einfach nur.« - »In der Türkei ist Deutschland aber meistens auch ein Grund auszuflippen. Denk an den Kellner vorhin.« Tatsächlich geht mir das fast unterwürfige Verhalten der Türken gegenüber Deutschen immer mehr auf die Nerven. In Assos und Kaş war ich einfach nur normaler Tourist, Wowa und Tom waren Stammgäste. Hier an der mehr östlichen Mittelmeerküste werden blonde Touristen fast automatisch auf Deutsch angesprochen, fast immer kommt dann eine Kurzbiographie mit den Arbeits- und Lebensstationen in Deutschland, manchmal noch ein Lob auf die hübschen blonden Frauen. Die mittlere und östliche Mittelmeerküste kann diese gebeugte Haltung landschaftlich leider auch nicht ausgleichen, im Gegenteil wird hier die natürliche Schönheit der Gegend entweder mit Industrieanlagen oder Betonklötzen zur Touristenbeherbung verschandelt. Zum Glück bin ich schon in ein paar Tagen in Syrien und kann das Türkei-Kapitel zuschlagen.
Wir ziehen von dem unbesetzten oberen Bett an der Wand zum Flur in unsere eigenen Betten um, machen jeder unser letztes Bier auf und das Gespräch wird langsamer. Ich schreibe die heutige Strecke in meinen Kalender, muss morgen früh noch den Kilometerstand nachtragen.
Tag 22, Donnerstag

Do., 30. April 1987, Alanya - Viranşehir
Ich wache vom Ratschen der Gardinenrollen in ihrer Schiene auf. Roman steht am Fenster und sagt »Sonne!« Stevie und ich springen aus unseren Betten. Ich gehe zur Heizung und befühle meine Motorradklamotten. Bis auf den Hintern der Lederhose und ein paar Stellen an der Jacke ist alles fast wieder trocken, sogar die Turnschuhe. Stevie geht duschen. Ich blicke aus dem Fenster auf ein kleines Stück der Strandpromenade. Hinter der Straße und dem Gehweg mit den Kiosken ist ein breiter Sandstrand zu sehen. Kein Wunder, dass gerade dieses Stück der türkischen Mittelmeerküste sich als Lieblingsziel für deutsche und holländische Pauschaltouristen etabliert hat.
Wir machen uns abreisefertig, auch die Klamotten von Roman und Stevie sind weitgehend getrocknet. Die beiden wollen heute aber nur ein paar Kilometer zurück die Küste hoch zu einem Campingplatz. Ich hoffe, heute wenigstens bis Mersin zu kommen. Ohne Regen sollte der Stundenschnitt deutlich besser werden als gestern, obwohl ich gestern für einen Regentag doch eine ganz ordentliche Strecke geschafft habe.
Wir tragen unsere Sachen zur Rezeption, bezahlen unsere Rechnung und packen die Motorrädern auf. Wir gehen zur Promenade und suchen uns einen Kiosk zum Frühstücken. Um halb Zehn sind wir alle wieder auf unseren Wegen. Mein Hintern ist schon wieder nass, weil das Fell auf dem Sitz sich gestern so mit Wasser vollgesaugt hat, dass es über Nacht nicht trocknen konnte.
Ich folge der Küstenstraße Richtung Südost. Nach 40 km stehen rechts am Straßenrand zwei BMWs. Laut Kennzeichen aus Norddeutschland, Rotenburg zwischen Hamburg und Bremen. Das Pärchen steht neben den Moppeds und macht Photos von den Bergen. Ich stoppe und sehe auf dem Berg links von uns eine Burgruine. Ich bocke die BMW auf, winke einen Gruß zu den beiden und setze mich auf einen kleinen Felsen neben der Straße. Die Maltepe aus Kaş in meiner Jacke sind noch durchnässt von gestern. Das letzte Päckchen Lucky Strikes, das ich heute morgen im Tankruck gefunden habe, habe ich vorsorglich wieder dort regensicher verstaut. Ich hole mir die Luckies und zünde eine an. Während ich die Zigaretten zurück zum Motorrad bringe, kommt die Frau auf mich zu. Angekommen sagt sie, »Hallo, ich bin Bylle. Wo willst’n hin? Biste gestern auch in den Regen gekommen?» - Ja, allerdings. Den Weltuntergang konnte man ja gar nicht verfehlen. Ich heiß‘ Gerd und fahre nach Syrien. Heute bis Mersin oder so.« - »Super, da können wir ja ‘n Stück zusammen fahren.« Sie geht zurück zu ihrem Mann und beide kommen nochmal zu mir. Er stellt sich als Uli vor. Sie fahren beide ziemlich neue 80 STs, 800 Kubikzentimeter und irgendwo in der Mitte zwischen G/S und Straßenmotorrad. Etwas billiger als die G/S, deutlich unauffälliger und nach meiner Einschätzung eine gute Wahl für einen Urlaub in der Türkei. Uli guckt sich neugierig meine umgebaute BMW an, sagt aber nur, »60/5?« - »Ja, Baujahr ’73, zehn Jahre bei der Polizei, nach einem Unfall ’83 ausgemustert und seit ’85 meine.«
»Männer, weiter geht’s!« Bylle setzt sich auf ihre ST und drückt den Starter. Uli und ich ziehen uns an, setzen die Helme auf und los gehts. Hinter Gazipaşa windet sich die Straße ein Flusstal hinter dem ersten Riegel des Küstengebirges hinauf. Nach 30 km erreichen wir nach vielen Kehren einen niedrigen Kniepass. Uli hat die Führung übernommen, er geht den Pass wie einen Wettbewerb an, bremst spät, beschleunigt früh und stark. So erreicht er den Pass eine halbe Minute vor uns. Er denkt vermutlich, er hat mehr Spaß, ich denke, er hat mehr Stress, verbraucht mehr Sprit und mehr Reifen. Bylles Stil ist runder und ausgewogener, sie fährt direkt vor mir und der Abstand zwischen uns pendelt sich auf sichere fünfzig Meter ein. Im Tal passieren wir in einer Ortschaft einen kleinen Fluss und es geht wieder hinauf zum Kap Anamur. Hinter dem Kap und dem Abzweig zur gleichnamigen Stadt führt die Straße an einem Sandstrand entlang - und es fängt wieder an zu regnen, erst nur ein Schauer, der sich nach zwei Minuten in einen heftigen Gewittersturm verwandelt. Dicke schwarze Wolken ziehen vom Meer gegen die Berge. Nach 20 ziemlich flachen Kilometern windet sich die Straße wieder die Berge hinauf. Dieses Mal will Bylle Uli offenbar zeigen, dass sie auch racen kann, wenn sie will. Die beiden sind auf der kurvigen, nassen Bergstraße schnell außer Sichtweite. Auf dem Pass haben Bylle und Uli für ein Photo gestoppt. Ich will im Regen nicht anhalten und fahre mit kurzem Hupen weiter. Ich fahre absichtlich langsam, weil ich der nassen Straße nicht traue und weil ich sowieso lieber bergauf als bergab fahre und natürlich, damit sie eine Chance haben mich schneller wieder einzuholen. Nach dem nächsten Flusstal geht es einen weiteren Küstenpass hinauf. Alle paar Dutzend Kilometer verweist eine Burgruine auf die ehemalige strategische Bedeutung dieser Küste zur Versorgung der westeuropäischen Kreuzritter - oder zur Unterbrechung dieser Versorgung. Die letzte Abfahrt bringt mich auf eine weite Küstenebene. Bylle und Uli sind immer noch nicht in Sicht. Ich habe inzwischen Hunger und will kurz etwas abtrocknen, ich halte an einer Lokanta an der Straße und setze mich für ein kleines Mittagessen auf die überdachte Terrasse. Ich esse einen Bohneneintopf und trinke hinterher den obligatorischen Tee und höre wieder die deutsche Erwerbsbiographie eines ehemaligen Gastarbeiters. Dieses Mal immerhin ohne süddeutschen Akzent. Er hat acht Jahre bei VW in Hannover-Stöcken gearbeitet, ist seit zwei Jahren wieder hier, weil sein Vater gestorben ist und er sich um seine Mutter kümmern will. Als er den Tee bringt, fahren Bylle und Uli vorbei, ohne mein Motorrad am Straßenrand zu sehen. Ich lasse sie ziehen, trinke in Ruhe meinen Tee aus und mache mich wieder auf den Weg. Bis Mersin sind es keine 100 km mehr, ich habe mein Tagesziel fast erreicht – allerdings auch das von gestern...
10 km vor Mersin weist ein Schild nach rechts zu einem Strand und einem ›Motel/Camping‹. Ich biege ab. Der Campingplatz liegt verlassen auf einer Wiese am Strand, in der Rezeption brennt Licht. Ich buche für unglaublich teure 5.000 türkische Lira ein Motel-Zimmer, das tatsächlich eher eine Beton-Garage ist, aber in jedem Fall besser, als für 3.000 Lira im Regen das Zelt aufzubauen. Ich parke die BMW in meinem ‹Zimmer‹, rolle die Isomatte aus und suche in meinen Vorräten nach etwas zu essen. Schließlich kaufe ich an der Rezeption eine Packung Kekse, nach dem verspäteten Mittagessen sollte das reichen. Ich ziehe die nassen Klamotten aus und breite sie auf dem Motorrad zum Trocknen aus. Ich notiere die heutige Etappe in meinem Kalender und studiere die morgige auf der Karte, nur noch knapp 250 km bis Antakya. Mein Grenzübergang nach Syrien ist gerade nicht mehr auf meiner Türkeikarte abgebildet. 25 km südwestlich von Antakya finde ich einen kleine Stadt am Mittelmeer, die mir als guter Ort für die Vorbereitung für Syrien und Jordanien erscheint. Ich fahre morgen also die 250 km nach Samandağ im Hatay. Zuhause hatte ich gelesen, dass die Provinz Hatay noch immer zwischen Syrien und der Türkei umstritten ist. Auf westlichen Karten ist sie Teil der Türkei, auf arabischen Teil Syriens. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches fiel Hatay zusammen mit Syrien unter französische Verwaltung, für kurze Zeit Ende der 1930er war Hatay unter französischem Protektorat eine selbständige Republik, die sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg trotz arabischer Bevölkerungsmehrheit der türkischen Republik anschloss. Es gibt noch immer eine große christliche Minderheit und die muslimische Mehrheit ist wie in Syrien alevitisch, nicht wie in der restlichen Türkei sunnitisch. Ich weiß aus Büchern und von türkeistämmigen Bekannten aus Hannover, dass die meisten Aleviten eine gemäßigtere Auslegung des Korans praktizieren. Hatay ist also nach meiner Erwartung offener und weniger religiös geprägt als der Rest der Türkei.
Nachts wache ich davon auf, dass der Regen aufgehört hat, auf das Wellblechdach zu trommeln.

Fr., 1. Mai 1987, Viranşehir - Samandağ
Am Morgen ist der Strand und die Wiese des Campingplatzes immer noch verlassen, aber im Sonnenlicht nicht mehr ganz so traurig wie gestern. Ich packe zusammen und ziehe die feuchten Motorradklamotten wieder an, was das graue Gefühl von gestern sofort zurückbringt. An der Landstraße finde ich ein kleines Café, wo ich für einen Tee und zwei Stücke Baklava halte. Vor Mersin zweigt eine vierspurige Umgehungsstraße ab, die hinter der Stadt zur Autobahn nach Tarsus und Adana wird. Wobei Autobahn hier nur heißt, dass ein Dutzend Meter von der Landstraße entfernt eine zweite parallele gebaut wurde, damit zwei Spuren für jede Richtung vorhanden sind. In Tarsus erregt ein schwarzer Datsun meine Aufmerksamkeit. Irgendwas ist komisch an dem Auto: es hat ein Surfbrett auf dem Dach. Das kann kein Einheimischer sein! Als ich näher bin, erkenne ich das Nummernschild aus Köln. Der Fahrer ist Mitte Zwanzig, hat lange zu einem Zopf gebundene Haare und sitzt allein in seinem mattschwarz lackierten 6-Zylinder-Datsun mit lauter Musik. Ich bleibe ein bisschen neben und hinter ihm, aber er ist zu langsam. Mit Höchstgeschwindigkeit 90 km/h kann ich mir keine Pausen leisten, wenn ich heute noch im Hellen bis Samandağ will. Ich überhole ihn also, neben ihm gucke ich ‘rüber und winke. Hinter Adana wird die Autobahn wieder zur normalen Landstraße. Im Rückspiegel tauchen zwei rot-weiße Tourenmotorräder auf. Vollverkleidete Yamahas oder Kawasakis. Die Fahrer in Renn-Lederkombis. Die Straße führt durch eine weite gelblich graue Ebene. Vor ein paar Tagen ist Jan hier lang gefahren, um seine kurdischen Freunde in Nurdaği zu treffen, und dann nach Baghdad weiter zu brettern. Eine Stunde später zweigt mein Weg nach Süden ab. Es geht durch ein paar Hügel und das Meer kommt wieder in Sicht. An der Küstenstraße vor Iskenderun stoppe ich für einen Tee und eine Zigarette, die beiden Tourer halten ebenfalls und wir führen das übliche Woher-wohin-Gespräch. Die beiden arbeiten für das BKA in Wiesbaden, die Motorräder sind aber in Kassel angemeldet. Bis auf diesen Widerspruch sind die beiden total langweilige Spießer. Sie wollen nach Antakya und ich schlage vor, dass sie mit mir nach Samandağ fahren, lieber zusammen mit zwei Langweilern als alleine. Hinter Iskenderun führt die Straße vom Meer weg in die Berge. Es geht einen Pass hinauf. Perfekte Umgebung für die japanischen Tourenmotorräder, die beiden preschen zügig vorbei. Auf der Passhöhe stehen sie rechts auf einem Parkplatz. Ich muss auch anhalten.

Fr., 1. Mai 1987, Belen-Pass, Richtung Süden
Die Aussicht ist im Wortsinne atemberaubend: vor uns eine große Talebene, rechts und links die Ausläufer der Bergkette, die wir eben hinaufgeklettert sind, und rechts vorne kann man das Glitzern des Mittelmeers erahnen. Die Ebene ist regelmäßig gemustert mit den Reihen der Olivenhaine und gesprenkelt mit kleinen und größeren Ortschaften, in der Richtung des Mittelmeers sieht man unter einer Dunstglocke eine Großstadt, vermutlich Antakya. Geographisch ist das eindeutig die Grenze zwischen Anatolien und Arabien. Irgendwo dahinten geradeaus liegt Damaskus. Das Juwel. Aš Šâm. Die Sonne. Des Orients. Allein diese Aussicht ist die viertausend Kilometer und drei Wochen Fahrt wert. Und das ist erst der Anfang für mich und den Orient.
On the Beach 1 nach oben
Wir fahren den Pass hinab ins Tal und biegen nach rechts Richtung Antakya ab. Dunkelgrüne Olivenbäume auf trocken-gelbem Boden. Dann die üblichen halbfertigen Häuser in den Vororten von Antakya.
Antakya ist eine quirrlige staubige Stadt, wir passieren den Busbahnhof in der Innenstadt, an einer großen Kreuzung zeigt ein Wegweiser links nach Halep, der türkische Name der syrischen Stadt Aleppo, das ist jetzt noch nicht mein Weg. Wir finden den Abzweig nach Samandağ und Akdeniz, dem Mittelmeer. Nach zwanzig Minuten auf einer kleinen Landstraße kommen wir in Samandağ an und folgen den Wegweisern Richtung Denizli, dem Stadtteil am Strand. Links und rechts der Straße stehen niedrige Häuser, hauptsächlich kleine Geschäfte, Cafés und Restaurants. Plötzlich hört der Asphalt auf, rechts park teine Reihe blauer Taxis auf der Sandstraße. Rechts vor uns mitten auf dem Strand steht ein sehr großes halbverfallenes Betongebäude aus den 1950er Jahren, auf dem Dach weht träge eine türkische Flagge. Das Meer hinter dem Hotel blendet weiß in der Nachmittagssonne. Rechts und links an der Grenze zwischen dem flachen Strand und den niedrigen Dünen reihen sich Hotels und Restaurants. Wir fahren hundert Meter nach rechts und stoppen vor einer kleinen Moschee, die mitten auf dem Strandweg steht. Der Strandweg führt in einem Kreisverkehr ohne Abzweigungen um das Gebäude herum. Sobald wir anhalten, sind wir von einer Traube von Menschen umgeben, viele Kinder machen mit ihren Händen kreisförmige Bewegungen und deuten auf die Moschee. Gleichzeitig reden Erwachsene auf uns ein, bieten Hotelzimmer und Restaurantessen auf Türkisch, Deutsch und Englisch an. Wir sind total überfordert und können uns weder für eines der Angebote, noch für’s Weiterfahren entscheiden. Immerhin gelingt es mir, klar zu machen, dass wir ein Hotel suchen und kein Restaurant. Drei Viertel der Erwachsenen verschwindet, das letzte Viertel unterbietet sich gegenseitig mit Hotelangeboten. Der Zimmerpreis sinkt innerhalb weniger Minuten von vier- auf eintausend Lira. Wir entscheiden uns für eine Pension die fünfzig Meter vor uns liegt und auch ein Restaurant mit Terrasse zum Meer hat. Der Handschlag mit dem jungen Mann, der ziemlich gutes Deutsch spricht, besiegelt den Vertrag und die anderen Koberer ziehen ab. Der junge Mann erklärt uns, dass wir bei der Weiterfahrt zum Hotel drei Runden um die Moschee drehen müssen, das sei Tradition und bringe Glück. Unter dem fröhlichen Gejohle der Kinder drehen wir unsere Runden und fahren die Motorräder zum Eingang des Restaurants. Als wir die Stufen zur Terrasse hinaufgehen steht der Besitzer des Hotel bereits in der Tür, er begrüßt uns auf Deutsch und lotst uns zunächst auf die Terrasse, ein junges Mädchen, offenbar seine Tochter, bringt vier Gläser Çay auf einem Messingtablett. Der Besitzer fragt, ob wir etwas essen wollen, ich antworte, dass wir zuerst abpacken, uns um die Motorräder kümmern und dann später essen. Dss habe ich von Jack London gelernt, immer erst das Lager vorbereiten, sich um die Schlittenhunde kümmern und zuletzt sind wir selbst an der Reihe. Daran habe ich mich auf der ganzen Reise bisher strikt gehalten. Der Besitzer hat 15 Jahre in Bochum bei Opel gearbeitet, er war einer der ersten Türken, die Ende der 1960er Jahre nach Deutschland kamen. Er bekommt eine deutsche Rente, die ihn hier fast zu einem reichen Mann macht und hat vor ein paar Jahren, das Restaurant von seinen Eltern übernommen und zu einer Pension ausgebaut. Nach dem Tee ruft er etwas auf Türkisch – ich verstehe ›anna‹, ›Mutter‹ - und eine alte Dame in einem schwarzen Kleid, aber ohne Kopftuch oder Schleier kommt auf die Terrasse. »Meine Mutter zeigt euch die Zimmer, dann kommt ihr zum Essen wieder her.« Wir folgen der alten Dame zu dem Gebäude auf der anderen Seite des offenen sandigen Platzes, der sich zwischen den Gebäuden befindet. Der Komplex bildet ein nach links gekipptes U, die offene Seite zeigt zum Meer, oben liegt das Restaurant, rechts das Gebäude, in dem die Familie wohnt, und unten das zweistöckige Gebäude mit den Gästezimmern. Im Erdgeschoss befindet sich eine Garage und ein paar Wirtschaftsräume, im ersten Stock ist mein Zimmer mit Balkon und Blick auf den Strand, die beiden Bullen bekommen ein 2-Bett-Zimmer im zweiten Stock. Die Garage ist leer und wir können die Moppeds dort abstellen. Ich trage alles nötige nach oben und richte mich ein. Aus der Dusche kommt kein heißes Wasser, aber zum Hände-, Hals- und Gesichtwaschen reicht das kalte Wasser vom Waschbecken. Ich fühle mich sauber und entspannt. Und freue mich, heute Nacht in einem richtigen Bett zu schlafen, weder nass noch kalt, selbst jetzt am späten Nachmittag ist es immer noch über 20° warm. Samandağ und diese Pension waren offenbar eine wirklich gute Entscheidung.

Fr., 1. Mai 1987, Samandağ
Ich nehme meinen Rucksack und meine Jacke und gehe 'rüber zum Restaurant. Über der Tür steht ›aile restoran‹, was für mich keinen Sinn ergibt, muss nachher mal in meinem Wörterbuch nachgucken, was ›aile‹ heißt, sicherlich nicht ›Knoblauch‹. Ich setze mich auf die Terrasse, schreibe die heutige Strecke auf, finde in meinem Wörtbuch heraus, dass ›aile restoran‹ bedeutet, dass das Restaurant oder Café für Familien geeignet ist, also nicht nur Männer Zutritt haben, sondern auch Frauen und Kinder, dann packe ich die Landkarten aus. Die Türkeikarte kann ich nicht mehr gebrauchen, die weitere Strecke kann ich mit meinen Karten nur grob planen, muss mir in Syrien eine lokale Straßenkarte beschaffen. Trotzdem starre ich minutenlang auf meine Übersichtskarte des Nahen Ostens, die von Istanbul oben links bis Kuwait unten rechts reicht. Unten links ist Kairo gerade noch zu sehen. Während ich von der weiteren Strecke träume, kommen die beiden BKA-Typen auf die Terrasse. Beide gucken interessiert auf die Karte, die den ganzen Tisch einnimmt. Wo willst’n hin? Baghdad?« - »Nee, erstmal Kairo.« Ich denke an Jan und seine halblegale Fracht für Baghdad. »Und ihr? Wie geht’s von hier aus weiter?« - »Ach, mal gucken. Vielleicht nach Kurdistan. Wir haben noch vier Wochen und keinen richtigen Plan.« Der junge Türke von vorhin kommt zu unserem Tisch und fragt, ob wir jetzt essen wollen. »Es gibt das normale Abendmenü, Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, Sauce. Dazu Salat und vorher Linsensuppe. Wir gucken uns an und nicken. »Gut, nehmen wir und drei Bier.« Als das Essen kommt, sehe ich den mattschwarzen Datsun drei Runden um den Kuppelbau drehen. Bei seiner zweiten Runde winke ich ihm. Er dreht die letzte Runde und fährt vor dem Restaurant vor. »Hey, BMW, hast es ja geschafft und gleich das beste Hotel im Ort gefunden. Cool!« - »Wir haben eben Essen bestellt, willst'e auch?« Er streckt den Daumen hoch. Ich winke dem Kellner und ich bestelle noch ein weiteres Menü für den Kölner. Der junke Mann nickt und sagt, »Klar, Murat kriegt auch was zu essen.« Der Datsun ist hier scheinbar bekannt. Er parkt seinen Wagen vor den Gästezimmern, fischt eine Tasche von der Rückbank und kommt zu uns. Wir stellen uns vor und ich schlage vor, dass er sich zu uns setzt. »Nee, lass mal. Bin zu müde, setze mich da drüben hin und ess‘ allein.« Der Besitzer kommt auf die Terrasse und begrüßt den Kölner mit Handschlag, sie reden kurz miteinander, beide lachen. Ich bin ein bisschen traurig, dass ich mit den beiden Langweilern essen muss und der coole Datsun alleine bleiben will. Das Essen kommt und sie reden nur miteinander von ihren Motorrädern und von ihren Leuten zu Hause. Mich fragen sie nichts und meinen Fragen weichen sie aus. Zum Glück wollen sie morgen zurück nach Iskederun und dann vielleicht weiter nach Urfa.
Nach dem Essen und dem Çay gehen die beiden ins Bett, der Kölner winkt mich an seinen Tisch. »Das waren Bullen, oder?« - »Haben sie jedenfalls gesagt. Furchtbare Langeweiler!« - »Na, jetzt sind sie ja weg.« - »Zum Glück und morgen fahren sie weiter. Du scheinst hier öfter zu sein, Stammgast?« - »Ja, ist immer mein letzter Stopp vor Aleppo.« - »Cool. Ich will auch nach Syrien.« - »Visum?« - »Noch nicht, die Botschaft meinte, das gibt’s an der Grenze.« - »Die Botschaft? In Bonn? Ha. Ha. Die wollen nur nicht arbeiten!« - »Mach mir keine Angst. Ich kann doch nicht 4.000 km zurück fahren.« Murat nickt. »Na, versuchen musst’es jedenfalls. Wenn Du den großen Übergang in Bab al-Hawa nimmst, könnte es gehen. Sprichst Du Arabisch oder Französisch?« - »‘n bisschen Französisch und Arabisch eigentlich gar nicht.« - »Mist! Der Oberst in Bab al-Hawa kann fast kein Englisch und wenn Du nicht direkt mit ihm verhandelst, wird’s schwer. Aber wenn Du aus der Türkei erstmal raus bist, wird’s kompliziert, dich zurückzuschicken. Und auf kompliziert stehen die Grenzer nicht. Versuch‘s nicht an nem Freitag. Da haben sie eh kein‘ Bock auf Arbeit. Am besten Du fährst an ‘nem Montag oder Dienstag.«
Murat erzählt, dass seine Eltern aus Kurdistan stammen und er seit ein paar Jahren seine guten Kontakte nach Syrien dazu benutzt, in Syrien handgeschnitzte Backgammonspiele zu kaufen und in Köln in einem Dritte-Welt-Laden für das zehnfache wieder zu verkaufen. »Das ist natürlich nicht ganz legal, aber besser als Drogen zu schmuggeln.« Ich stimme ihm zu, bin aber nicht ganz sicher, ob es wirklich nur Tavla-Bretter und -Steine sind, die er über die Grenzen bringt. Das ist mir im Moment aber völlig egal. Ich will mehr über Syrien und die Einreise von hier aus wissen. Murat sagt, im schlimmsten Fall könnte ich ein Visum in der syrischen Botschaft in Ankara bekommen. 700 km! Viel aber jedenfalls näher als Bonn. »Was willste den überhaupt in Syrien?« Ich erkläre Murat meinen Reiseplan. Er versteht sofort und sagt, «'n Transitvisum für 7 Tage sollte an der Grenze kein Problem sein. Musst dich nur vorher entscheiden, wo Du nach Jordanien 'rüber willst. Der Ausreiseort wird dann in deinen Pass eingetragen.« Endlich mal eine gute Nachricht. Ich werde mir das morgen auf der Karte ansehen und es am Montag versuchen.
»Vorher musst Du aber noch in Samandağ ins Hamam. Warste schon mal in ‘nem türkischen Bad?« - »Nee, wollte ich aber sowie noch.« »Mach das, aber las Dich nicht zur Massage überreden, die Massagen sind echt fies!« Der Plan für die nächsten zwei Tage ist also klar. Tourenplanung, Motorradwartung, Hamam ohne Massage. Da sind zwei Tage fast zu kurz. Aber ich bin ja nicht im Urlaub. Ich sage das Murat, er lacht. »Raki?« - »Auf jeden Fall.« Der Besitzer bringt uns eine Flasche Raki und eine Wasserkaraffe. Er sagt ein paar Worte zu Murat auf Türkisch, beide lachen. »Praktisch als Muttersprachler hier.« - »Naja, eigentlich ist meine Muttersprache Kurdisch und die meines Vaters Arabisch, aber Türkisch ist leicht, wenn Du die beiden schon kannst. Und hier unten kommst Du mit Arabisch ziemlich weit.«
Wir trinken unseren Raki und reden weiter bis Murat sagt, er müsse schlafen gehen.

Fr., 1. Mai 1987, Samandağ, verlassenes Hotel am Strand
Tag 24, Samstag
Am nächsten Morgen frühstücke ich schon als die beiden Bullen zur Terrasse herüberkommen, sie trinken jeder nur einen Tee, bezahlen ihre Rechnung und gehen wieder 'rüber, um ihre Motorräder zu packen. Schon komplett in ihren Lederkombis kommen sie noch mal zu mir, verabschieden sich und wünschen mir viel Glück für die weitere Reise. »Viel Spaß noch und gute Fahrt auch für euch.« Sie starten ihre Motorräder und schlingern durch den weichen Sand bis zum Strandweg davon. Die Umrundung der Moschee sparen sie sich. Ich finde das respektlos, aber das ist jetzt zum Glück egal. Ich stelle Tasse und Teller auf einen Stuhl und breite die Nahost-Karte auf dem Tisch aus. Die Wahl des Grenzübergangs von Syrien nach Jordanien ist einfach. Für mich kommt eigentlich nur Dar’â in Frage. Ich packe mein Zeug zusammen und gehe in mein Zimmer, um die Motorradklamotten anzuziehen und fahre nach Samandağ. Unterwegs sehe ich auf den Baustellen viele Kinder arbeiten. Es kommt mir falsch vor, dass zehnjährige Jungs auf Baustellen Steine schleppen, aber so ist es hier wohl. In der Ortsmitte finde ich einen kleinen Laden, in dem ich eine Dose Dattelmarmelade kaufe. Im Nachbarladen finde ich eine Box mit Knöpfen zum nieten und kaufe noch ein paar Rollen Isolierband, das habe ich zwar schon im Tankrucksack, aber ein paar Extra-Rollen können nicht schaden. Auf der Straße bin ich die große Attraktion, gar nicht das Motorrad, sondern ich als Fremder, groß und blond, in Lederhose und mit einem Ohrring. Mehrmals bleiben Männer vor mir stehen, gucken mich fragend an und tippen an ihr Ohrläppchen. Und dabei trage ich auf der Reise nur den kleinen Stecker mit dem schwarzen Stern, den langen Hänger habe ich zu Hause gelassen, weil er sich immer im Helmfutter verhakt. Auf der Rückfahrt zum Strand fährt vor mir eins der Taxis, die ich gestern gesehen habe. Es ist ein großer amerikanischer Kombi, nach den schwarzen Wolken zu urteilen aber auf einen Dieselmotor umgerüstet. Der linke Arm des Fahrers hängt aus dem Fenster und mehrfach winkt er mich vorbei. Als er an seinem Platz am Ende der Asphaltstraße anhält fahre ich langsam vorbei und nicke ihm zu. Der Fahrer sieht aus wie Peter Falk und winkt mir lächelnd zu. Ich drehe meine obligatorischen drei Runden um die Moschee und parke die BMW zwischen Murats Datsun und der Garage. Murat sitzt auf der Terrasse und isst etwas. Ich setze mich dazu und frage ihn, ob er weiß, was es mit diesen drei Runden und der Ruine mitten am Strand auf sich hat.
In dem Kuppelbau, den ich bisher für eine Moschee gehalten habe, befindet sich ein Fels auf dem sich laut Koran Moses mit einem seiner Diener unterhalten haben soll. Warum Moses, der doch auf dem Weg von Ägypten ins gelobte Land am Jordan gestorben ist, soviele hundert Kilometer nördlich auf einem Fels am Meer gesessen haben soll und worüber er geredet hat, weiß Murat auch nicht. Jedenfalls gebietet die Tradition, Allah durch drei Umrundungen des Felsens zu ehren. Allah verheißt dafür Glück und die Erfüllung unserer Wünsche.

Sa., 2. Mai 1987, Samandağ, Al-Musa-Heiligtum
Der große Betonbau am Strand war bis in die 1970er Jahre ein Luxushotel. Die Gäste kamen hauptsächlich aus der reichen Mittelklasse des Libanon. Die wirklich Reichen machten in Paris oder Miami Urlaub. Die Türkei war nicht so teuer und nicht so weit, war trotzdem offen und tolerant und bot einen Hauch von westlicher Welt. Rund um das Hotel war ein großer grüner Garten angelegt, das Meer war wortwörtlich vor der Tür und angeblich soll es auf der Dachterrasse auch noch einen großen Swimmingpool gegeben haben. Mit dem Bürgerkrieg im Libanon blieben die Gäste aus, das Hotel machte zu und verfiel, inzwischen wird das Dach von der türkischen Militär- und Grenzpolizei als Beobachtungsposten benutzt und der Rest des Gebäudes ist zu einer Art Kaserne für die Jandarma, die am Strand patrouillieren, umgebaut. »Und warum bewachen die diesen gottverlassenen Strand? Ein Überfall der Griechen ist hier ja nicht so wahrscheinlich.« - »Ha. Ha. Ha. Mit'm schnellen Boot sind's von hier nur zwei Stunden in den Libanon und der Libanon ist immer noch die Hauptquelle für Dope für Mitteleuropa. Am Anfang kamen vor allem Flüchtlinge aus dem Libanon hier an, die die Türken dann nach Europa weiterschickten, dann das Dope, inzwischen fast nur noch Plastiktüten und leere Blutkonservenbeutel. Aber die Jandarma geben keinen guten und gemütlichen Stützpunkt auf, nur weil sie ihn im Moment nicht brauchen, vor allem nicht so nah an einer Grenze. Stell Dir vor, in Syrien bricht mal ein Bürgerkrieg aus, dann wäre diese Gegend hier überlebenswichtig für die Türkei, vielleicht sogar für die NATO, die Sowjets haben um die Ecke an der syrischen Küste ihren einzigen Marinestützpunkt am Mittelmeer. Und mit Assad ist ein Bürgerkrieg immer möglich, der spielt die Sunniten und die Schiiten schon seit zwanzig Jahren zu Gunsten seiner Sippe gegeneinander aus. Eigentlich wie sein Nachbar Sadâm im Irak, aber der hat mit dem Krieg gegen die Ayatollhas erstmal wieder die innere Einheit hergestellt. Das ist bei Assad mit dem Yom-Kippur-Krieg großartig schief gegangen. Und jetzt sind alle seine Nachbarn dicke mit den Amis, also sind alle Ventile nach außen verstopft. Da muss es ja innen anfangen zu rumoren, und wenn er plötzlich stirbt und sein ältester, Basil übernimmt, kommt es sowieso zum Krieg. Die einzige Chance für Syrien ist der jüngere Sohn Baššâr, der scheint ganz venünftig zu sein, hat in London Medizin studiert und lange in Europa gelebt, seine Frau ist sogar in Englnd geboren.« - »Mann, Du kennst Dich ja aus mit Syrien. Wie kommt's?« - »Die Familie meines Vaters ist in den 1920ern vor den türkischen Nationalisten nach Raqqa geflohen, mein Vater hat seinen syrischen Pass nie weggeworfen, der liegt zu Hause in einer Vitrine. Eine Art Familienheiligtum. In Raqqa hat er dann auch meine Mutter geheiratet, meine Schwester ist da geboren.« - »Und wie seid ihr dann nach Köln gekommen - wenn ich fragen darf?« - »Klar darfst Du. Is‘ ‘ne irre Geschichte.« - »Erzähl!« -»Mein Vater hatte ein Stipendium von der Armee für ein Ingenieursstudium in der DDR. Als Student aus dem sozialistischen Ausland durfte er in den Westen reisen, und weil seine Familie Kohle hatte, konnte er sich das auch leisten. Also ist er kurz vor dem Mauerbau mit meiner Mutter und meiner Schwester erst nach Düsseldorf und dann nach Köln gegangen. Da bin ich dann geboren worden, spreche fließend Kölsch und Kanack und Hochdeutsch mit ‘nem doppelten Akzent.Das Studium war für meinen Vater dann natürlich gegessen und er hat bei Ford als technischer Zeichner angefangen. Er hat da gutes Geld verdient, obwohl er als ›Türke‹ nie Abteilungsleiter werden konnte. Inzwischen ist er in Rente und sammelt Bildbände über den Nahen Osten. Das hat wohl irgendwie auf mich abgefärbt und ich bin dann vor zehn Jahren erst hierher und später nach Aleppo und natürlich nach Raqqa gefahren. Als ich zum ersten Mal herkam, war die Jandarma gerade in das Hotel eingezogen und alle paar Nächte ließen die Dopeschmuggler noch ihre Päckchen an den Strand treiben.« Wir blicken beide stumm aufs Meer. Die Sonne blendet. Murat träumt wohl von seinen und seines Vaters guten alten Zeiten, ich von meiner nächsten Zukunft in Syrien. Nach Sonnenuntergang bläst ein kalter Wind vom Meer und wir ziehen von der Terrasse in‘s Restaurant um. Wir bestellen das Tagesmenü und zwei Bier. Im Fernsehen, das schon seit dem Morgen an ist, laufen die Abendnachrichten. Ich kann den Bildschirm nicht sehen, höre nur den Kommentar, verstehe von dem schnell gesprochenen Türkisch aber fast nichts. Im Moment scheint mehrfach das Wort ›Berlin‹ zu fallen. Der Besitzer kommt an unseren Tisch und sagt, wir sollten gucken kommen, in Berlin sei ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Ich stehe vor dem Fernseher und sehe Bilder von brennenden Autos und Mülltonnen unter der Hochbahnstrecke in Kreuzberg. Schwarz vermummte junge Männer werfen Pflastersteine und Molowcocktails auf Polizisten in Kampfausrüstung und auf Polizeiwagen. Ein Panzerwagen schiebt brennende Autowracks von der Straße. An einem Haus hängt ein langes Transparent ›HERAUS ZUM REVOLUTIONÄREN 1. MAI‹. Ein Journalist interviewt einen älteren traurig guckenden Mann auf Türkisch, der Mann benutzt ein paar deutsche Worte, ich verstehe ›Autonome‹, ›Schwarzer Block‹ und ›Chaoten‹. Im Hintergrund des Interviews ist ein Supermarkt mit eingeschlagenen Scheiben zu sehen, vor dem Supermarkt liegen Haufen von Bierdosen. Zu dem besorgt aussehenden Restaurantbesitzer sage ich, »Das ist kein Bürgerkrieg, nur eine Demo, die außer Kontrolle geraten ist. Und gestern war doch der 1. Mai. Und in Kreuzberg gibt es viele besetzte Häuser.« Ich bin erstaunt, wie wichtig sogar in diesem abgelegenen Teil der Türkei die Geschehnisse in Deutschland, speziell in Berlin, genommen werden. Murat sagt, »Kreuzberg ist die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei. Ist doch klar, dass die Nachrichten hier über sowas berichten.«
Murat erzählt während des Essens von seiner Kindheit als kurdischer Türke in Köln, schließlich kommen wir aber auf mein aktuelles Lieblingsthema zurück. »Wenn Du Montag in Bab al-Hawa versuchst, ein Transitvisum für 14 Tage zu bekommen, sollte das klappen. Zwei Wochen bis Dar’â ist ja kein Problem.« - »Ok, ich werd’s versuchen. Wird schon klappen.« Leider traue ich meinem eigenen Optimismus nicht so recht. »Hilft es, wenn ich ‘n 100 Mark-Schein in meinen Pass lege?« - »Bestechung ist schwierig, die niederen Chargen können nichts entscheiden und die höheren fühlen sich vielleicht beleidigt. Ich würd’s erstmal mit Reden versuchen.« - »Ok. Reden. Wenn’s nicht Arabisch oder Französisch sein muss.« Ich hatte zwar in der Schule ein Jahr Französisch gehabt, aber nicht viel gelernt. Sogar der arabisch- und französischsprachige Visumantrag für Syrien war eine ziemliche Herausforderung gewesen. »Und wenn’s nicht klappt, musst Du halt in den sauren Apfel beißen und nach Ankara zur Botschaft fahren.« Ich hatte plötzlich eine Idee. »Ich hab noch ‘n zweiten Pass in Hannover liegen. Wenn den meine Eltern mit dem Antrag nach Bonn schicken und dann hierher, dauert das auch nicht länger und ich spare mir den Sprit nach Ankara und zurück.« - »Gute Idee. Aber ich würd‘ trotzdem Montag erstmal das Transitvisum versuchen. Und dann kannste ja sehen, ob Bonn oder Ankara besser ist.«
Ich fühle mich schlagartig besser, bin aber trotzdem noch aufgeregt wegen Montag. Vermutlich ein guter Gefühlsmix für den Grenzübertritt. Wir bestellen eine mittelgroße Flasche Raki und plaudern weiter während die Mondsichel von Syrien nach Zypern wandert. »Eigentlich müsste man sich jetzt mit dem Raki an den Strand setzen und dem Mond hinterher gucken. - »Bist Du irre?! Ab Sonnenuntergang ist der Strand militärisches Sperrgebiet. Die Jandarma schießen auf alles was sich bewegt.« - »Stimmt, haste erzählt. Na, hier ist es auch gut und nicht so windig... Morgen gehe ich ins Hamam, ohne Massage.« - »Ja, besser ohne Massage. Ich konnte mich letztes Mal nach der Massage zwei Tage nicht bewegen. Aber Hamam ist gut. Mach das.«
Um Mitternacht erscheint der Besitzer bei uns und sagt, er müsse jetzt zumachen. Murat spricht lange mit ihm auf Türkisch, zeigt dabei ein paar mal auf mich. Ich habe den Eindruck, Murat übergibt ihm die Verantwortung für mich, falls ich Montag zurückkommen muss. Ich bin gerührt und froh, hier mit diesen guten Menschen gelandet zu sein. Wieder ein Beweis dafür, dass alleine reisen das Gegenteil von einsam reisen ist.

So., 3. Mai 1987, Samandağ, Hotel-Terrasse
Tag 25, Sonntag
Morgens frühstücke ich wie immer Fladenbrot mit Marmelade und einen Nescafé mit Milch auf der Terrasse. Danach kümmere ich mich um die BMW. Ich muss das Öl wechseln und die Ventile einstellen. Alles klappt problemlos. Ich schrubbe mir die öligen Hände im Waschraum des Restaurants sauber, weil es hier warmes Wasser gibt. Hinterher frage ich den Besitzer, wie das mit dem Heißwasser im Zimmer funktioniert. »Sag einfach ‘ne Stunde vorher Bescheid. Meine Mutter heizt dann den Tank an und Du hast heißes Wasser zum Duschen.« - »Ok, mach ich, wenn ich’s brauche. Jetzt fahr‘ ich erstmal nach Samandağ in‘s Hamam.«

So., 3. Mai 1987, Samandağ, Taxi-Station, ›Peter Falk‹
Ich packe mein Zeug zusammen und fahre nach meinen drei Runden um den Moses-Felsen in den Ort. Am Anfang der Aspahltstraße winke ich Peter Falk zu, der neben seinem Taxi steht, mit irgendwem plaudert und Zigaretten raucht. Das Hamam habe ich gestern bei meiner Einkaufstour schon gesehen und finde es leicht wieder. Neben dem Hamam sind mehrere Barbier-Läden, ich beschließe, mich nach dem Baden noch rasieren zu lassen.
Im Vorraum steht ein kleiner Schreibtisch, an dem ich meine Wertsachen abgeben kann und ein paar Lira Eintritt bezahle. Der ältere Mann zeigt mir den Weg zu dem Umkleideraum und gibt mir ein großes und ein kleines weißes Handtuch und ein Paar Plastiksandalen. Schon hier ist die Luft sehr warm und feucht. Ich ziehe mich aus, wickele das kleine Handtuch um die Hüfte und lege das große über die Schultern. In den Plastiklatschen schlappe ich durch das weißgetünchte Gebäude in Richtung einer großen Halle mit Kuppeldach. Am Eingang der Halle warte ich und beobachte die anderen Gäste, alles ältere Männer. Die erste Station scheint ein flaches Becken zum Füßeabspülen zu sein. Danach setzen sich die meisten auf große Steinbänke, vor denen in einem flachen Kanal Wasser entlang fließt, in dem sie ihre Füße mit viel Seife waschen. Ich gehe durch das Becken und setze mich auf die warme Steinbank, um meine Füße zu waschen. Ein weißgekleideter Junge verteilt kleine abgepackte Seifenstücke. Nach dem Füßewaschen gehen die meisten Gäste nach rechts in einen Nebenraum. Ich mache es ihnen nach und komme in einen Raum mit einer Reihe Duschen. Nach dem Duschen geht es in eine große Sauna mit beheizten Steinbänken. Ich suche mir einen Platz und schwitze vor mich hin. Nach gefühlten zwei Stunden, die wahrscheinlich nur zehn Minuten waren, geht es weiter in einen abgeteilten Bereich der großen Halle mit kleinen Wasserbecken, die als private Badewannen dienen. Ich lege mich in das warme Wasser, das mir nach der Sauna fast kalt vorkommt. Danach geht es weiter zum anderen Ende der Halle, wo wieder beheizte Steinbänke zum Ausruhen bereit stehen. Ein anderer weiß gekleideter Junge bringt Çay und fragt, ob ich eine Massage wolle. Die Massage lehne ich ab, nehme aber ein Glas Tee. Nach dem Tee gehe ich zurück zu dem Umkleideraum und bin erstaunt, dass ich doch über zwei Stunden im Hamam verbracht habe. Ich ziehe die sauberen Sachen, die ich mitgebracht habe, an und verstaue die schmutzigen in meinem Rucksack. Im Vorraum lasse ich mir meine Brieftasche mit dem Pass, meinem Geld und den Reiseschecks wiedergeben. Auf der Straße wende ich mich nach rechts und gehe in den ersten Barbierladen. Normalerweise rasiere ich mich nur ungefähr einmal die Woche und war noch nie bei einem Barbier. Der Barbier weist mir einen Stuhl am Fenster zu und bereitet das Rasiermesser und ein paar Handtücher vor. Zuerst wird der untere Teil meines Gesichts in ein warmes feuchtes Handtuch eingepackt, dann wird die warme Haut mit einem Pinsel mit Rasierschaum bedeckt. Schließlich beginnt der Barbier mit einem Rasiermesser mit der Rasur. Zum Schluss wird der restliche Schaum mit einem anderen feuchten Handtuch abgewischt und eine Hautcreme einmassiert. Bisher fand ich, dass Rasieren eine lästige Pflicht ist, aber diese zwanzig Minuten full-service waren fast meditativ. Ein perfekter Abschluss des Wohlfühl- und Badetages.
Zurück im Hotel versuche ich, Ande in Hannover anzurufen, die ist aber mit irgendwem an der Nordsee, wie mir ihre Mitbewohnerin sagt. Dann rufe ich meine Eltern an und bereite sie schon mal darauf vor, dass sie morgen vielleicht meinen Ersatzpass mit dem Visumantrag nach Bonn schicken müssen. Meine Mutter ist wie immer optimistisch und mein Vater pragmatisch. Ich verspreche mich morgen zu melden, wenn der Grenzübertritt nicht klappt. Wenn sie nichts von mir hören, hat alles geklappt und ich bin in Syrien. Wann und wo ich dann wieder nach Deutschland telefonieren kann, weiß ich nicht. Es bleibt also bei der alten Regel, keine Nachrichten sind gute Nachrichten.
Als ich nach dem Telefonieren aus dem kleinen Büro zurück ins Restaurant komme, sitzt Murat bereits an einem Tisch mit Blick auf den Sonnenuntergang. Wir bestellen das Tagesmenü und trinken ein paar Bier dazu. Nach dem Essen gibt es heute nur Çay, keinen Raki und wir gehen früh ins Bett.

So., 3. Mai 1987, Samandağ, Sonnenuntergang
Tag 26, Montag
Wir sind für neun Uhr zum Frühstücken verabredet und Murat sitzt schon an unserem Stammtisch als ich kurz vor neun dort ankomme, frisch rasiert und den Ohrring in der Brieftasche sicher verwahrt. Er versucht, mich nochmals aufzuheitern und optimistisch an die Grenze aufbrechen zu lassen. »Das sind Araber, weißt Du, da ist alles möglich oder gar nichts. Man weiß nie. Es kann sein, dass sie mich mit Visum abweisen und Dich ohne reinlassen. Man erlebt da die dollsten Dinger.« Nach dem Frühstück gehe ich zurück ins Zimmer, ziehe die Motorradklamotten an und packe das Motorrad auf. Während Murat sein Auto startklar macht, bezahle ich meine Rechnung der letzten Tage. Kurz nach zehn fahren wir winkend vom Hof, drehen unsere drei Runden und sind unterwegs. Murat lotst mich am Zentrum von Samandağ vorbei auf die Landstraße nach Aleppo. Murat hatte gestern vorgeschlagen, dass wir uns an der Grenze ignorieren, um uns nicht gegenseitig Probleme zu bereiten. Ich fand das vernünftig und stimmte zu, obwohl mir natürlich Murats Arabischkenntnisse und seine Erfahrung an dieser Grenze hilfreich gewesen wären.
Die Ausreise aus der Türkei wird in Cilvegözü abgewickelt, alles verläuft problemlos, ich bekomme meinen Ausreisestempel und das Motorrad wird aus im Pass als ausgereist gestempelt. Nach einem halben Kilometer erneute Kontrolle des Passes. »Du alman?« – »Ja, ja.« – »Ich sieben Jahre Arbeit in Mannheim.« – » Ja, ja«. Nach dem letzten türkischen Posten windet sich die Straße ein paar Kilometer durch ein karges Tal im Niemandsland. Die tatsächliche Grenze wird von einem kleinen Trupp Jandarma bewacht. Von hier aus sind die syrischen Abfertigungsgebäude bereits zu sehen. Ich bin ziemlich aufgeregt, aber Murats Datsun vor mir macht mir Mut, dass alles gut geht. Irgendwo zwischen den Grenzen halte ich an. Pinkelpause und alle positiven Energien auf die Einreise und das Einsehen der syrischen Grenzpolizei gerichtet. Erste Gebäude tauchen auf. Schilder sagen mir: »Slowly – slowly! Explosives!« Soll das heißen, dass hier Minen rumliegen? Jetzt erkenne ich es, hier wird der neue Kontrollposten gebaut. Die Schilder warnen vor Sprengarbeiten in der felsigen Landschaft. Hier wird nicht gespart! Großzügige Abfertigungsgebäude, sieben oder acht überdachte Fahrspuren für LKW und PKW, viel Marmor, Säulen, Giebel, Treppen, große Fenster. Auch halbfertig schon ein beeindruckender Anblick. Und das ist wohl auch der Zweck: Prestige, den Türken zeigen wie reich und großzügig die Araber sind.
Wir stoppen am alten Kontrollposten in einer überdachten Abfertigungsspur, links steht ein großes Betongebäude. Die beiden rechten Spuren haben neben der Fahrbahn einen Laufgang in ein Meter Höhe aus Stahl, um LKW in Augenhöhe abzufertigen. Überall laufen Uniformierte mit Stapeln von Papieren herum. Murat zeigt seinen Pass, spricht mit einem Grenzer und wird nach rechts in die Zollkontrolle gewunken.
Ein junger Soldat in Khakiuniform kommt zu mir. Ich gebe ihm meinen Pass und sage »Transit-Visum.« Er blättert meinen Pass durch und schnalzt mit der Zunge »No Visum.« Ich versuche ihm auf Englisch zu erkären, dass die syrische Botschaft in Deutschland gesagt hat, dass ich ein Transit-Visum hier bekomme. Er behält meinen Pass in der Hand und winkt mich Richtung Betongebäude, es sieht aus, als könnte es funktionieren. Er git mir den Pass zurück und schickt mich ein paar Stufen hoch in einen Büroraum, der mit einem hohen Tresen in zwei Hälften geteilt ist. Hinter dem Tresen sitzen Uniformierte, davor stehen ein paar Touristen und viele schwitzende LKW-Fahrer, dem Aussehen nach ausschließlich Araber und Türken, in ein paar ungeordneten Schlangen. Es ist warm und sehr stickig. Als ich an dem Tresen ankomme, frage ich zuerst, ob der Uniformierte Englisch spricht und sage dann wieder, dass der syrische Botschafter in Deutschland mir gesagt hat, dass ich hier ein Transit-Visum für zwei Wochen bekomme. Der Grenzer, wieder ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren, nimmt meinen Pass und blättert ihn durch. »Transit Visum?« - »Yes, to Dar’â, to Jordan. Two weeks.« Er beginnt meine Daten in ein großes Querformatbuch einzutragen. Ich bin erleichtert und denke, dass es jetzt klappt. Er füllt ein DIN-A-5-Formular auf grünlichem ›Sicherheitspapier‹ aus und geht mit dem Formular und meinem Pass in ein kleines Glasabteil hinter dem Tresen. Dort sitzt ein älterer Mann in Uniform mit Mütze und einem dünnen Oberlippenbart. Er sieht aus wie David Niven. Der Jüngere legt ihm das Formular auf den Schreibtisch. Der Ältere sagt etwas und lässt sich den Pass geben. Er begutachtet Pass und Formular mürrisch, dann winkt er mich mit ausgestrecktem Arm und der Handfläche nach unten in das Abteil, aber der Tresen versperrt den Weg. Er macht eine Geste, dass ich links am Tresen vorbei gehen soll. Ich stehe in seinem kleinen Büro und er beginnt, auf Französisch zu sprechen. Ich verstehe nur, dass er das Visum nicht ausstellen kann. Ich antworte auf Englisch, dass sein Botschafter das aber genehmigt hat. Der Ältere spricht auf Arabisch mit dem Jüngeren. Der erklärt mir dann auf Englisch, dass ich nach Ankara zur Botschaft muss und dort ein Visum bekomme. Dass die Grenzbeamten keine Visa mehr ausstellen dürfen. Ich blicke den Älteren an und frage ihn auf Französisch, ob es denn gar keine Möglichkeit gibt, er schnalzt nur mit der Zunge und gibt dem Jüngeren meinen Pass zurück, das Formular wirft er in einen Ablagekasten. Ich bin ziemmlich sicher, dass ich ihn ohne den Jüngeren und in einer gemeinsamen Sprache hätte überreden oder bestechen können. Das Transit-Visum war ja eigentlich schon ausgestellt, nur Stempel und Unterschrift fehlten noch. Ich gehe zurück zum Motorrad. Im Zollbereich schreit Murat einen Uniformierten auf Türkisch oder Kurdisch an, auch bei ihm scheint nicht alles glatt zu laufen. Der junge Mann in Khaki vom Anfang erscheint wieder. Ich frage nochmals, ob es denn wirklich gar keine Möglichkeit gibt. Er sagt wieder, »Ankara.« und öffnet eine Absperrkette, um mich auf die Gegenfahrbahn zu lassen. Ich fahre zurück zum türkischen Grenzposten. Unter den Jandarma spricht einer Deutsch und ich erzähle ihm meine Geschichte. Sie drücken neue Einreisestempel in meinen Pass und wünschen viel Glück für die Fahrt nach Ankara. Zum Glück bin war ich vorbereitet und habe einen Ausweichplan. An einem Torbogen steht ein weiterer Jandarma, der mich anhält und meinen Pass ein letztes Mal kontrolliert. Er bedeutet mir, dass ich zurück zum Grenzposten muss, weil mein Motorrad nicht wieder mit eingereist ist. Er nimmt sein Funkgerät und gibt das an die Kontrollstation weiter. Ich wende wieder und fahre zurück zum türkischen Posten. Als ich dort eintreffe, steht der deutschsprachige Jandarma schon bereit und bringt mich in das Abfertigungsgebäude. Drei Männer beugen sich über meinen Pass und diskutieren, wie sie ihren Fehler möglichst unauffällig ausbügeln können. Schließlich erklärt mir der deutschsprachige Jandarma, dass sie die Ausreise meines Motorrads ungültig stempeln, um keine neue Einreise eintragen zu müssen. Hinterher ist offenbar alles wieder legal und eine Seite meines Passses ist voller Stempel, durchgestrichener Stempel und handschriftlicher Erklärungen. Bevor ich losfahre, drehe ich mich noch ein mal nach Syrien um, aber der Grenzposten ist von hier aus nicht zu sehen und die Straße ist leer.

Mo., 4. Mai 1987, türkische Ausreise-Stempel
Der Jandarma am Torbogen kontrolliert meinen Pass nochmals, er nickt und gibt ihn mir zurück. Ich fahre zurück nach Samandağ, drehe meine drei Runden und buche mich wieder in der Pension ein. Der Besitzer lässt sich erklären, was passiert ist und scheint empört darüber, wie die Syrer mich behandelt haben. Er bringt zwei Çay und setzt sich zu mir, jetzt beginnt er eine große Suada über die Araber im Allgemeinen und die Syrer im Speziellen. Wie vor jeder Grenze bisher, ist das nächste Land voller Betrüger und Verbrecher, immer sind alle unehrlicher und gefährlicher als ›hier‹. Ich trinke noch ein paar Çay und rauche viel zu viele Zigaretten während ich auf die Landkarte starre und von der weiteren Reise träume. Am späten Nachmittag rufe ich meine Eltern an und sage Bescheid, dass Plan B jetzt aktiv ist. Meine Mutter hat inzwischen jemanden gefunden, deren Französisch gut genug ist, um meinen Visumantrag nochmals zu kontrollieren und in wenigen Punkten zu korrigieren. Antrag, Pass und frankierter Rückumschlag sind schon in einem Briefumschlag, den sie heute noch abschicken werden, die Bearbeitungsgebühr überweisen sie jetzt auf dem Weg zur Post.
Zurück im Restaurant bestelle ich das Tagesmenü und ein Bier. Als der Sohn des Besitzers das Bier bringt, fährt eine BMW aus Gießen vor. Ich grüße den Fahrer mit zwei Fingern der linken Hand und winke ihn auf die Terrasse. Er sucht ein Hotel und ich kann ihm dieses hier wärmstens empfehlen, er spricht kurz mit dem Besitzer und bucht ein Zimmer. »Willst Du was essen? Ich bestelle noch ein zweites Menü, ok?« Er streckt den Daumen hoch und lässt sich von der Mutter des Besitzers zu seinem Zimmer führen, nach einer halben Stunde kommt er zurück und wir essen. Er heißt Andi und ist Photograph von Beruf. Ich halte mich für einen ziemlich begabten Hobby-Photographen und möchte das gerne zu meinem Beruf machen, habe aber keine Ahnung wie. Ich will Reportagen machen, am liebsten in Krisenregionen. Robert Capa ist mein großes Idol. Erstmal muss ich Andi aber von heute von der Grenze erzählen und dabei zumindest ungefähr meine weiteren Reisepläne erklären. Wir essen und reden und trinken viele Biere. Inzwischen kann ich auch die meisten von Andis Fragen zu diesem Ortsteil von Samandağ beantworten und ihn davor warnen, nachts am Strand spazieren zu gehen. Um Mitternacht macht das Restaurant zu und wir gehen in unsere Zimmer. Andi will einen Tag hier bleiben und dann wieder hoch nach Zentralanatolien, Kappadokien scheint dieses Jahr ein beliebtes Ziel zu sein.
Tag 27, Dienstag

Di., 5. Mai 1987, Samandağ, Denizli
Am nächsten Morgen bin ich ziemlich früh wach und beginne den Tag mit einem ausgedehnten Spaziergang am Strand. Ich wandere den Strand etwa eine Stunde Richtung Norden entlang. Der Strand ist einige hundert Meter breit, mit hellem feinen Sand, eigentlich perfekt, wären da nicht die Unmengen an Plastiktüten und kleinen Plastikschnippseln. Die Sonne scheint hell durch die diesige Luft. Bis auf die wenigen Gebäude rund um das alte Hotel ist der Strand über viele Kilometer praktisch leer. Auf dem Weg nach Norden ist vor mir das Küstengebirge zu sehen, auf dem Rückweg nur der weite Strand, das Gebäudeensemble rund um das alte Hotel und die Beton-Strommasten, die ohne sichtbares Ende weiter nach Norden führen, und alles macht einen sehr verlassenen und traurigen Eindruck. Ich gehe näher an’s Wasser, ziehe die Turnschuhe und Socken aus und laufe in der leichten Brandung, das Wasser ist sehr kalt und der ständige Wind vom Meer ist unangenehm kühl. Zurück bei meiner Pension setze ich mich auf die Terrasse und frühstücke. Gegen zehn kommt auch Andi zum Frühstücken, wir plaudern ein bisschen über das Photographieren, ich erzähle, dass ich nach der Reise irgendwo Photographie studieren oder eine Assistenz bei einem Photographen machen will. Er schüttelt den Kopf und fragt, was ich denn eigentlich von der Photographie will, ob ich wirklich meine Freiheit des Ausdrucks aufgeben und meine Leidenschaft zum Beruf machen will. Ich bin mir nicht sicher, frage zurück, wieso er das zu seinem Beruf gemacht hat. Wir diskutieren das bis in den Nachmittag. Schließlich stelle ich die praktische Frage, wie ich die Verlassenheit und diesige Helle des Strands in einem Photo abbilden kann. Andi setzt zu einer Antwort an, stockt dann aber, greift in seinen kleinen Lederrucksack und legt ein Buch auf den Tisch. »Hier, da steht alles drin. Schenk‘ ich Dir, wenn Du willst.« - »Cool! Danke.« Andreas Feiningers ›neue Foto-Lehre‹ von 1965. Ich blättere das Inhaltsverzeichnis durch, gleich am Anfang wird gefragt, warum man eigentlich photographieren will, und ob aus Leidenschaft oder zum Broterwerb – unsere Diskussion von heute Vormittag.

Di., 5. Mai 1987, Samandağ, Denizli

Sa., 16. Mai 1987, Samandağ - Homs
Gestern Morgen kam der Pass mit meinem Visum an und nachmittags ein weiterer Umschlag mit einem meiner alten Nierengurte und ein Brief von Ande.
Heute vormittag war ich wieder in Bab al-Hawa, mit Visum war der Grenzübertritt problemlos, trotzdem hat es insgesamt drei Stunden gedauert. Die türkischen Grenzer waren etwas verwirrt wegen der wirren Stempel und Eintragungen zu meinem Motorrad, schließlich haben sie alles bereinigt. Nach der Ausreise stecke ich meinen alten Pass tief in den Tankrucksack und den neuen in die Brieftasche. Ich hoffe, die Syrer gucken nicht nach meiner korrekten Ausreise aus der Türkei, denn der neue Pass ist bis auf das syrische Visum noch völlig blank. Glücklicherweise kann sich keiner der Uniformierten, die heute Dienst haben, an meinen ersten Einreiseversuch vor zehn Tagen erinnern. Hinter der Abfertigungsstelle empfängt mich ein antikisierender Triumphbogen in Syrien. Ich bin endlich in Arabien. Alle Staaten in dieser Region sind erst ein paar Jahrzehnte alt und Produkt der Zerschlagung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Die britischen Befehlshaber in Ägypten versprachen den verbündeten arabischen Fürsten und Truppenführern eigene unabhängige Staaten in allen von den Osmanen befreiten Gebieten. Doch nach dem Sieg gegen die verbündeten Truppen Deutschlands, Österreichs und des Osmanischen Reichs und der Abschaffung des Sultanats und Gründung der türkischen Republik durch die ›Jungtürken‹ unter Kemal Atatürk hatten die Politiker in Paris und London andere Pläne: Syrien, der Libanon und das Hatay wurden zwar formal unabhängig, zugleich aber unter französisches Protektorat gestellt, die südlichen Gebiete Palästina/Jordanien, Transjordanien und die arabische Halbinsel und Ägypten unter britisches. Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1949 und den nachfolgenden Kriegen mit den arabischen Nachbarn wurden die Grenzen in der Region immer wieder neu gezogen.
Nach zehn Kilometern Richtung Aleppo biege ich rechts ab nach Süden. Ich fahre zwei Stunden durch eine hügelige karge Landschaft. Seit ich die Küste verlassen habe, ist es kontinuierlich wärmer geworden. Inzwischen sind es bestimmt 30° bei leichtem trockenen Wind. In den kleinen Ortschaften, die ich passiere, haben die meisten Häuser kleine sehr gepflegte Vorgärten. Grüne Vegetation wird hier offenbar hoch geschätzt und gerne gepflegt. Hinter Hama wird die Fernstraße vierspurig und ich bin in weniger als einer Stunde in Homs, meinem heutigen Tagesziel. In der Innenstadt finde ich ein Hotel, das in einer schmalen Nebenstraße liegt, aber mit 8 US-$ ziemlich teuer ist. Bei der Einreise musste ich 100 US-$ in syrische Pfund tauschen, in Hotels und Tankstellen müssen Ausländer aber in westlichen Währungen bezahlen, offiziell in US-$, aber meine britischen Pfund und französischen Franc werden ebenfalls gerne angenommen. Wegen des schlechten Kurses beim Zwangsumtausch kostet ein Liter Benzin hier über 1,30 DM, wie ich die 1.000 syrischen Pfund, die ich zwangsweise in meiner Brieftasche habe bis Dar’â ausgeben soll, ist mir trotzdem schleierhaft. In Homs wandere ich zunächst ziellos durch die Innenstadt. Gegenüber der Gasse meines Hotels beginnt ein großer rechteckiger Platz, der mit Lichterketten geschmückt ist. Ich gehe in ein Café an einer der Längsseiten des Platzes und bestelle ›Kahva‹, sobald ich sitze kommt ein Junge und fragt, »Shisha?«. Ich will den Kopf schütteln, besinne mich aber, schnalze mit der Zunge und sage »No«. Ich sitze in einem Vorgarten, den grüne Büsche und bunte Blumen von der Straße abschirmen. Die meisten Gäste sind ältere Männer, die zu zweit an kleinen Tischchen sitzen, Mokka oder Tee trinken und Wasserpfeife rauchen. Der Platz ist voller nachmittäglicher Spaziergänger, mindestens 80% der Männer tragen uniformähnliche Kleidung, richtige Militärs und Polizisten sind eigentlich nur an ihren Mützen oder Baretten zu erkennen. Wie schon im Hatay tragen viele Frauen bunte Kleider und fast keine Kopftuch, vermutlich auch hier Einfluss der alevitischen Glaubensrichtung, die zumindest von der syrischen Regierung vertreten wird. Vielleicht aber auch Folge der offiziell sozialistischen Staatsform.
Ich bin immer noch überrascht davon, mit welchem Selbstbewusstsein die Syrer mir gegenüber auftreten. Anders als in der Türkei werde ich nicht bewundert und verehrt, weil ich aus Deutschland komme, stattdessen kommt auf meine Antwort ›Germany‹ immer wieder die für mich ungewohnte Gegenfrage ›East or West?‹. Die Leute hier machen im Vergleich zur Türkei einen sehr stolzen und selbstsicheren Eindruck, sind dabei aber ebenso freundlich und zuvorkommend wie die Türken. Deutschland ist hier kein Traumziel, kein gelobtes Land, sondern einfach nur eines dieser reichen Länder in Europa. Die DDR unterstützt Syrien zusammen mit der Sowjetunion wirtschaftlich und militärisch. Statt davon zu träumen, eines Tages als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, ist man hier daran gewöhnt, (ost-) deutsche Ingenieure und Offiziere als technische und militärische Berater zu empfangen.
On the Beach 2 nach oben
Ich denke an die letzten Tage meiner ›Gefangenschaft‹ am Strand von Samandağ.
Tag 30, Freitag
Am Freitag nach meinem erstem Versuch an der syrischen Grenze hatte ich nachmittags einen Spaziergang zu der Einkaufsstraße, die vom Strand zum Ortszentrum von Samandağ führt, unternommen. Da wo die Aspahltstraße im Sand endet standen wie immer die blau-gelben Taxis. Peter Falk grinste und winkte mir zu. Ich spazierte die Asphaltstraße entlang. In den Erdgeschossen der niedrigen Häuser waren kleine Geschäfte, Cafés und Restaurants. Die Straße war voller einheimischer Spaziergänger.Auf der linken Straßenseite hatte sich vor einem kleinen Eis-Laden eine lange Schlange gebildet.

Fr. 8. Mai 1987, Samandağ, drei Freunde
Den Schluss bildeten drei Jungs, nur wenig jünger als ich. Ich stellte mich hinter ihnen ebenfalls an. Zwei der Jungs sagten »Merhaba«, einer »Guten Tag«. Ich lächelte und sagte »Hallo, Merhaba«. Wir stellten uns vor und schüttelten uns die Hände. Der eine, der ein bisschen Deutsch konnte, hieß Yücel. Wir alle kauften uns ein Eis und spazierten weiter Richtung Ortszentrum. Alle drei bombardierten mich mit Fragen und Yücel musste für seine Freunde den Dolmetscher geben. Nach einer halben Stunde Geplauder auf Deutsch und Türkisch, trennten wir uns wieder und ich ging langsam zurück zum Strand. Bei den Taxis hatte Yücel mich eingeholt und fragte, ob er mitkommen könne und wir noch einen Tee tinken wollten. Natürlich stimmte ich zu. Wir setzten uns auf die Terrasse des Restaurants und Yücel begrüßte den Besitzer sehr höflich. Ich bestellte zwei Çay. Yücel war sehr stolz auf das bisschen Deutsch, das er sich selbst beigebracht hatte, und froh, es endlich mal in einem richtigen Gespräch verwenden zu können. Sein Onkel hatte ein Baunternehmen und er arbeitete gelegentlich auf den Baustellen, so dass er ein bisschen Geld hatte und unbedingt darauf bestand, unseren Tee zu bezahlen. Yücel lud mich ein, am Sonntagabend mit ihm in Smandağ Billardspielen zu gehen und ein Bier zu trinken. Ich hatte den Eindruck, er wollte seinen Freunden seinen neuen deutschen Freund vorführen. Seit Andi am Mittwochmorgen weitergefahren war, hatte ich niemanden mehr getroffen und war froh über jede Abwechslung, die mir der Strand bieten konnte. Sonntagabend wollte Yücel abends zum Hotel kommen und wir fahren zusammen mit dem Motorrad nach Samandağ. Als die Sonne schon tief über dem Meer stand, musste Yücel nach Hause. Wir verabschiedeten uns, Yücel war sehr froh über unsere Verabredung für Sonntagabend und ich war nicht ganz sicher, wer hier wen für eigene Zwecke ausnützte. Yücel war jedenfalls trotz seiner manchmal übertriebenen Höflichkeit, die fast an Unterwürfigkeit grenzte, ein sehr netter Mensch und ich verbrachte gerne Zeit mit ihm.
Als Yücel gegangen war, fragte der Besitzer mich, ob ich heute Abend mit der Familie essen wolle. Natürlich stimmte ich begeistert zu. Er sagte, dass es eine besondere Spezialität des Hatay gebe, die seine Mutter nach altem Familienrezept zubereitete. Ich bedankte mich und bestellte ein Bier, dass ich zum Sonnenuntergang trank. Irgendwann kam der Sohn des Besitzers zu mir und bat mich an den Familientisch vor dem laufenden Fernseher. Zunächst gab es eine große Platte mit verschiedenen Vorspeisen, dann brachte die alte Dame eine Schüssel mit einem Gericht, dass wie ein Risotto aussah. Der Besitzer machte eine Geste, dass ich den Duft genießen solle. Ich folgte seinem Rat und bereute es sofort. Aus der Zeit, als wir zu Hause noch einen Hund hatten, erkannte ich den fauligen Geruch sofort: Pansen. Aber solange ich nicht aktiv an dem Essen roch, war der Geschmack erstaunlich gut. Ich lobte das Essen auf Deutsch als »Wunderbar!« und sage, »Çok güzel« auf Türkisch für die Mutter des Besitzers. Zum Glück schmeckte es allen anderen tatsächlich hervorragend und die Schüssel mit Pansen-Risotto leerte sich schnell. Um die letzte Portion entbrannte ein kleiner Höfflichkeitsstreit, ich gewann und der Sohn des Besitzer füllte sie sich unter den missbiligenden Blicken seiner Großmutter auf den Teller. Der Besitzer brachte Çay und Baklava. Ich war froh, beim Essen wieder normal atmen zu können und hoffte, dass die Familie nichts bemerkt hatte. Ich bot allen Zigaretten an, nur die Großmutter nahm sich ohne zu zögern eine. Vater und Sohn musste ich noch zweimal auffordern, bevor sie annehmen. Der Abend endete wie erwartet mit einer großen Flasche Raki, die schnell geleert war.
Tag 31, Samstag
Ich saß vormittags beim Frühstück auf der Terrasse, als eines der blauen Taxis vor dem Hotel hielt, ein Mann in weißer Thawb und einer rot-weißen Keffiah mit schwarzer Aqâl auf dem Kopf stieg aus, ging zur Rezeption und kam kurz danach auf die Terrasse. Er bestellte einen Tee und rauchte dazu eine Marlboro. Beim Hinsetzen winkte er kurz zum Gruß.
Ich saß den ganzen Tag auf der Terrasse, las das Photo-Buch, das Andi mir geschenkt hatte. Nachmittags kam der Araber zu mir, stellte sich auf Englisch als Saïd vor, ich sagte meinen Namen und bot ihm einen Platz an. Saïd bestellte Tee und Baklava für uns beide. Er erzählte, dass er aus Kuwait komme und jedes Jahr im Ramadân in die Türkei oder nach Europa reise. Zuhause werde sowieso nicht wirklich gearbeitet und tagsüber zu fasten und sich dann nachts den Bauch vollzuschlagen sei einfach zu ungesund und auch gar nicht im Sinne des Propheten. Saïd grinste. »Der Koran nimmt Reisende von der Pflicht des Fastens aus. Ich halte mich also vollständig an die Regeln, solange ich nicht zu Hause bin.«
Obwohl Saïd auf Reisen war und sich nicht an die Zeiten des Fastenbrechens halten musste, bestellten wir unser Tagesmenü erst nach Sonnenuntergang. Heute gab es mal wieder gegrillten Fisch.
Tag 32, Sonntag
Am späten Vormittag saß ich wieder mit meinem Buch zum Frühstück auf der Terrasse. Saïd war nirgends zu sehen. Ich vetrödelte den Tag und bestellte am Nachmittag ein Sandwich mit Rührei und Salat, um mich auf auf die Verabredung mit Yücel vorzubereiten. Beim Essen studierte ich noch mal meine Nahost-Karte und machte einen Routenplan durch Syrien und Jordanien, wie immer unter Umgehung der üblichen Sehenswürdigkeiten.
Abends kam dann Yücel den Strandweg entlang gewandert. Ich winkte ihn zu mir und er kam direkt auf die Terrasse.
Zehn Minuten später waren wir auf dem Motorrad unterwegs ins Ortszentrum von Samandağ. Yücel lotste mich in eine kleine Straße nahe des Hamam. Vor einer Bar mit Tischen auf dem Gehweg stand eine Reihe von Mopeds und Rollern. Ich stellte die BMW neben die Mopeds, packte Helm und Nierengurt in die leere rechte Alubox und wir gingen in die Bar. Der vordere Raum war quadratisch, an der linken Wand stand der lange Tresen, rechts einige Tische mit Jugendlichen und jungen Männern, neben einigen Tischen standen große Shishas. Offenbar hatte Yücel alle seine Freunde informiert, auch die zwei anderen von Freitag waren da. Yücel holte ein Bier für mich und eine Orangenlimo für sich vom Tresen. Nachdem er alle Bekannten und Freunde begrüßt und mich ihnen vorgestellt hatte gingen wir in einen hinteren Raum, an den Tischen dort wurde Tavla oder Karten gespielt, nach links öffnete sich ein weiterer Raum, in dem der Billardtisch stand. Vier junge Männer spielten, einer lächelte Yücel an und sagte etwas auf Türkisch. »OK, die sind in zehn Minuten fertig und sagen dann Bescheid. Du möchtest Şişa?« - »Gern.« Yücel winkte mir, ihm zu folgen und ging zurück in den ersten Raum. Wir setzten uns zu ein paar Freunden von ihm. Yücel holte zwei frische Mundstücke und einen Klumpen Tabak vom Tresen. Die Shisha schmeckte wie eine sehr leichte Pfeife, der Tabak war süßlich aromatisch. Yücel fummelte die ganze Zeit an dem Tabak und dem kleinen Stückchen Kohle herum, um eine gute gleichmäßige Erhitzung des Tabaks herzustellen. Er bemühte sich sehr, mir einen angenehmen Abend zu bereiten. Schon nach wenigen Zügen meldeten die bisherigen Billardspieler, dass der Tisch nun frei sei.
Auf dem Weg in den Billardraum bestellte ich noch ein Bier und eine Orangenlimo am Tresen. Wir spielten zwei Runden 8-Ball, die ich beide gewann. Yücel machte ein paar schlimme Fehler, von denen ich annahm, dass er sie mit Absicht machte, um mich gewinnen zu lassen. Wir plauderten die ganze Zeit. Yücel hatte viele Fragen zum Leben in Deutschland, die ich so gut und ehrlich wie möglich beantwortete. Die dritte Runde konnte er dann gewinnen, weil ich die schwarze Acht falsch einlochte. Neben dem Tisch warteten ein paar weitere Jugendliche, wir ließen sie zwei Runden spielen und guckten dem Spiel zu. Yücel hatte noch mal Getränke geholt. Irgendwann sagte Yücel, er müsse jetzt nach Hause. Ich guckte auf die Uhr und es war tatsächlich schon zehn vor zwölf. Wir gingen zum Tresen und Yücel fragte nach der Rechnung. Er legte ein paar Scheine auf den Tresen und ich legte etwa den gleichen Betrag dazu. Nach etwas Hinundher akzeptierte Yücel, dass ich ungefähr die Hälfte der Rechnung übernahm. Vor der Bar bedankten wir uns beide für den schönen Abend und verabschiedeten uns. Ich ging zur BMW und wollte Nierengurt und Helm aus dem Koffer nehmen, doch der Alukoffer war leer! Ich hatte die Box vorhin nicht abgeschlossen und jetzt war der Helm weg. Yücel stand fassungslos neben mir und entschuldigte sich pausenlos, obwohl ihn nun wirklich keine Schuld traf. Ich versuchte, Yücel zu beruhigen und möglichst unbeeindruckt zu wirken. Ich ärgerte mich allerdings sehr über meine Nachlässigkeit und dachte gleichzeitig darüber nach, wie dieses Problem zu lösen wäre.
Auf dem Rückweg an den Strand machte ich im Geist eine Liste der verloren Ausrüstung: Helm, Motorradbrille, Nierengurt, Handschuhe. Eine alte Motorradbrille hatte ich noch irgendwo im Tankrucksack, ebenso ein Paar Ersatzhandschuhe, auf den Nierengurt konnte ich zur Not verzichten, einen Helm sicherlich hier irgendwo kaufen.
Tag 33, Montag
Am nächsten Vormittag kam Yücel wieder zu meinem Hotel. Er begann wieder, sich zu entschuldigen, war den Tränen nahe und ehrlich verzweifelt über den Diebstahl. Ich erklärte ihm meinen Lösungsplan. Er wollte sich nachher erkundigen, wo ich am besten einen Helm kaufen konnte. Ich hatte vorhin schon mit dem Hotelbesitzer gesprochen, der meinte, ich müsse wohl zum Honda-Laden in Antakya fahren, er schrieb den Namen und die Adresse auf einen Zettel. Ich bestellte Çay und Baklava für mich und Yücel, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte.
Ich besprach mit Yücel, wie ich am besten ohne Motorrad nach Antakya kommen könnte, denn ohne Helm wollte ich die Strecke nicht fahren. Yücel schlug vor, nach Samandağ zu laufen und dort einen Dolmuş nach Antakya zu nehmen. Im Sammeltaxi kostete die Fahrt nur ein paar Lira. Für den kommenden Mittwoch haben wir uns dann für ›einen Spazier‹ zu den antiken römischen Ruinen am Nordende des Strands verabredet.

Mi., 13. Mai 1987, antike römisch-christliche Grabstätte nördlich von Samadağ
Abends rief ich noch mal zu Hause an, habe von meinem Missgeschick berichtet und meine Eltern gebeten, mit dem Pass auch einen Nierengurt nach Samadağ zu schicken.
Tag 34, Dienstag
Nach einem schnellen Frühstück war ich Dienstagvormittag unterwegs nach Antakya. Am Anfang der Asphaltstraße nahm ich das Taxi von Peter Falk und ließ mich zur zentralen Dolmuş-Haltestelle in Samandağ fahren.

Di., 12. Mai 1987, Samadağ, Taxi-Station, ›Peter Falk‹
Der Nissan-Kleinbuss brauchte fast eine Stunde für die 30 km nach Antakya, weil immer wieder Fahrgäste aussteigen wollten und neue eingesammelt wurden. Der Fahrer versuchte das durch eine möglichst rasante Fahrweise zwischen den Stopps auszugleichen. Auf der Bank in der hintersten Reihe musste sich ein kleiner Junge übergeben, was die schlechte Luft und Stimmung im Dolmuş nicht verbesserte. In Antakya habe mich dann mit dem Zettel mit der Adresse in der Hand zum Honda-Händler durchgefragt. Die Auswahl an kleinen Mopeds war deutlich größer als die an Helmen. Es gab ein Integralhelm-Modell in zwei Farben: hell-blau und metallic-rot. Nur einer in rot hatte die richtige Größe, er sollte umgerechnet knapp 100 DM kosten. Ohne zu Zögern kaufte ich ihn und machte mich auf den Rückweg. In Samandağ ging ich zu Fuß Richtung Strand, nach zehn Minuten hielt das blaue Taxi von Peter Falk neben mir, er machte eine Geste, dass ich einsteigen solle. Diesmal fragte ich ihn nach seinem merkwürdig umgebauten US-Auto. Der '78er Caprice Kombi hatte einen Mercedes Dieselmotor samt passendem Schaltgetriebe bekommen. Die Stelle, an der der Schalthebel ins Wageninnere ragte, war nur notdürftig mit Plastikfolie verdeckt und offenbar war der Mercedesmotor mit Getriebe länger als der originale Chevroletmotor, denn eine wilde Blechkonstruktion ragte in der Mitte in den vorderen Fußraum. Das Armaturenbrett war mit vielen bunten Photos geschmückt, am Spiegel hing eine Art Amulett mit einer arabischen Inschrift.
Tag 37, Freitag
Am Vormittag, als ich auf der Terrasse zum Frühstück saß, kam ein Briefumschlag mit meinem Pass an, auf Seite fünf prangte tatsächlich das syrische Visum für eine einmalige Einreise innerhalb der nächste drei Monate mit ein paar bunten Gebührenmarken und der Unterschrift des Botschafters. Nachmittags kam dann ein weiterer dicker Umschlag mit meinem alten Nierengurt und ein Brief von Ande.

Fr., 15. Mai 1987, Samandağ
Sympathy for the devil 2 nach oben
Tag 38, Samstag
Während ich die letzten Tage am Strand von Samandağ an mır vorbei ziehen lasse, ertönen Böllerschüsse und die Muëzzine beginnen ihren Abendruf. Zeit für das abendliche Fastenbrechen. Ich zahle meinen Kaffee und gehe auf den Platz, um ein Restaurant für das Abendessen zu suchen. Obwohl die Restaurants viele zusätzliche Tische auf den Platz gestellt haben, gibt es keine freien Plätze. Ich schlendere etwas ratlos durch die Tische und weiche den Kellnern mit ihren großen Tabletts aus. Ich komme an einem Tisch mit Europäern vorbei und meine Deutsch zu hören. Ein Mann Mitte 50 in Jeans und T-Shirt spricht mich an: »Einen freien Platz findest Du erst um zehn wieder, willst‘e Dich zu uns setzen?« - »Ja, gerne, wenn ich nicht störe.« Der Mann und die anderen am Tisch machen einladende Gesten und einer ruft auf arabisch einen Kellner, der nach einer Minute mit einem zusätzlichen Stuhl erscheint. Ich setze mich und stelle mich vor. Die Herkunft der fünf Männer kann ich nicht wirklich einschätzen. Zwei sprechen mit starkem berliner Akzent, einer norddeutsch und die beiden anderen klingen fast wie Hanoveraner. Im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass zwei aus Berlin, einer aus Rostock und die beiden anderen aus Burg bei Magdedurg und Ingenieure sind und hier als technische Berater arbeiten, bezahlt von der Regierung in Ost-Berlin. Einer von Ihnen arbeitet ›in der Nähe‹ von Tartus, wo die sowjetische Marinebasis ist. Zwei bauen die Autobahn nach Palmyra, und der Berliner, der mich angesprochen hat, baut eine chemische Fabrik nördlich von Damaskus.
Die fünf sind die ersten DDR-Bürger mit denen ich mich unterhalte, mit denen ich nicht verwandt bin. Sie wollen alle Details von meiner BMW hören, alle hatten früher MZs und einer hat sogar eine antiquarische EMW R 35, die ursprünglich im BMW-Werk in Eisenach entwickelt worden war und in den 50er Jahren als eines der wenigen Viertaktmotorräder der DDR produziert wurde. Nach dem Essen bestellt der Berliner Cognac und wir sitzen bis weit nach Mitternacht plaudernd zusammen. Ich frage, ob sie verstehen, warum so viele Männer uniformähnliche Kleidung tragen. »Billig, stabil und leicht zu reinigen. Außerdem ist die Uniform das Symbol der Gleichheit, die im Sozialismus, neben der Brüderlichkeit, die wichtigste Tugend ist.« Der Berliner zwinkert mir zu, ich nicke grinsend. Aber nimm Dich in Acht vor den Pink Panther, mit ihren rosa Baretts. Das sind die Jungs vom Militärgeheimdienst, mit denen ist nicht zu spaßen. Die werden sogar von den Russen wie rohe Eier behandelt.« Die Restaurants waren gegen zehn leerer geworden, aber immer noch gut besetzt. Einige Einheimische können es sich offenbar leisten, das Fastenbrechen bis zur Morgenspeise kurz vor Sonnenaufgang durchzuhalten. Wir gehen um eins in unsere Unterkünfte zurück, die Ingenieure bestehen darauf, mein Essen und die Getränke zu bezahlen.
Tag 39, Sonntag

So., 17. Mai 1987, Homs - Mittelmeer - Homs
Am nächsten Morgen wache ich früh auf, weil das Bett zu kurz und zu weich ist. Ich stehe auf, will zum Platz zurück für ein Frühstück, sehe aber auf dem Weg ein Hinweisschild, das zum ›Tourist-Office‹ weist. Ich gehe zum Tourist-Office und frage die netten, sehr hilfsbereiten jungen Mitarbeiter, wo ich eine Straßenkarte von Syrien kaufen kann. Sie drücken mir die kostenlose Straßenkarte vom syrischen Tourismusministerium in die Hand. Für meinen Geschmack ist sie etwas zu bunt, aber scheinbar genau und in einem brauchbaren Maßstab. Ich bedanke mich, stecke die Karte ein und frage, ob ich mein Gepäck und die Motorradklamotten bis zum Mittag hier lassen kann. Ich will mittags nach Damaskus aufbrechen, aber nicht den ganzen Vormittag mit dem schweren Rucksack und den Motorradklamotten ‘rumlaufen. Der junge Mann erklärt mir, dass das Tourist-Office von 12 bis 13 Uhr nicht besetzt ist, danach kann ich die Sachen wieder abholen, er steckt alles in einen abschließbaren Schrank und ich gehe zu dem großen Platz, der jetzt fast völlig leer ist. In dem kleinen Café von gestern Nachmittag bestelle ich einen ›Kahve‹ und muss wieder die Shisha ablehnen. Einer der älteren Herren, die wie gestern hier sitzen, spricht mich auf Französisch an, wir plaudern ein bisschen in einem Gemisch aus Englisch und Französisch. Als Junge ist er auf eine französische Jesuitenschule gegangen. Als Christ muss er sich nicht an den Ramadan halten, bevorzugt aber diesen abgeschirmten Garten, um die Fastenden nicht mit seinem Kaffee und der Shisha neidisch zu machen. Er erzählt, dass sich in den strengeren arabischen Staaten am Golf auch Nicht-Moslems an den Ramadan halten müssen und drakonische Strafen sogar für das Rauchen in der Öffentlichkeit während des Ramadan drohen.
Um eins schlendere ich zurück zum Tourist-Office. Auf der Stufe zum Eingang sitzen zwei junge Frauen in Shorts, daneben an die Wand gelehnt steht ein Mann, der raucht. Ich stelle mich dazu und sage Hallo. Er kommt aus Frankreich, die beiden Mädchen sind Deutsche. Inzwischen ist es kurz nach zwei und das Tourist-Office ist noch nicht wieder geöffnet. Wir führen die üblichen Reisegespräche während wir warten. Der Franzose übernachtet in der Jugendherberge vom YMCA ein paar Straße weiter. Die beiden Mädchen wechseln je nach Ansprechpartner zwischen Deutsch und Französisch, Sätze für beide sagen sie auf Englisch. Um halb drei setze ich mich auf der anderen Seite des Eingangs auf den Boden und lehne mich an die Wand, ich breite die neue Straßenkarte vor mir aus und überlege, was ich tun kann, wenn das Tourist-Office nicht rechtzeitig wieder öffnet. Nach Damaskus sind es zwar nur ca. zwei Stunden, aber ich will auf jeden Fall eine Unterkunft gefunden haben, bevor es kurz nach sechs dunkel wird. Ich beschließe, dass ich nur nach Damaskus fahre, wenn ich hier bis drei wegkomme, und ansonsten die 80 km an die Mittelmeerküste fahre und dort einen Campingplatz suche. Kurz nach drei kommen die Mitarbeiter des Tourist-Office zurück, sie entschuldigen sich für die Verspätung und sagen mehrfach ›Ramadan‹.
Ich lasse mir meine Sachen zurückgeben und gehe zu dem Hotel von letzter Nacht, um mein Motorrad aufzupacken. Kurz vor vier verlasse ich Homs Richtung Westen.
Die Strecke führt durch ein weites Tal, links sind die nördlichen Ausläufer des Libanon-Gerbirges, rechts auf einer Bergspitze eine Burg mit gleißend weißen Mauern zu sehen. In Al Khansâ verpasse ich es, auf eine kleinere Landstraße abzubiegen und bleibe versehentlich auf der Haupt-Fernstraße, die nach 20 km ohne offiziellen Grenzübergang in den Libanon führt. In einem kleinen Dorf zwingt die Streckenführung mich nach Süden, einige Kilometer weiter stehen am Straßenrand ein paar Jugendliche in Jeans und mit Keffiah, alle tragen Kalaschnikows an Riemen vor dem Bauch. Einer bedeutet mir anzuhalten. Ich bin beunruhigt und habe keine Ahnung, was diese Straßenkontrolle zu bedeuten hat. An einem kleinen Holzschuppen neben der Straßensperre ist die schwarz-weiß-grüne Fahne mit dem roten Winkel der PLO befestigt. Ich stoppe das Motorrad neben den Jungs und krame nach meinem Pass in der Jackentasche. Einer zielt mit seiner Kalaschnikow auf mich. Ich gebe meinen Pass dem scheinbaren Anführer der Gang. Der blättert durch den Pass bis er das Visum für Syrien findet. In einer Mischung aus Arabisch und Englisch erklärt er mir, dass ich im Libanon bin und nicht in Syrien und diese Straße für Zivlisten gesperrt ist. Er zeigt die Straße zurück nach Norden und sagt, ich muss sofort zurück nach Syrien fahren. Er gibt mir den Pass wieder und lächelt seine Kameraden an, mit der linken Hand macht er eine Geste, die entweder bedeutet, dass ich wenden soll oder dass ich ein bisschen verrückt bin. In dem Dorf, wo ich nach Süden abgebogen bin, sehe ich jetzt ein Hinweisschild, das nach rechts nach Syrien zeigt. Wieder in Syrien finde ich ein Schild Richtung Tarsus, ich biege links ab und bin nach zwei Kilometern wieder auf der syrischen Fernstraße zum Mittelmeer.
Die Küstenstraße führt durch grüne Hügel nach Norden, ein Campingplatz oder andere touristische Infrastruktur ist trotz langer weißer Strände nirgends zu sehen. Ich halte an einem Parkplatz nahe am Meer, rauche eine Zigarette und blicke auf die Straßenkarte. Ich beschließe, noch bis zu den Vororten von Tarsus zu fahren und weiterzusuchen, wenn ich nichts finde, fahre ich zurück nach Homs. Nach einer halben Stunde wende ich mein Motorrad und fahre zurück. Dieses Mal achte ich sehr genau auf den Weg. Auf dem Weg zurück nach Homs verstehe ich, warum die französischen Kreuzritter sich vor fast tausend Jahren gerade hier niedergelassen haben und auch nach dem Fall von Jerusalem hier noch fast hundert Jahre lang ausgeharrt haben. Die Hügel der syrischen Mittelmeerküste sehen aus wie die Provence, auch Wetter und Vegetation sind fasst gleich. Die Burg, die ich vor ein paar Stunden kurz gesehen habe, ist aus dieser Richtung noch beeindruckender und glänzt in der tief stehenden Sonne. Später lese ich, dass das Crak des Chevalliers Sitz der Grafen von Tripolis war, aus deren Familie auch der König von Jerusalem stammte. Mit dem klaren Ziel Homs, und dem Wissen, wo ich dort übernachten kann und wo es was zu essen gibt, bin ich beinahe euphorisch und singe laut die Textfragmente von Sympathy for the devil, an die ich mich erinnere. Kurz vor sechs bin ich wieder in Homs. Während ich die Jugendherberge suche, höre ich die Böllerschüsse des abendlichen Fastenbrechens. Vor dem YMCA treffe ich Paul, den Franzosen vom Tourist-Office, in seinem Zimmer sind drei der vier Betten frei und er arrangiert, dass ich eins davon bekomme. Nach dem Abpacken und einer schnellen Dusche gehen wir zusammen auf den Platz und suchen einen Tisch zum Abendessen. Die Jugendherberge kann mit syrischem Geld bezahlt werden, so werde ich immerhin noch mal 10 der 1.000 syrischen Pfund aus dem Zwangsumtausch los.
Tag 40, Montag

Mo., 18. Mai 1987, Homs - Damaskus
In den 10£ für die Übernachtung ist auch Frühstück enthalten, dass aus einem Milchkaffee und einem Stück Gebäck besteht. So bin ich schon um zehn auf der Landstraße Richtung Süden. Heute ist der bisher wärmste Tag meiner Reise. Es geht durch eine hügelige sonnenverbrannte Landschaft, immer noch sind die kleinen Vorgärten in den Ortschaften grün und sehr gepflegt. In einer Kleinstadt halte ich mittags und esse an einem Straßenkiosk ein ›Chicken-Kebab w/ bread‹, wie das Schild in lateinischen Buchstaben sagt. Ausgesprochen gutes Essen, aber auf ›hot sauce‹ werde ich zukünftig verzichten. Ich trinke noch einen Tee und fahre weiter, inzwischen ist es noch heißer geworden. Ich sehne mich nach einem klimatisierten Hotelzimmer und einer Dusche.
Die Landstraße ist jetzt vierspurig und führt einen Hügel hinauf, von oben sehe ich vor mir die Dunstglocke einer großen Stadt: Damaskus! Bei der Abfahrt ins Tal steht rechts auf einer ockerfarbenen Mauer in großen weißen Buchstaben ›Camping. Swimmingpool‹. Ich bremse ab und nehme die Ausfahrt zu dem großen Eisentor des Campingplatzes.
Hinter dem Eisentor steht ein großer gelber Lastwagen mit offener Ladefläche und britischem Kennzeichen. Rechts befinndet sich das Rezeptionsgebäude, ich stelle das Motorrad davor ab und gehe die paar Stufen in‘s Gebäude hinauf. Auf der Terrasse vor der offenen Glastür warte ich, drinnen streitet ein junger schlanker Mann mit dem älteren Mann hinter dem Tresen auf Arabisch vermischt mit ein paar Englischen Schimpfworten. Offenbar geht es darum, dass der reservierte Stellplatz zu klein für den Truck ist. Der kleine rundliche Syrer mit dem Menjou-Bärtchen zuckt die Schultern und beginnt ein Formular auszufüllen. Der Engländer tritt an den Tresen, bedankt sich sehr freundlich und schiebt ein paar Geldscheine über den Tresen. Als der Engländer zurück zum Lastwagen geht, gehe ich in die Rezeption und frage den Syrer, ob es einen Platz für eine Person, ein Motorrad und ein kleines Zelt für zwei Nächte gibt. Er lächelt, sagt, »12 £, pool included.« und zieht das Gästebuch aus einem Fach unter dem Tresen. Wie in der Türkei ist es ein großes Querformatbuch mit vielen Spalten. Er lässt sich meine Papiere geben und will die Daten in sein Buch eintragen, sucht aber nur theatralisch nach einem Stift. Ich greife in die Innentasche meiner Jacke und gebe ihm einen der hundert Kugelschreiber, die ich für kleine Bestechungen wie diese zu Hause bei Aldi gekauft hatte. Er lächelt und trägt meine Daten ein.
Nach den Formalitäten geht er mit mir auf die Terrasse, wendet sich nach rechts und zeigt um die Ecke. Dort seien die Zeltplätze und auch ein paar andere Motorräder.
Gut gelaunt gehe ich die Stufen zur BMW herunter und fahre zur angegeben Stelle. Der Weg zwischen den Plätzen führt in einer Schleife den Hügel hinauf. Am Scheitelpunkt ist das Gelände fast eben und ein paar dürre Bäume spenden ein wenig Schatten. Rechts stehen zwei Zelte und drei BMWs. Ich stoppe am Scheitelpunkt des Weges, stelle die BMW ab und suche einen geeigneten Platz für mein Zelt, nah, aber nicht zu nah bei den anderen. An dem hügelab führenden Teil des Weges steht inzwischen der gelbe LKW und eine Gruppe von jungen Leuten ist dabei, rund um den LKW ihre Zelte aufzubauen. Ich entscheide mich für einen Platz innerhalb der Wegschlaufe, es gibt keine größeren Steine und keine Wurzeln. Ich schiebe die BMW auf meine Parzelle und fange an abzupacken. Ich baue das Gestänge auf und hänge das Innenzelt hinein, auf das Außenzelt kann ich bei diesem Wetter verzichten. Als ich schon meine Sachen ins Zelt räume, kommen drei Jungs, etwas älter als ich, in Badehosen den Weg hinauf geschlendert. Sie unterhalten sich auf Deutsch und lachen. Ich winke ein kurzes Hallo. »Wie ist der Pool?« - »Morgens zu kalt, aber jetzt perfekt.« Die drei stehen vor meinem Platz und beäugen die BMW. »G/S?« - »60/5. Baujahr 73.« - »Aber nicht original, oder?« - »Nee, ziemlich umgebaut.«
Während wir über unsere BMWs fachsimpeln, kommt der junge Mann, der vorhin in der Rezeption war, näher und stellt sich als Ian vor, was aber wie ›Oi‘han‹ klingt. Wir stellen uns ebenfalls vor. Nach ein paar Minuten sitzen wir alle vor meinem Zelt und rauchen Zigaretten. Ian fragt, ob wir Bier wollen. Alle stimmen begeistert zu. Ian geht zu dem Truck, schließt ein Fach unter der Ladefläche auf, verteilt an seine Leute Bierdosen und kommt mit 5 Dosen zu uns zurück. Die Dosen sind sofort beschlagen, das Bier ist sehr kalt.
Ian erzählt, dass er Tour-Scout für Travel Overland ist. Der gelbe LKW gehört einem britischen Reiseunternehmen, das organisierte Reisen in den Mittleren und Nahen Osten anbietet. Man sucht sich eine Tour aus, bezahlt den Preis und muss sich nur noch um die persönlichen Reisevorbereitungen kümmern. Travel Overland stellt das Fahrzeug, kümmert sich um die Fahrt, die Visa und die Unterkünfte, damit alles klappt, gibt es auf jeder Reise einen Fahrer, der auch Mechaniker für den LKW ist, und einen Tour Scout, der sich vor Ort auskennt und um die Details unterwegs kümmert. In den letzten Jahre ist Ian so drei mal nach Nepal gefahren, dieses Jahr geht es nur nach Jordanien, für europäische Reiseunternehmen und ihre Versicherungen ist der Weg durch den Iran wegen des Golfkriegs und der irakischen Raketenangriffe auf Ziele fast überall im Iran zu gefährlich geworden. Ian lädt uns ein, abends mit seiner Gruppe zu essen.
Es gibt gegrillte Lammsteaks und Salat - und natürlich eiskaltes Dosenbier aus dem Kühlfach unter dem Truck. Zwischen dem LKW und den Zelten stehen zwei Biertische mit Bänken. Insgesamt sind es zehn Touristen plus Fahrer und Scout. Während der Fahrt sitzen die Touristen zusammen mit Ian auf zwei längs angeschraubten Holzbänken auf der offenen Ladefläche. Falls es regnet oder zu kalt ist, kann der Passagierbereich mit einer gelben LKW-Plane mit durchsichtigen Fensterausschnitten geschützt werden. Heute ist nur das Metallgestänge für die Plane zu sehen.
Nach dem Essen gehen die meisten der Touristen in ihre Zelt, um zu schlafen. Ian schlägt vor, dass wir uns auf die Ladefläche setzen, um die Schlafenden nicht zu stören. Wir sitzen noch Stunden auf den Holzbänken und plaudern. Ian ist besorgt wegen der im Sommer anstehenden Parlamentswahlen in Großbritannien. Er macht Margaret Thatcher und ihre Partei verantwortlich für alles, was im Vereinigten Königreich schief läuft. Und nach seiner Einschätzung läuft seit zehn Jahren eigentlich alles schief. Die neoliberale Politik Thatchers hat die Wirtschaft dereguliert, den sowieso nur rudimentären Sozialstaat unterminiert und die Arbeiterrechte fast völlig aufgehoben, die Gewerkschaften haben mit den Bergarbeitersteiks der letzten Jahre ihre Macht zwar demonstriert, aber sich am Widerstand der Regierung schließlich aufgerieben. Außenpolitisch hat Thatcher sich eng an Ronald Reagans neue USA gebunden, einen sinnlosen Krieg mit Argentien um patriotische Symbole vom Zaun gebrochen, den Führer des südafrikanischen Apatheid-Regimes bezeichnet sie als Freund und verkauft trotz weltweiter Embargoforderungen britische Waffen nach Südafrika. Die Bombardierung Lybiens durch Reagan letztes Jahr hat sie mit den britischen Luftwaffenstützpunkten auf Zypern und Malta unterstützt. Ian nennt sie meist nur ›The Witch‹.
Die drei BMW-Fahrer schlafen schon in ihren Zelten als ich in den westlichen Bergen Donner höre. Ich überlege, ob ich vielleicht doch noch schnell das Außenzelt aufbauen sollte, als Ian ›atillery‹ sagt. Der Bürgerkrieg im Libanon ist immer noch nicht ganz vorbei und die Grenze ist weniger als 100 km entfernt. Ian sagt, dass er drei Jahre in der britischen Armee war und Artilleriefeuer und Gewitter genau unterscheiden kann. Wer dort auf wen schießt ist uns allerdings völlig unklar. Es könnte die mit Israel verbündete christliche SLA im Südlibanon gegen die vom Iran unterstützte schiitische Hizbollah nahe der syrischen Grenze sein oder die Hizbollah gegen sunnitische Milizen rund um Beirut. Die politisch-militärische Lage im Libanon ist auch für Leute wie Ian und mich, die sich lange mit der Region befasst haben, ziemlich undurchsichtig.
Tag 41, Dienstag
Ich frühstücke vor meinem Zelt etwas Fladenbrot, das ich morgens in der Rezeption gekauft habe, mit Dattelmarmelade. Ich bin zu träge, den Kocher anzuwerfen, um Kaffe zu kochen. Außerdem bin ich fast sicher, dass die Overlander gleich ausgiebig frühstücken und mir Kaffee anbieten werden. Wie immer ist meine Frühstückslektüre die Landkarte meines aktuellen Standorts. Während ich auf die Karte gucke und im Kopf die Kilometer bis zur jordanischen Grenze zusammenrechne taucht Ian mit zwei Bechern Kaffe auf. Er nickt mir zu und hält einen Becher fragend hoch. Ich nicke ebenfalls und winke ihn heran. Er setzt sich und tippt mit dem Finger auf Damaskus und fragt, ob ich mir die Altatadt von Damaskus noch angucken will. Ich erkläre, dass ich nicht gerne mit dem Motorrad in großen Städten unterwegs bin. Ian schlägt vor, dass ich heute Nachmittag mit ihm und seiner Gruppe zu ihrer Altstadttour mitkomme oder morgen Abend in Damaskus mit ihnen Essen gehe. Die Altstadttour lehne ich ab, das Abendessen nehme ich gerne an. Hinter uns höre ich die Jungs ihre Zelte abbauen. Ich mache eine Geste für Ian, dass ich zu den drei Deutschen gehe. Ich beuge mich um mein Zelt herum und winke den drei. »Wollt ihr schon los?« - »Ja, wir wollen übermorgen ganz früh unsere Tour durch Petra machen.«
Ich stehe neben ihnen und gucke ihnen beim Aufpacken zu, zum ersten Mal gucke ich mir auch ihre BMWs genauer an. Drei R 80 ST mit großen Aluboxen und moderaten Enduroreifen. Eine hat sogar einen nachgerüsteten Kickstarter. Ich mache eine Bemerkung dazu und der Besitzer der ST sagt, »Ja, ist aber Quatsch, mit dem Kickstarter kriegt man sie eh nicht an.« - »Wetten?!« - »Will ich sehen. Wetten wir um ‘ne Kiste Bier. Drei Versuche, ein Mal muss sie angehen.« Ich schlage ein, prüfe, ob die ST sicher aufgebockt ist, lasse mir den Schlüssel geben und schalte die Zündung ein, dann steige ich mit dem linken Fuß auf den linken Zylinder und drücke den Kickstarter mit dem rechten ein paar Mal langsam herunter bis der Motor einmal durchgedreht ist und ich ein Gefühl für den oberen Totpunkt habe. Kurz vor OT lasse ich den Kickstarter wieder in die Ausgangsposition hochgehen, trete ihn herunter bis die Zahnräder fassen und trete ihn kräftig durch. Mit der rechten Hand drehe ich langsam den Gasgriff auf. Die BMW springt sofort an, ich reguliere das Gas und lasse sie nach dreißig Sekunden in den Leerlauf fallen, die ST blubbert langsam vor sich hin. Die drei Jungs klatschen, der Besitzer schüttelt mir die Hand. »Wieder was gelernt! Lass mich mal.« Ich schalte die Zündung aus und lasse ihn auf den Zylinder klettern. »Dreh‘ sie auf kurz vor OT, dann hochkommen lassen, treten bis er fasst und dann kräftig durchtreten, nicht zu viel Gas.« Er folgt der Anweisung und die BMW springt an. »Die Kiste Bier kriegst‘e, wenn wir wieder zu Hause sind. Ruf einfach an.« Er schreibt seine Telefonnummer in meinen Adressbuch, ich schreibe ›80 ST, Damaskus, Bier‹ dahinter. Er boxt mir freundschaftlich an den Oberarm und bedankt sich für die kleine Lektion. Als die drei weg sind gehe ich zu Ian und seinen Touries. Ian bietet noch mal Kaffe an, den ich gerne annehme.
Nachmittags macht Ian mit seinen Leuten den Stadtbummel durch Damaskus. Ich probiere den Swimmingpool aus, der in der Nachmittagshitze eine perfekte Abkühlung ist. Danach sitze ich wieder über meinen Karten und plane die nächsten Etappen bis Aqaba. Kurz vor Sonnenuntergang kommt ein großes orangefarbenes Wohnmobil auf den Platz gefahren. Auf die Seite ist ein schwarzes Dromedar gemalt, darunter ein paar grüne Palmen, die aussehen wie Kinderzeichnungen. Das Wohnmobil kommt aus Frankreich, Departement 93, wenn ich richtig liege, ein Vorort von Paris. Das Wohnmobil parkt hinter meinem Zelt, wo bis heute Morgen die drei BMWs standen. Das Ding scheint ein GFK-Eigenbau auf Basis eines großen Renault-Transporters zu sein. Sobald der Wagen endgültig an seinem Platz gehalten hat, fliegt die Tür auf und ein ca. 8-jähriges Mädchen mit dunkelblonden Locken springt heraus. Hinter ihr klettert eine Dreijährige rückwärts die Klappstufe herunter. Ich winke den beiden Mädchen, die größere begrüßt mich höflich auf Französisch. Als die Kleine endlich komplett draußen ist, kommen auch die Eltern der beiden durch die seitliche Tür heraus. Ich krame mein Französisch zusammen und begrüße die beiden. Alain und Christine sind Mitte dreißig und seit inzwischen 15 Monaten in ihrem Wohnmobil mit den beiden Töchtern durch Afrika unterwegs. Zuletzt waren sie in Ägypten und sind von dort mit dem Plan, nach Hause zu fahren, mit einer Fähre von Alexandria nach Latakia in Syrien gekommen. Noch auf der Fähre haben sie festgestellt, dass sie in Kairo bei der syrischen Botschaft ein Visum zur mehrmaligen Einreise bekommen hatten und beschlossen, noch zwei Wochen an ihre Reise ’ranzuhängen und sich das Tote Meer und Wadi Rum in Jordanien anzusehen. Wir verplaudern den Nachmittag. Alain war einige Jahre Manager in einem großen französischen Staatsunternehmen. Vor zwei Jahren hat er beschlossen, den Job zu kündigen und mit Christine und den Kindern die Wohnmobilreise durch Afrika zu unternehmen. Wirklich losgefahren sind sie dann Weihnachten 1986. Durch die Sahara nach Westafrika und am südlichen Rand der Sahelzone nach Osten bis zum indischen Ozean, von dort mit einer Fähre nach Suez in Ägypten. Alain spricht sehr viel besser Englisch als ich Französisch, so dass wir schnell zu Englisch als Verkehrssprache wechseln. Sie wollen sich morgen die Altstadt von Damaskus ansehen und übermorgen ans Tote Meer in Jordanien fahren.
Als die Sonne schon tief über den Bergen des Libanon steht kommen Ian und seine Leute schnatternd den Hügel hinauf geschlendert. Ein Pärchen trägt zusammen einen Teppich. Die Overlander gehen zu ihrem Truck, Ian kommt direkt zu uns und begrüßt die vier Neuankömmlinge auf Französisch. Alain und Ian verfallen in eine Fachsimpelei über das Wohnmobil. Schließlich gehen die beiden zusammen zum Overland LKW. Christine erzählt ein bisschen von ihrer Tour und von dem Schulunterricht, den sie ihrer großen Tochter in wöchentlichen Blöcken von Französisch, Mathe und Englisch gibt. Erdkundeunterricht ›erfahre‹ sie täglich von selbst. Als Alain zurückkommt, bin ich schon zum Abendessen der Familie eingeladen. An einem wackeligen Tisch vor dem Wohnmobil gibt es Nudeln mit Tomatensauce und italienischen Rotwein, den sie zollfrei auf der Fähre gekauft haben.
Wir verabreden, uns am Donnerstagabend am Toten Meer zu treffen und dann zusammen nach Aqaba zu fahren. Von dort nehme ich die Fähre nach Ägypten und die kleine Familie bereitet ihre Tour durchs Wadi Rum vor.
Tag 42, Mittwoch
Ich bleibe im Zelt liegen bis es zu warm und zu stickig darin wird. Mein Kopf dröhnt noch von dem Rotwein und den vielen Zigaretten gestern Abend. Als ich dann tatsächlich aus dem Zelt krieche ist es heller Mittag und so warm, dass ich beschließe vor dem Fühstück kurz in den Pool zu springen. Auf dem Rückweg zum Zelt kaufe ich in der Rezeption ein paar Stück Baklava. Das Wohmobil steht noch an seinem Platz ist aber verlassen. Ian winkt mit einer Hand und zeigt fragend auf die Kaffeetasse in der anderen. Ich gehe mit meiner Papiertüte zu ihm und tausche Kaffee gegen Baklava. Er erzählt, dass die Franzosen vormittags mit dem Taxi nach Damaskus gefahren sind.
Ich verbringe den Tag mit einer ausführlichen Motorradwartung. Ian guckt mir zu und bietet immer wieder Hilfe an. Ich lehne ab, weil die Handgriffe inzwischen so automatisch ablaufen, dass die Wartungsarbeit für mich beinahe meditativ ist. Ich sage, »Zen and the art of motorcycle maintenance«. Ian lacht und sagt, »Pirsig is a madman, you’re not!« Ich frage Ian, ob er Ted Simons Buch über seine Weltreise kennt. Er nickt und sagt, dass er ihn vor ein paar Jahren bei einem Vortrag gesehen und zu Hause ein signiertes Exemplar von ›Jupiter‘s Travels‹ hat. Als um sechs die Böllerschüsse des Fastenbrechens aus der Ferne zu hören sind, ist das Motorrad wieder fahrtauglich und alles Werkzeug liegt sauber im Werkzeugfach des Tankrucksacks. Ich gehe zum Waschhaus und schrubbe die öligen Hände mit Waschpaste sauber.
Um sieben kommen Christine und Alain mit ihren Kindern zurück, kurz danach hupt an der Rezeption unser Taxi, um uns zum Essen in die Stadt zu bringen. Ian hat einen kleinen Van bestellt, in den wir dreizehn Leute gerade so hineinpassen. Ian sitzt vorne neben dem Fahrer und erklärt ihm den Weg auf Arabisch. Kurz vor acht halten wir vor einem großen Gebäude auf einem der Hügel von Damaskus. Eine Art Portier in einer schwarzen Uniform erscheint, spricht kurz mit Ian und führt uns auf die Dachterrasse. Von unseren Tischen aus blicken wir auf die große alte Stadt. Ein Kellner kommt und schreibt unsere Getränkewünsche auf. Ian erklärt mir und den anderen, dass es ein spezielles Menü gibt, dessen Abfolge auf kleinen Karten auf jedem Platz abgedruckt ist, und jeder Getränke nach Wahl bestellen kann. Alles geht auf Kosten von Travel Overland. Nach einem Blick auf das Hauptgericht bestelle ich zusammen mit Ian eine Flasche Weißwein. Während Kellner die georderten Getränke zu den Plätzen bringen, werden auch die Vorspeisenteller verteilt. Ian hält eine kleine Rede an seine Touristen, bedankt sich für die gute gemeinsame Reise und wünscht allen eine schöne Weiterfahrt und glückliche Heimkehr. Schließlich hebt er sein Glas, »Cheers!«, zu mir gewannt sagt er, »Prost!« Im selben Moment gehen auf der Terrasse die Lichter aus. Ian zeigt auf die Stadt, die nun ebenfalls im Dunkeln liegt. Nur an einem Hang sind die Häuser und Straßen weiterhin beleuchtet. Ian erklärt, dass dort Assad und sein Clan wohnen. »Wenn da auch das Licht ausgeht, ist es Zeit, schnell das Land zu verlassen.« Ian lacht.
Die Kellner verteilen routiniert Kerzen auf den Tischen, aber schon nach ein paar Minuten gehen die Lichter wieder an. Auch der Rest der Stadt ist wieder beleuchtet. Ian hebt nochmals sein Glas und wir beginnen zu essen.
Während des Hauptgangs frage ich Ian nach seiner Einschätzung der politischen Lage in Syrien. Ich gebe ihm eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich von Murat und zu Hause aus meinen Büchern gelernt habe. Ian stimmt zu, dass unter Assad jederzeit ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte, weil die verschieden Bevölkerungsteile in Syrien seit Jahrzehnten gegeneinander ausgespielt werden und der Hass bei allen gegeneinander und vor allem gegen die Machtelite um die Assadfamilie ständig zunimmt. Die geplante Machtübergabe an seinen ältesten Sohn Basil würde wohl weder von den vom Iran unterstützten Schiiten, die durch bürgerkriegserfahrene Hizbollah-Kämpfer aus dem Libanon verstärkt werden, noch von den vom Golf und der Türkei unterstützten Sunniten widerstandslos hingenommen werden. Zum jüngeren Sohn Baššâr ist Ian wenigr optimistisch als Murat. Wenn niemand zuhört, nennen die Syrer Baššâr ›den kleinen Teufel‹ im Gegensatz zu den ›großen Teufeln‹ Haffiz und Basil. Die westliche Bildung und den Arztberuf von Baššâr hält Ian für ein langegeplantes Täuschungsmanöver der Familie, für den Fall, das die Sowjetunion irgendwann ihre Unterstützung zurückzieht. »Falls Baššâr tatsächlich mal den Präsidentensessel erbt, wird er eine ›Demokratisierung‹ und die Abkehr vom arabischen Sozialismus ankündigen, die Sowjets rauswerfen und sich bei uns und den Amis anbiedern. Ganz schnell stürzt dann die sunnitische und schiitische Mehrheit in Armut ab und die alevitische Eite in Militär und Geheimdienst wehrt sich vorsorglich mit Massenfestnahmen und Repressionen, das wird sich weder der Iran noch Saudi Arabien bieten lassen. Irgendwann versuchen dann die Kurden im Norden und Osten, unabhängig zu werden, was die Türkei und der Irak verhindern müssen, und das Land versinkt in einem von allen Nachbarn unterstützten Bürgerkrieg.«
Mit diesen trüben Zukunftsaussichten blicke ich auf die schöne alte Stadt unter uns.

Do., 21. Mai 1987, Damaskus - Totes Meer
Die Sonne steht noch tief über der östlichen Wüste als ich aus dem Zelt krieche und anfange, meinen Kram zu packen. Nach einer Stunde ist alles verpackt und liegt neben dem Motorrad im Staub. Als ich meine Rechnung an der Rezeption bezahlt habe und die BMW aufgepackt und reisefertig da steht, beginnen Ian und der Fahrer die Vorbereitungen für das Frühstück ihrer Gruppe. Ian kommt mit zwei Bechern Kaffee zu mir. Ich bedanke mich nochmals für das hervorragende Essen gestern Abend. Er winkt nur ab und sagt etwas auf Arabisch. Ian versucht noch, mich zum Frühstück einzuladen. Ich bin schon zu sehr im Reisemodus und es wird langsam zu warm in der Lederhose, also lehne ich ab. Wir verabschieden uns herzlich. Ian ist einer von von den vier wichtigen Leuten, die ich bisher auf der Reise getroffen habe. Obwohl die Overlander auch noch nach Jordanien fahren, werde ich Ian wahrscheinlich frühesten irgendwann in Europa wiedersehen. Wir tauschen Adressen und Telefonnummern aus und ich mache das Motorrad startklar.
Zwanzig Minuten später fahre ich auf einer breiten Prachtallee in die Innenstadt von Damaskus. Die Straße ist in sehr gutem Zustand und der Verkehr einigermaßen ruhig und geordnet. Am Straßenrand und auf den Gehwegen herrscht trotzdem das übliche Gewusel von Menschen, Tieren und allen möglichen Gegenständen. Der Hauptweg nach Süden biegt nach rechts auf eine andere breite Allee ab. An dem Abzweig direkt vor mir steht ein großes altes Gebäude mit palästinensischen Flaggen auf dem Dach und an der Fassade. Ich folge der Allee Richtung Westen bis zum Abzweig der Schnellstraße nach Süden, nach Jordanien. In den südlich der Innenstadt liegenden Slums wird die Autobahn M5 zur Fernstraße 5 nach Dar’â.
Eine gute Stunde später suche ich meinen Weg durch die verwirrende Innenstadt von Dar’â nach Ramtha in Jordanien. Der Grenzübertritt verläuft unproblematisch, dauert aber trotzdem fast drei Stunden. Zwischen den Checkpoints tausche ich meine Pässe wieder aus, so dass ich jetzt wieder mit dem Originalpass mit jordanischem und ägyptischen Visum unterwegs bin. Die jordanischen Grenzer habe kein Problem mit fehlenden Ausreisestempeln von Syrien und sind sehr freundlich. Insgesamt machen die Jordanier einen weniger martialischen Eindruck als die Syrer.
Die Landstraße nach Süden führt in einem großen Bogen um die Hauptstadt Amman herum. In einer kleinen Stadt weist ein Schild nach rechts nach El-Quds, Jerusalem, das man als normaler Tourist von hier aus natürlich nicht erreichen kann. Es ist die Strecke über die berühmte ›Allenby-Brigde‹, die die israelisch besetzten jordanischen Gebiete westlich des Jordan mit dem Rest Jordaniens verbindet und auf jordanischer Seite ›King Hussein Bridge‹ heißt. Zur Zeit erhalten nur Bewohner der besetzten Gebiete die Genehmigung die Brücke zu überqueren. Privaten Fahrzeugen ist der Übertritt grundsätzlich verwehrt. Ein paar Kilometer südlich zweigt eine andere Straße rechts ab, die zum Ostufer des Toten Meeres führt. Ich fahre nach Westen Richtung Israel und Totes Meer. Seit ich die Fernstraße nach Süden verlasse habe, gibt es keine Wegweiser in lateinischer Schrift mehr. In einer Schlucht östlich des Jordan halte ich für einen Photostopp und eine Zigarette.

Do., 21. Mai 1987, an der Fernstraße Amman - Jerusalem
Als ich gerade den Photoapparat wieder verstaut habe, stoppt hinter mir ein Militär-Landrover, der so aussieht als wäre er schon von der britischen Verwaltungsbehörde benutzt worden. Der Fahrer bleibt im Wagen, ein Offizier springt heraus und beginnt auf Arabisch mit mir zu reden. Ich sage ihm auf Englisch, dass ich Tourist aus Deutschland sei und leider kein Arabisch spräche. Er beginnt seinen Vortrag erneut auf Englisch. Dies hier sei militärisches Sperrgebiet und der Zutritt für Zivilisten verboten. An der letzten Kreuzung sei ein entsprechendes Schild gewesen. Warum ich hier überhaupt angehalten habe. Ich lüge frech, dass ich Geographie studiere und die geologische Schichtung der Berge sehr interessant für mich sei. Der Offizier fragt mich, ob ich photographiert habe. Ich verneine natürlich, er scheint damit zufrieden zu sein, fordert mich aber auf, sofort weiter zu fahren - und zwar zurück. Auf dem Rückweg zum verpassten Abzweig zum Toten Meer sehe ich jetzt links der Straße die Schilder, die vor dem Verlassen der Asphaltstraße und Minen warnen. Und am Abzweig sehe ich jetzt auch ein rot-gelbes Schild, das offenbar die Weiterfahrt auf der Straße, die ich nun zurückkomme, für Zivilfahrzeuge verbietet - allerdings nur in Arabischer Schrift.
Ich biege nach Süden ab und nach ein paar Kilometern werben große Plakattafeln für die Hotels an den verschiedenen touristischen Höhepunkten am Ostufer des Toten Meeres. An der zweiten oder dritten Zufahrt zu einem der Hotels steht das orangene Wohnmobil von Christine und Alain. Die beiden haben schon geklärt, dass wir auf dem großen Parkplatz neben dem Hotel übernachten dürfen. Alain fährt vor und parkt das Wohnmobil an einem Platz weit weg vom Hotel mit schöner Aussicht auf das gegenüberliegende Ufer des Toten Meeres. Ich baue mein Zelt neben dem Wohnmobil auf und wir richten uns auf einen ruhigen Abend ein. Christine sitzt mit den Mädchen auf dem kleinen Mäuerchen, das den Parkplatz zu dem steinigen Abhang hin abgrenzt und erklärt den beiden irgendetwas. Sie zeigt immer wieder auf das jenseitige Ufer und ich vermute, dass es um Israel geht. Alain ist währenddessen im Wohnmobil und scheint das Abendessen vorzubereiten. Es duftet nach gebratenen Zwiebeln und Fisch.
Pünktlich zum Sonnenuntergang sitzen wir an dem wackeligen Campingtisch und essen Nudeln mit Thunfischsauce. Nach dem Essen bringen die beiden ihre Töchter ins Bett und waschen das Geschirr ab. Hinterher sitzen wir zu dritt auf dem Boden auf meiner Isomatte und plaudern über unsere Reisen. Alain hat Espresso für uns gekocht. Während ich den heißen Kaffee schlürfe zeigt Christine nach rechts und sagt, dass wir Besuch bekommen. Der kleine Lichtpunkt einer Zigarette nähert sich uns, dann hört man auch Schritte. Von weitem ruft die Stimme eines jungen Mannes ein freundlich schüchternes ›Hello?‹. Alain steht auf und winkt ihn mit seiner Taschenlampe heran.
Der junge arabische Mann stellt sich als Mahmut vor. Er stellt ein paar Fragen zu unserem Woher und Wohin. Als ich sage, dass ich aus Deutschland komme, grinst er und sagt, »Germany. Very good. Hitler-Country. You are welcome!« Wir drei sind einigermaßen bestürzt von dieser offenen Sympathie für Nazi-Deutschland. Der Palästinenser erklärt, dass der größte Teil seiner Familie von ›den Juden‹ getötet worden ist. Und der israelische Premierminister ein Mörder und Kriegsverbrecher sei. Sein Großvater hatte einen kleinen Hof mit Olivenbäumen am Westufer des Jordan und statt diesen Hof zu erben lebe er mit seinen Eltern und Geschwistern in einer kleinen Wohnung am Rande Ammans. Während der Touristensaison arbeite er hier im Hotel und könne die Heimat so wenigstens sehen. Christine und ich versuchen, ihm klar zu machen, dass es sehr vielen Juden in Hitler-Deutschland ebenso ergangen sei und viele Millionen auf Hitlers Befehl ermordet wurden. »Good!«, antwortet der junge Palästinenser kurz. Die Versuche, ihm die komplizierte Geschichte Deutschlands und Israels zu erklären, scheitern an seinen Englisch- und unseren Arabischkenntnissen. Und daran, dass der Hass gegen die Regierung Israels hier am Rand der besetzten Gebiete größer ist, als rationale Argumente. Mein Punkt, dass Hitler vielfach schlimmer war als alle israelischen Premierminister zusammen, lässt ihn zumindest kurz nachdenken. Schließlich beharrt er aber darauf, dass Hitler ein guter Mann war, weil er die Juden in Deutschland töten ließ.
Als der junge Palästinenser schließlich zurück zu seinem Wohnheim für Hotelangestellte geht, steht Alain auf, sagt, dass es kompliziert sei und er nun schlafen müsse. Ich sitze noch für eine letzte Zigarette mit Christine vor dem Wohnmobil, wir blicken stumm auf die wenigen Lichter auf der Westseite des großen Salzsees. Nach fünf Minuten Schweigen sagt Christine, »Alain ist Jude und Du bist wahrscheinlich der erste Deutsche mit dem er jemals mehr als einen Satz gesprochen hat.«
Tag 44, Freitag
Am nächsten Morgen sitze ich schon vor sechs Uhr auf dem Mäuerchen und photographiere die im Sonnenaufgang ständig wechselnden Farben der gegenüberliegenden Felshänge. Nach einem kleinen Frühstück fahren wir vormittags an eine Stelle, wo wir im Toten Meer ›baden‹ können. Alain hatte morgens im Hotel ein Newsweek-Magazin gekauft, das ich jetzt auf dem Wasser liegend lese, während Christine sich und die Kinder von Kopf bis Fuß mit dem Heilschlamm des Toten Meeres einreibt. Die Kleine hat großen Spaß daran, dass sie sich schmutzig mach darf und ihre ›Maman‹ sogar mitspielt. Alain und ich genießen vor allem, bewegungslos auf dem salzigen Wasser zu treiben und für heute Faulheit zur Tugend, ja zur Pflicht zu erklären.

Fr., 22. Mai 1987, Totes Meer, Ostufer
Nachmittags kaufen wir an einem Straßenstand Chicken-Kebab für uns alle und fahren zurück zu unserem Parkplatz. Mir fällt wie schon gestern auf, dass Jordanien im Vergleich zu Syrien viel aufgeräumter wirkt. İn den kleinen Ortschaften liegt praktisch kein Müll an den Straßenrändern. Alles ist stärker auf westliche Augen und Ansprüche eingestellt. Der Tourismus zwischen Totem Meer und Petra ist für das öllose Jordanien eine wichtige Einnahmequelle.
Tag 45, Samstag

Sa., 23. Mai 1987, Totes Meer - Aqaba
Am nächsten Morgen sind wir früh wieder auf dem Weg. Es ist inzwischen Ende Mai und der Sommer nähert sich unbarmherzig. Ab mittags ist es in den Motorradklamotten so warm, dass jeder Stopp zur Qual wird. Wir hatten abends beschlossen gemeinsam den Kings-Highway bis kurz vor Aqaba zu fahren. Diese Strecke war zufällig von unserem aktuellen Startplatz am Toten Meer bestimmt. Der Kings-Highway führt die öde Hochebene im Westen Jordaniens entlang nach Süden, alle paar Dutzend Kilometer schlängelt er sich in Kehren in die Schlucht eines Wadi hinab und wieder hinauf auf die Hochebene. In den Wadi-Tälern ist die Temperatur nochmals zehn Grad höher als die ohnehin schon heißen 30° auf der Ebene, besonders auf den nördlichen Abfahrten, die in der prallen Sonne liegen, ist es fast nicht auszuhalten. Die Aussicht auf die engen Schluchten entschädigt aber für das unangenehme Wetter.

Sa., 23. Mai 1987, Kings-Highway
Mittags passieren wir den Abzweig nach Petra und kurz danach mündet der Kings-Highway in den Desert-Highway, der Richtung Nordosten nach Amman und Baghdad führt und Richtung Süden nach Aqaba und Saudi Arabien.
Nach einer knappen Stunde führt der Weg für Christine und Alain nach Osten zum Wadi Rum, ich fahre weiter geradeaus nach Aqaba. Meine Hoffnung, dass das Wetter in der Nähe des Meeres angenehmer wird, erfüllt sich leider nicht – im Gegenteil! Es wird sogar noch wärmer und zudem steigt die Luftfeuchtigkeit.
Nachmittags fahre ich in Aqaba ein. Die Stadt ist drückend heiß und die Straßen sind fast leer. Die Hauptstraße führt mich Richtung Meer und dann nach rechts in Richtung der großen Hotels. Ich parke das Motorrad auf der Zufahrt zum InterContinental Aqaba. Zwischen Straße und Hotel liegt ein Park mit Wiesenflächen, Palmen und blühenden Blumen. An der Rezeption frage ich nach einem Zimmer. Angeblich ist kein Zimmer frei, ich vermute aber, dass ich mit meiner Lederhose und der staubigen Motorrad-Jacke nicht wie ein ausreichend seriöser Gast aussehe. Nach der Erfahrung am Toten Meer frage ich, ob es einen Wohnmobil-Stellplatz gibt. Der griesgrämige Portier ist jetzt plötzlich viel freundlicher. Neben dem Hotel ist ein großer Parkplatz, auf dem man übernachten kann. Vorsichtshalber frage ich nicht, ob das auch für Motorräder und Zelte gilt. Der Platz ist groß und staubig und völlig ohne schattenspendende Bäume, der Preis ist etwas höher als auf dem schönen Campingplatz bei Damaskus, aber in Jordanien ist sowieso alles teurer, allerdings gibt es hier bei der Einreise auch keinen Zwangsumtausch zu schlechteren Konditionen als bei der Bank. Ich buche einen Platz für eine Nacht, morgen werde ich versuchen, den Campingplatz an der Straße Richtung Saudi Arabien zu finden. Zunächst versuche ich aber etwas zu Essen aufzutreiben. Ich baue das Zelt auf, verstaue das wichtige Gepäck im Zelt und wandere zu Fuß zurück zu dem großen Kreisverkehr, der wie das Zentrum der Stadt wirkt. Alle Restaurants und Cafés sind geschlossen. Der Platz in der Mitte des großen Kreisverkehrs ist dem arabischen Aufstand gegen die osmanischen Herrscher gewidmet. Zum Ende des Ersten Weltkriegs führte der Urgroßvater des heutigen jordanischen Königs mit Hilfe der in Ägypten stationierten Briten den letztlich erfolglosen Unabhängigkeitskrieg der arabischen Nationen gegen die Türken an. Das osmanische Reich verlor zwar seine Herrschaft über Arabien, die seit dem Mittelalter den Hedschas und damit die heiligen Städte Mekka und Medina kontrollierenden Haschemiten wurden aber von den Briten zugunsten der Familie Saud fallengelassen und zogen sich nach Norden an den Jordan zurück, wo sie nach dem Ersten Weltkrieg das von Briten und Franzosen nie anerkannte Königreich Groß-Syrien gründeten. Ich sitze auf einer Bank vor der Reiterstatue von Hussein ibn Ali und rauche eine Zigarette, die vorbeikommenden Männer sehen mich missbilligend an. Es ist immer noch Ramadan, der hier offenbar sehr viel ernster genommen wird als im alevitischen und sozialistischen Syrien. Am touristisch geprägten Toten Meer war der Ramadan unsichtbar, hier bestimmt er das Leben.
Im Hotel neben meinem Zeltplatz bekomme ich dann nach Einbruch der Dunkelheit ein gutes aber teures Abendessen mit Blick auf den Golf von Aqaba.
Im Zelt ist es immer noch sehr warm, aber die hunderte von Mücken zwingen mich, mich im Schlafsack vor ihnen zu verstecken.

Sa., 23. Mai 1987, Kings-Highway
Tag 46, Sonntag
An entspannenden Schlaf ist nicht denken. Vor Sonnenaufgang stehe ich auf und hoffe auf eine Meerbrise, die die stickige heiße Luft und die Mücken vertreibt. Aber draußen ist es immer noch so heiß wie gestern Nachmittag und die Mücken summen um mich herum. Ich ziehe mich wieder ins Zelt und in meinen Schlafsack zurück. Als es hell wird stehe ich endgültig auf. Ich habe fast gar nicht geschlafen und bin froh, dass die Nacht vorbei ist.
Nach einem Milchkaffee auf der Hotelterrasse fahre ich in die Stadt und wieder südöstlich aus ihr heraus, um den im Reiseführer beschriebenen Campingplatz zu suchen. Auf dem Highway nach Saudi Arabien hinter dem Hafen und gegenüber des Flughafens finde ich den Campingplatz, der aber von April bis September geschlossen ist.
Auf dem Rückweg zum Hotel halte ich vor einer Reiseagentur, die im Reiseführer empfohlen wird. Ich erkläre dem älteren Mann mit schütterem dunklen Haar und dickem Bauch, dass ich ein Ticket für die Fähre nach Nueiba auf dem Sinaï kaufen will. Er lächelt und sagt, »No problem.« Zusätzlich zum Ticket benötige ich aber ein Schreiben des ägyptischen Konsuls, das die Mitnahme und spätere Einreise nach Ägypten für das Motorrad genehmigt. In dem Vertrag, in dem Ägypten und Jordanien sich auf diese grenzüberschreitende Fährverbindung geeinigt haben, wurden Motorräder schlicht vergessen. PKW und LKW sind ausdrücklich erlaubt, Motorräder werden nicht erwähnt, sind aus ägyptischer Sicht also verboten. Mit dem Fährticket in der Tasche und ein paar Hundert £ ärmer fahre ich zum ägyptischen Konsulat, das im selben Stadtviertel wie mein Hotel liegt. Von einer hohen Mauer umgeben und von jordanischem Militär bewacht liegt die Villa in einem großen Garten. Innen surren Klimaanlagen. Ich erkläre mein Anliegen an einem Rezeptionstresen, der Beamte dirigiert mich in einen Warteraum und gibt mir ein paar Formulare, die ich ausfüllen muss. Neben den üblichen Dokumenten muss ich auch die Daten meines Carnet de Passage in das Formular eintragen. Das Carnet de Passage garantiert dem besuchten Land, dass ich mein Fahrzeug wieder mit aus dem Land nehme und nicht unverzollt dort lasse. Für das Carnet habe ich in Deutschland eine erhebliche Bürgschaftssumme hinterlegt, auf die das Land im Zweifel als Einfuhrzoll zugreifen kann. Ich fülle die Formulare aus und melde mich am nächsten Tresen. Auf einem Schreibtisch hinter dem Tresen steht eine riesige Schreibmaschine für arabische Schrift. Sie hat mindestens doppelt so viele Tasten wie eine übliche europäische, weil die arabischen Buchstaben sich je nach Stellung im Wort unterscheiden. Schließlich überreicht mir ein älterer Mann im Anzug, der aussieht wie Donald Sutherland, ein Dokument aus dieser Schreibmaschine, das die Mitnahme meines Motorrades auf der Fähre ausnahmsweise erlaubt. Oben prangt das Wappen der Arabischen Republik Ägypten, unten das Siegel des Konsuls und seine Unterschrift. Das Ausstellen des Permits kostet mich 30 US-$, doppelt soviel wie das Visum für meine Einreise.
Mit dem Ticket und dem Permit kann ich morgen mit der 11-Uhr-Fähre nach Nueiba fahren. Auf dem Rückweg zum Hotel halte ich an einem Laden, der in lateinischen Buchstaben ›International Press‹ verspricht. Ich kaufe einen Spiegel und kann sogar ein Päckchen meines Lieblingszigarettentabaks und Blättchen kaufen. Danach halte ich an einem Postamt und schicke den Ersatzpass mit dem syrischen Visum wieder nach Hause.
Vor dem Hotel steht das Wohnmobil von Christine und Alain. Sie haben heute sehr früh den Wadi Rum besucht und wollten heute eigentlich zu dem Campingplatz außerhalb von Aqaba. Ich erzähle ihnen, dass sie hier auf dem Stellplatz des Hotels übernachten können, warne aber gleich vor der Mückenplage. Sie buchen einen Platz und stellen ihr Wohnmobil neben mein Zelt. Nach den Böllerschüssen des Fastenbrechens essen wir abends zusammen im Hotelrestaurant.
Danach wagen wir uns zurück auf den Mückenflugplatz.

Mo., 25. Mai 1987, Aqaba - Nueiba
Die Nacht ist etwas besser als die letzte, vermutlich aber nur, weil ich bereits das Schlimmste erwartet habe und weil ich weiß, dass ich vormittags meine Fähre nach Ägypten nehme.
Nach einem schnellen Kaffee mit Christine und Alain verabschiede ich mich herzlich von der französischen Familie. Die Töchter lassen ihre Eltern noch ein Photo von sich auf meinem Motorrad machen. Alle vier winken mir nach, als ich losfahre.
Um halb zehn stehe ich vor dem Hafen. Die jordanischen Ausreiseformalitäten finden am Eingang des Hafens statt. Ich und mein Motorrad reisen offiziell aus Jordanien aus und ich fahre die BMW zum Fähranleger. Die Fahrzeuge werden von groß zu klein auf das Fahrzeugdeck gewunken. Nach einigen LKW und vielen vollbeladenen PKW bin ich als einziger Motorradfahrer dran. Ein Arbeiter des Schiffs winkt mich an die Backbordseite nahe am Ladebord. Er ist ca. 50 und für seinen körperlichen Job sehr dünn und klein. Ich packe ein paar Sachen vom Tankruksack und den Alu-Koffern in meinen Rucksack um und er sichert das Motorrad mit Gurten an der Wand der Fähre. Er fragt auf Englisch wo ich her komme und hin will. Will Hubraum und Leistung der BMW wissen. Ich beantworte seine Fragen bis er schließlich den Namen meines Motorrads wissen will. Ich sage, »BMW, no name.« Er lacht und sagt, » Ahh. Horse with no name. Good.« plötzlich nach zweieinhalb namenlosen Jahren hat mein Motorrad einen Namen: ›Horse with no name‹.
Während ich mich noch über die Kreativität und gute Laune des Arbeiters freue, erscheint ein Mann in blauer Uniform. Er steht vor dem geöffneten Ladebord und ruft etwas auf Arabisch. Zu mir sagt er barsch, «Documents!« Ich gehe zu ihm und reiche ihm Pass und Fahrzeugpapiere. »Motocycles forbidden.« - »Special permit of Consulate.« - »Egyptian ferry. Egyptian permit. Jordan port. Motocycles forbidden.« Er will also meine Sondererlaubnis vom ägyptischen Konsul nicht anerkennen, weil er als jordanischer Beamter nur jordanischen Regeln und keinen ägytischen Ausnahmen gehorcht. Der Arbeiter sagt etwas auf Arabisch und zeigt dabei auf das Motorrad, das schon sicher auf dem Schiff vertäut ist. Der Hafenbeamte schnauzt ihn an und wendet sich wieder mir zu. Das Motorrad müsse die Fähre sofort wieder verlassen, weil die jordanischen Gesetze die Mitnahme von Motorrädern verbieten. Ich müsse ein weiteres spezielles Genehmigungsschreiben der jordanischen Grenzbehörden vorlegen. Das bekäme ich in Aqaba bei der Polizei. Der Arbeiter bindet das Motorrad wieder los und ich schiebe das ›Horse with no name‹ von der Fähre zurück zur Grenzpolizei. Dort kläre ich, dass das Mototorrad vorläufig im Zollbereich des Hafen bleiben kann und nur ich nach Jordanien zurückkehre. Mein Ausreise wird ungültig gemacht und durch die hohen Stahlgitter sehe ich pünktlich um 11:30 die 11-Uhr-Fähre ablegen. Ich winke mir ein Taxi heran, das mich zurück nach Aqaba zu meinem Reisebüro bringt. Ich erzähle dem Inhaber meine Geschichte und zeige ihm das Genehmigungsschreiben des Konsuls. Er sagt, »Everything ok. No problem.« und greift zum Telefon. Er spricht ein paar Minuten mit jemandem auf Arabisch und legt dann lächelnd auf.»Afternoon ferry is yours. Boss of port-office is a friend, he will care.« Zusätzlich sagt er noch, ich solle bei der Rückfahrt mit dem Taxi gleich nach der ›port fare‹ fragen, dann sei die Fahrt billiger.
Um halb vier bin ich wieder am Hafen. Ich reise zum zweiten Mal heute aus Jordanien aus. Die Grenzer sind wie schon vorhin alle sehr nett zu mir und wissen offenbar von dem Problem von heute Vormittag. Ein anderer Hafenbeamter winkt mich in den Wartebereich für PKW. Ich bocke die BMW neben der Fahrspur auf und warte bis LKW und PKW auf der Fähre sind. Der Arbeiter von heute Vormittag hat entweder inzwischen Feierabend oder arbeitet jetzt an einer anderen Stelle im Schiff. Das Motorrad wird am selben Ort wie vorhin mit Gurten an der Fähre gesichert. Ich gehe die Treppe zum Passagierdeck hinauf und gehe direkt auf das Achterdeck, wo viele Männer in weißen Gallabijas stehen und rauchen. Reisende sind ja vom Fasten während des Ramadan ausgenommen. Die meisten PKW sind bis über das Dach hinaus beladen mit Säcken voller Kleidung und anderen Dingen. Auf vielen Autos sind Dachgepäckträger mit Kühlschränken oder anderen Küchengerätschaften. Für mich sehen die Wagen aus, wie die Autos der Gastarbeiter in Deutschland, die zum Urlaub zurück nach Italien, Spanien, Yugoslawien, Griechenland oder in die Türkei fahren. Tatsächlich arbeiten sehr viele Ägypter in den reichen Ländern am Golf und reisen nun offenbar zum Zuckerfest am Ende des Ramadan in ihr Herkunftsland. Um 17 Uhr werden die Leinen losgemacht und die Schiffsreise beginnt.
Die meisten Passagiere halten sich in einem großen Saal mit Bänken auf einem mittleren Deck auf. Mein Ticket erlaubt den Zugang zu einer Art Salon im Oberdeck. Hier gibt es Sofas statt Bänken und Tee gratis, Mineralwasser muss aus einem Automaten gekauft werden. Nach einer Stunde Fahrt geht hinter den Bergen des Sinaï die Sonne unter und den Passagieren im Salon werden Sandwiches serviert. Die Überfahrt nach Nueiba dauert ungefähr zwei Stunden. Vor der Ankunft müssen wir die Uhren eine Stunde zurück auf ägyptische Zeit stellen. Das Ausladen der Fahrzeuge findet umgekehrt zum Einladen statt, so dass ich jetzt der erste bin, der an Land fährt. Für die Einreise sortiere ich mich in die Spur für PKW ein. Die Einreiseprozedur dauert bis halb zwei Uhr morgens, dann sind alle Dokumente gestempelt und ich habe das Touristenummernschild an die BMW geschraubt.
Ich verlasse den Hafen- und Grenzkontrollbereich Richtung Nueiba Beach, nach fünf Minuten weist ein Schild nach links zum ›Nueiba Beach Resort‹. Man kann Apartments in den Betonhäusern mieten oder eine Schilfhütte am Strand oder einfach am Strand übernachten. Ich parke das Motorrad auf dem runden Platz zwischen der Rezeption und den Apartmenthäusern und entscheide mich für eine Nacht am Strand für 1 Ägyptisches £. Bei der Einreise musste ich den Gegenwert von 120 US-§ zu dem üblich schlechten Kurs in ägyptische Währung tauschen. Ich habe trotzdem eine dicke Rolle zerfledderter schmutziger Geldscheine bekommen. Münzen sind in Ägypten praktisch nicht vorhanden. Es gibt Scheine bis zum Minibetrag von 5 Piastern. Wegen des Hin-und-her-Getausches von Französischen Franc zu US-$ zu EGP ist mir der genau Wert des ägyptischen Geldes nicht klar. Aber ein £ kostet weniger als eine Mark.
Ich sitze noch zehn Minuten an einem großen runden Tisch in der Mitte des Platzes und will gerade an den Strand gehen und mir einen Schlafplatz suchen, als ich vom Eingang her Stimmen und Lachen höre. Eine Gruppe Mädchen erscheint. Alle tragen große Rucksäcke, die ersten erscheinen an dem Tisch, lassen ihre Rucksäcke auf den Boden und sich selbst auf die Bänke rund um den Tisch fallen. Sie reden schnell und laut auf Englisch miteinander. Die drei, die mir am nächsten sitzen sagen ihre Namen und wir schütteln uns die Hände. Eine der zuletzt angekommenen stellt einen Ghetto Blaster auf den Tisch. Sie legt eine Cassette ein und drückt den Start-Knopf. Sehr laut ertönt ›Kiss The Dirt‹ von INXS, alle singen mit. Als der nächste Song läuft, frage ich Eileen, die neben mir sitzt, wegen der australischen Rockband ob sie aus Australien kommen. »Aussie? You‘ craza! We‘ Kiwies!«
Zum ersten Mal seit Monaten treffe ich weibliche Reisende, die ungefähr in meinem Alter sind. Eines der Mädchen kramt ein Sixpack Bier aus ihrem Rucksack und die sechs Dosen machen die Runde. Für ein Dutzend durstige Leute ist das natürlich nur symbolisch. Wir plaudern noch ein bisschen. Die gut gelaunten Neuseeländerinnen machen mir Spaß, aber nachdem ich die beiden letzten Nächte fast gar nicht geschlafen habe und heute schon viele Stunden Grenzformalitäten hinter mir habe, muss ich mir dann doch bald einen Schlafplatz am Strand suchen. Abseits der lachenden Runde und mit gutem Abstand zum Meer werfe ich meine Sachen in den Sand, ich liege komplett angezogen auf der Isomatte, meiner Jacke und dem Schlafsack und bin nach zwei Minuten eingeschlafen.
Tag 48, Dienstag
Ich werde irgendwann vormittags von der Sonne geweckt. Der Strand ist weithin gesprenkelt mit bunten Schlafsäcken. Ich suche meinen Tabak und drehe mir eine Zigarette. Von zehn Metern links von mir spricht mich jemand auf Holländisch an, ich antworte auf Englisch. Der Holländer wechselt zu Englisch und entschuldigt sich, dass er wegen des Drehtabaks dachte, ich sei Holländer. Er fragt, ob er sich eine Zigarette drehen könnte. Sie seien jetzt seit drei Monaten unterwegs und hätten schon ewig Filterzigaretten rauchen müssen. Was er wirklich vermisse, sei eine schöne selbstgedrehte Zigarette. Er hockt sich neben mich in den Sand. Ich gebe ihm den Tabak und die Blättchen. Er dreht sich eine Zigarette als ob es ein religiöses Ritual wäre. Währenddessen erklärt er, dass über die ganze Länge gleich viel Tabak seien müsse, auf der Mundseite werde dann fester gedreht, so dass dort kein Tabak herauskrümelt und die fertige Zigarette eine leicht konische Form bekomme. Als er die Zigarette anzündet, stehen und sitzen schon fünf weitere Holländer um uns herum. Alle wollen sich eine Zigarette drehen. Bestimmt nur eine! Mittags ist der 50-Gramm-Beutel Samson, den ich vorgestern gekauft und heute aufgemacht habe, alle.
Aber ich habe gelernt, ›die perfekte Zigarette‹ zu drehen, und sechs neue Freunde, die mich den ganzen Tag über mit Getränken versorgen. Die Neuseeländerinnen sind Nachmittags schon wieder los, sie sind mit dem Bus nach Taba an der israelischen Grenze gefahren. Aber den ganzen Tag kommen andere Touristen an. Zwei Pärchen in zwei Geländewagen aus Frankreich, ein deutsches Wohnmobil aus Böblingen und ein Motorradfahrer aus Ludwigsburg, außerdem eine Reihe von Rucksacktouristen mit dem Bus. Ich sitze den ganzen Tag an dem runden Tisch und trinke das Bier, das die Holländer mir spendieren. Am Abend gehe ich mit ein paar deutschen Rucksacktouristen nach Nueiba und wir essen dort an einem Straßenstand Chicken-Kebab.
Als wir zurück zum Strand kommen, herrscht dort helle Aufregung, weil sich in einer der Schilfhütten eine handtellergroße Spinne befindet. Eine nähere Untersuchung zeigt dann allerdings, dass es sich nicht um eine Spinne, sondern um einen Krebs handelt, der junge Ägypter an der Rezeption versichert, dass die Krebse völlig ungefährlich und zudem eine Delikatesse sind. Trotzdem ziehen ein paar der Backpacker von ihren Schilfhütten in die Apartments um.
Tag 49, Mittwoch

Mi., 27. Mai 1987, Nueiba - Suez
Ich werde kurz nach Sonnenaufgang wach und bin um 8 Uhr auf der Landstraße nach Süden. Der Weg verläuft zunächst durchs Inland der Sinaï-Halbinsel, nach einer halben Stunde komme ich am Abzweig zum St. Katharinenkloster und dem Berg Sinaï vorbei. Ich folge der Straße nach Sharm El-Sheich. Wie in Jordanien warnen hier Schilder vor dem Verlassen der Asphaltstraße wegen noch nicht geräumter Minen.

Mi., 27. Mai 1987, Sinaï
Wieder an der Küste passiere ich den Touristenort Dahab, der einen traurigen Eindruck macht, die Straße ist gesäumt von Gewächshäusern, die wahrscheinlich während der israelischen Besatzung gebaut wurden und inzwischen völlig verfallen sind. Richtung Meer stehen Hotelburgen aus Beton. Das Inland des Sinaï ist schöner: vulkanische Berge mit runden Formen und verschiedenfarbigen Schichten und schroffe rote Felsspitzen wechseln sich zwischen den gelben Dünen ab.

Mi., 27. Mai 1987, Sinaï
Gegen Mittag mache ich in Sharm El-Scheich eine ausgedehnte Pause, ich finde einen kleinen Kiosk in einem Park, der eisgekühlte Getränke verkauft, und trinke eine Cola auf einer schattigen Bank mit Blick auf das Rote Meer und dann noch eine. Trotz Schatten und Cola ist es unerträglich heiß. Kurz hinter dem Ort passiere ich eine nicht besetzte Straßensperre der MFO, die die Grenze zwischen Zone C und A des Friedensvertrages zwischen Ägypten und Israel bewachen soll. Wenige Kilometer weiter sehe ich rechts in den Dünen ein Camp der US-Armee, wo dem Grillduft nach gerade ein Barbecue vorbereitet wird. Hinter dem Camp führt die Straße aus den Bergen heraus in eine weite Küstenebene, die bereits wie die Sahara aussieht. Die Straße windet sich durch sanfte gelbe Dünen nach Nordwesten. Als sich mein Weg wieder der Küste genähert hat, passiere ich einige kleine Ortschaften. Links vor mir ballen sich dunkle Wolken zusammen und böiger Wind lässt ein Gewitter erwarten. Hinter der südlichen Einfahrt zum Suez-Kanal werden die Böen zu anhaltendem Wind aus Westen, der Staub und Sand aus der Sahara mitbringt. Ich kann nicht glauben, dass ich schon an meinem ersten Tag in Afrika einen Sandsturm erleben soll. An einer großen Kreuzung zwischen ein paar Hütten zeigt ein Wegweiser links nach Kairo und dem Ahmed-Hamdi-Tunnel.
Als ich den Tunnel verlasse, tobt über mir ein Gewitter und ich bin in wenigen Minuten durchnässt. Kein Sandsturm, sondern Regen empfängt mich in Afrika.
Ich folge den Schildern Richtung Suez und finde nach einigem Suchen dort die Jugendherberge und den nebenan liegenden Campingplatz.
Ich bin heute bei brütender Hitze 500 km Motorrad gefahren und habe den ganzen Tag nichts vernünftiges gegessen. Auf dem Campingplatz gibt es nichts und in der Jugenherberge ist die Kantine geschlossen. Weil der Regen schon wieder aufgehört hat, baue ich mein Zelt auf und beobachte das Treiben auf dem Campingplatz.
Die Luft ist warm und feucht und voller Mücken. Ich bin froh, dass ich seit sechs Wochen Resochin zur Malariaprophylaxe nehme. Auf dem Platz wird es unruhig als ein großer roter LKW erscheint, der in der vorderen Hälfte zum Reisebus umgebaut ist. Ohne groß auf Zelte und Wohnmobile Rücksicht zu nehmen platzieren sie sich in der Mitte des Campingplatzes und beginnen ein Dutzend Tische und Campingstühle rund um eine mobile Küche aufzubauen. Ein älterer Herr aus der Gruppe sieht mein Motorrad und kommt näher. Er begrüßt mich und stellt die üblichen Fragen zu der BMW. Als am LKW eine Glocke ertönt, fragt er mich, ob ich mitkommen will. Ich hoffe auf ein Abendessen, der Herr organisiert einen Extra-Stuhl und ich setze mich mit an seinen Tisch. Die vier am Tisch erzählen aufgeregt von ihrer heutigen Etappe den Suez-Kanal entlang. Mich fragen sie nichts, auch nicht, ob ich etwas essen oder trinken möchte. Nach einer Stunde gehe ich hungrig und stolz zurück zu meinem Zelt. Touristen, die so tun, als wären sie Reisende. Die älteren Herrschaften, die jetzt im hinteren Teil des LKW in enge Schlafabteile klettern, würden mir leid tun, wenn die Mücken mich nicht wieder die halbe Nacht wachhielten.

Do. 28. Mai 1987, Suez - Cairo
Als es hell wird, krieche ich aus dem Zelt. Der Himmel ist immer noch oder schon wieder bedeckt, ab und zu fallen ein paar Tropfen Regen. Ich will hier so schnell wie möglich weg.
Um halb acht bin ich auf der Autobahn nach Kairo und eine halbe Stunde später am Autobahndreieck, das zum Kanaltunnel oder nach Kairo führt. Mitten in dem Autobahndreieck ist eine Tankstelle, an der ich vorbei fahre. Dreißig Kilometer weiter fängt der Motor an zu stottern, ich stelle die Benzinhahnen auf Reserve, aber das Stottern wird schlimmer, schließlich geht der Motor aus. Ich lasse die BMW in der Hoffnung auf etwas Schatten mit gezogener Kupplung so weit wie möglich rollen. Habe ich die Röhrchen in Patara wieder falsch herum eingebaut? Schließlich lasse ich die BMW auf den sandigen Standstreifen rollen und stelle sie dort ab. Nach wenigen Minuten hält ein Wohnmobil mit deutschen Werbeaufklebern und die Beifahrerin fragt mich, ob ich Hilfe brauche. »Hab' kein Benzin mehr. Nicht aufgepasst.« Ich zucke mit den Schultern. Sie spricht kurz mit dem Fahrer, der steigt aus und kommt zu mir auf die rechte Seite. »Wir haben nur einen kleinen Kanister Benzin, der Rest ist Diesel. Aber die 5 Liter kannste haben.« - »Super! Vielen Dank. Ich pass' in Zukunft besser auf.« Die 5 Liter sollten mich bis Kairo bringen, auf jeden Fall bis zur nächsten Tankstelle. Drei Autobahnabfahrten weiter ist auf der Gegenfahrbahn eine große Tankstelle zu sehen. Ich wende bei nächster Gelegenheit und fülle den Tank mit 52 Litern Superbenzin für umgerechnet ungefähr 10 Mark.
Eine halbe Stunde später fahre ich durch die östlichen Vororte von Kairo, die aussehen wie eine weitläufige Müllhalde, tatsächlich aber die Heimat von ein paar Millionen Menschen sind. Nach den Slums folgen rechts und links der Autobahn mehrere Gewerbegebiete. Schließlich sind weit vor mir erste Hochhäuser zu sehen und die Autobahn geht in eine Allee mit breitem Grünstreifen in der Mitte über. Auf der Suche nach dem vom Reiseführer empfohlenen Hotel in der Talaat Harb Street verfahre ich mich ein paar Mal im Gewirr der Einbahnstraßen, stehe aber schließlich vor einem sechsstöckigen alten Wohnhaus in der Innenstadt. Ich schließe die Aluboxen ab und packe die wichtigsten Dinge vom Tankrucksack in meinen Rucksack, den ich mitnehme. Eine altmodischen Eingangshalle mit kleinen Tischen und ein paar Sofas ist die Basis des Treppenhauses. Durch die Mitte des Treppenaufgangs führt ein mit Maschendraht zu den Treppen hin gesicherter Fahrstuhl. Der Fahrstuhl ist innen mit dunklem Holz getäfelt und fährt mit viel Quietschen und Rattern in den sechsten Stock. Neben der Fahrstuhltür sitzt ein alter Mann in schwarzem Anzug mit einem dunkelgrünen Fes auf dem Kopf und einem buschigen Schnurrbart unter der Nase auf einem Sofa und liest Zeitung. Ich frage nach einem Zimmer und er deutet auf einen gegenüber stehenden Tresen. Ich lege meinen Helm auf den Tresen und packe die Brieftasche mit Pass und Geld aus. Meine Daten werden mal wieder in ein großes Buch eingetragen und ich bezahle 10 £ für drei Nächte mit Frühstück im voraus. Der alte Mann sagt, dass ich das Motorrad in den Hof stellen kann und legt einen großen altmodischen Schlüssel auf den Tresen, dann zeigt er mehrfach den Flur entlang und macht eine Geste nach links. Auf dem Weg zu meinem Zimmer ganz hinten im Flur links komme ich an dem Gemeinschaftsbadezimmer vorbei. In meinem Zimmer steht ein großes altes Metallbett. Die Fenster zur Straßenseite sind mit dunkelroten Vorhängen verhängt. Es gibt auch einen kleinen Balkon, aber die Tür ist abgeschlossen.
Ich werfe meinen Rucksack auf‘s Bett und mache mich auf zurück zum Motorrad, um es in den Hinterhof zu bringen und mein restliches Gepäck für ein paar Tage herauf zu tragen.
Wieder unten vor dem Hotel sehe ich rechts vom Eingang eine große hölzerne Doppeltür. Der Schlüssel passt und die Türflügel öffnen sich. Ich gehe einen dunklen Gang entlang und bin nach ein paar Metern in einem kleinen kahlen Innenhof, der nach warmer Feuchtigkeit und Müll riecht. Ich schiebe die BMW hinein und packe ab, was ich in den nächsten Tagen gebrauchen könnte.
Auf dem Rückweg zum Hotel bleibt der Fahrstuhl zwischen der dritten und vierten Etage stehen, fährt aber schon nach ein paar Sekunden mit lautem Krachen weiter. Ich richte mich in meinem Zimmer ein und wasche den Dreck der Straße von Händen, Gesicht und Hals. Dann bin ich wieder unterwegs zur Talaat Harb Street. Dieses Mal nehme ich die Treppe. Auf der Straße höre ich die Böllerschüsse des Fastenbrechen, die heute aber länger als sonst dauern und von allgemeinen Jubelrufen begleitet werden. Es war der letzte Tag des Ramadan und alle scheinen froh, dass die Zeit des Fastens vorbei ist und morgen das dreitägige Zuckerfest beginnt.
An der nächsten Ecke ist ein Schnellrestaurant, dass italienisches Essen verspricht. Ich esse eine Lasagne, die zwar nicht talienisch, aber sehr lecker ist, und trinke dazu eine Cola. Vor mir auf dem Tisch liegt die Afrika-Karte von Michelin. Ich überschlage die Entfernung nach Assuan auf rund 1000 Kilometer und rechne mit drei bis fünf Tagen bis dahin. Nach dem Essen schlendere ich noch ein bisschen durch die Gegend bis zum Talaat Harb Square, fast jedes Haus trägt ein Schild, das auf ein Hostel oder eine Pension hinweist. Die Talaat Harb Street ist das bevorzugte Quartier für Packpacker in Kairo. Die Stadt ist mir, schon seit ich heute Nachmittag angekommen bin, wahnsinnig sympathisch – was ungewöhnlich ist, normalerweise mag ich große Städte nicht besonders. Auf dem Rückweg zu meinem Hotel sehe ich ein Café, das mit ›International Phone Calls‹ wirbt, jetzt aber geschlossen ist. Morgen rufe ich von hier aus Ande und meine Eltern an. Zurück in meinem Zimmer schreibe ich die heutige Strecke auf und notiere ein paar Vorkommnisse der letzten Tage und Wochen. Ich stelle fest, dass ich seit ein paar Wochen in allen entscheidenden Situationen auf berühmte Schauspieler treffe: Peter Falk in Samandağ, David Niven in Bab Al-Hawa, Donald Sutherland in Aqaba. Das altertümliche Ambiente des Hotels versetzt mich in einen merkwürdigen Trancezustand, als ob mir irgendwer irgendwas in den Tee getan hätte. Schließlich kritzele ich sogar Gedichte in mein Notizbuch:
›Düst're Wasser kreisen
von matter Luft empor getragen
hoch in eine ferne Zeit
schwach zurückgehalten nur
vom Rauch sinnloser Zigaretten.
Wie ein zeriss'ner Film
Von Meisterhand entartet
Zieht die letzte Welt an mir vorbei,
Am Anfang Hitchcock – auf munkel-grauen Wegen,
dann Jesus selbst – im Nescafé-Gewand,
Peter Falk – zuerst noch unerkannt
Und doch nicht mehr zur Flucht bereit.
Das stolze Bärtchen in den heißen Wind gestellt –
David Niven.
Und wie um alles zu beenden.
Der deutsche Film – verwirrend neu.‹

Do., 28. Mai 1987, Kairo, Talaat Harb Street
Tag 51, Freitag
Vormittags führe ich meine wöchentliche Wartungsrunde durch: Ventile und Zündung einstellen, ich wechsele die Zündkerzen wieder auf eine ›kältere‹ Version, die bisherigen sind zu rußig. Hinterher fahre ich auf die Nilinsel, in der Mitte Kairos, wo die Regierungs- und Botschaftsgebäude stehen. Immer noch benötige ich ein Visum für Nigeria. Die nigerianische Botschaft ist wegen des Freitags und wohl auch wegen des Zuckerfests geschlossen und erst am Montag wieder geöffnet. Bis Montag will ich nicht hierbleiben und beschliesse, mich in Khartoum um das Visum zu kümmern - falls ich es in den Sudan schaffe.
Auf dem Weg in's Regierungs- und Botschaftsviertel wird mir klar, dass im Straßenverkehr Kairos die Hupe das wichtigste Kommunikationsmittel ist. Egal, ob man abbiegen oder anhalten will, alles wird durch Hupen angekündigt. Auch Fußgänger, die so aussehen, als wollten sie die Straße überqueren, werden durch Hupen vorsorglich gewarnt. Die zahlreichen Ampeln in Kairo haben dagegen eher den Charakter von Empfehlungen, bei rot kann man fahren, hat aber keine Vorfahrt, umgekehrt hat man bei grün Vorfahrt, muss aber immer mit Querverkehr rechnen – und natürlich an der Kreuzung hupen. Wahrscheinlich habe ich noch nie zuvor so oft gehupt wie auf den drei Kilometern bis zur Botschaft. Beim Überqueren der Brücke zur Insel mitten im Nil ändert sich das Stadtbild schlagartig. Alles ist sehr aufgeräumt und ordentlich, der Verkehr aber immer noch chaotischer als alles, was ich bisher erlebt habe.
Bevor ich zurück zum Hotel fahre, wandere ich noch ein bisschen an der Uferpromenade entlang und trinke eine Cola in einem Café. Ich bin überrascht, dass hier viele junge Frauen allein oder mit Freundinnen auf den Straßen unterwegs sind. Anders als in den muslimischen Ländern der letzten Monate tragen auch junge Frauen westliche Kleidung, zumindest hier auf der Nilinsel mitten in Kairo.
Zurück beim Hotel parke ich das Motorrad wieder im Hinterhof und begebe mich zum Café, aus dem man nach Deutschland telefonieren kann. Ich spreche ein paar Minuten mit Ande, die zum Postamt in Suez einen Brief an mich geschickt hat. Meine Eltern sind froh, dass ich schon so weit gekommen bin und die Reise gut läuft. Mein Brief aus Aqaba mit dem Pass ist bereits zu Hause angekommen. Ich verspreche, mich spätestens aus Assuan wieder zu melden. Ich esse in dem Café noch eine Kleinigkeit und vertrödele den Nachmittag mit meinem Notizbuch und der Afrikakarte.
Abends esse ich wieder in dem Restaurant, das vorgibt, italienisch zu sein. Die Straßen sind heute noch voller als schon gestern. Heute sind auch viele Ägypter im Touristenviertel rund um den Talast Harb Square unterwegs. Beim Essen treffe ich drei Deutsche Rucksacktouristen, die in einem Hostel gegenüber von meinem Hotel wohnen. Nach dem Essen gehen wir noch für ein Bier in ihr Hostel. Sie wohnen in einem Zimmer mit vier Betten, dort ist bereits eine kleine Touristen-Party im Gange. Ein Australier und eine Argentinierin unterhalten sich beim Bier. Die Argentinierin erzählt, dass sie Jüdin ist und ihre Großeltern in den 1930ern vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet sind und sie sich jetzt Israel und – soweit möglich – die Nachbarländer ansehen will. Ich frage, ob es nicht näher gelegen hätte, sich die alte Heimat der Großeltern anzusehen. Sie sagt, dass ihr Großvater die Reise weitgehend finanziert hat, weil sie nach Israel wollte und eine Reise nach Deutschland nie unterstützt hätte. Ich fühle mich als Deutscher ein bisschen angegriffen und bestehe darauf, dass Deutschland und die Deutschen sich verändert haben. Die Argentinierin lacht fast verlegen und sagt, dass sie das natürlich weiß, dass ihr Großvater das auch weiß, aber trotz allem lieber eine Postkarte aus Jerusalem als aus Berlin bekommen möchte.
Nach einer Stunde klopft es an der Tür und zwei weitere junge Deutsche kommen herein, wie die drei aus dem Restaurant sprechen sie ein ausgeprägtes Schwäbisch. Schnell wir klar, dass alle fünf aus Böblingen bei Stuttgart kommen. Schon in Nueiba hatte ich ein Wohnmobile aus Böblingen gesehen und frage in die Runde, ob der Nahe Osten in Böblingen gerade in Mode ist. Einer der Schwaben sagt, Böblinger triffst Du ›immer überall‹. Die Unterhaltung läuft schon die ganze Zeit auf Englisch und der Australier lacht und sagt, dass man Australier auch ›immer überall‹ trifft. Böblinger also sozusagen die Australier Europas sind. Wir lachen und teilen das Sixpack der neuen Böblinger unter uns auf. Um halb zwei mache ich mich auf den Weg die fünf Stockwerke herunter und gegenüber die sechs wieder hinauf.
Tag 52, Samstag
Ich wache erst spät am Vormittag auf und nach einem schnellen Frühstück bin ich zu Fuß in der Stadt unterwegs. Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung, die ich sonst immer genommen habe und bin nach zehn Minuten an einem großen Kreisverkehr mit einem Obelisken auf dem zentralen Platz. Gegenüber beginnt ein großer Platz mit kleinen Rasenflächen und wenigen Palmen, dahinter steht ein großes Gebäude mit langen Warteschlangen von Touristen davor. Dass Ägyptische Museum, mit all den Mumien und Kunstschätzen des alten Ägypten. Der Verkehr rund um den Kreisverkehr ist ein interessantes Durcheinander, dass ich mir ein paar Minuten lang staunend ansehe, bevor ich um den Kreisverkehr herum auf den Platz gehe. Allein hier sind mindestens vier verschiedene Sorten von Polizeiuniformen unterwegs. Zum Glück für mich tragen die Polizisten am Oberarm eine Binde mit Englischer Beschriftung. Ich sehe ›Traffic Police‹, Tourist Police‹, ›City Police‹ und eine weitere andere Uniform ohne Beschriftung. Ich sitze eine Zeitlang auf einer Bank auf dem Platz und betrachte das Treiben um mich herum. Vor einem Eisstand steht eine lange Schlange ägyptischer Familien mit ihren Kindern.
Auf dem Rückweg in mein Hotel komme ich an diversen internationalen Schnellrestaurants vorbei, setze mich dann aber in einer kleinen Straße vor ein ägyptisches Café, das Kebab und verschiedene Gemüseeintöpfe anbietet, die Terrassenmöbel sind aus Holz und passen nicht zueinander, was mir aber besser gefällt als die genormten Mac-Plastikmöbel vor Pizza Hut und KFC. Das Essen verbringe ich wie immer mit meinem Reiseführer und der Afrikakarte. Montag will ich versuchen, den empfohlenen Campingplatz in Gizeh südlich der Pyramiden zu finden. Morgen gönne ich mir noch einen freien Tag im angenehm chaotischen Kairo.
Tag 53, Sonntag
Morgens beim Duschen sehe ich in dem Gemeinschaftsbadezimmer eine Kakerlake in der Größe eines BIC-Feuerzeugs. Danach gibt es das kleine Inklusiv-Frühstück des Hotels: Nescafé mit Kondensmilch und Fladenbrot mit Marmelade. Mittags sitze ich wieder an der Uferpromenade der Nilinsel und trinke Kaffee. Und abends gibt es wieder die unitalienische, aber leckere Lasagne im Restaurant an der Ecke.
Tag 54, Montag
Ich bin früh auf und beginne, meine Sachen zu packen. Vormittags manövriere ich die BMW hupend durch den Großstadtverkehr Richtung Westen. Auf einer Schnellstraße ist eine der Betonfahrbahnplatten so verschoben, dass ich eine kleine Sprungschanze überspringe. Der Gepäckträger quittiert das mit einem lauten Krachen und die unteren Ecken des Tanks knallen an die vorderen Rahmenrohre. Den Tank muss ich nachher kontrollieren. Erstmal scheint aber alles trocken zu bleiben. Die Schnellstraße geht in eine Allee über und plötzlich sehe ich direkt vor mir die Pyramiden von Gizeh. Sie scheinen mitten in der Stadt zu stehen, tatsächlich beginnt aber direkt hinter den Pyramiden die Wüste. Ich sehe die Cheopspyramide im Vorbeifahren und biege links Richtung Campingplatz ab.
Den Campingplatz finde ich leicht. Die Frau des Besitzers, die sich um das kleine Campingplatz-Restaurant kümmert, kommt aus Basel, so dass auch der Besitzer, Mr Saïd, ein bisschen Deutsch und sehr gutes Englisch spricht. Der Campingplatz ist teurer als das Hotelzimmer in der Talaat Harb Street, aber mit 5 £ pro Nacht immer noch sehr preiswert. Ich suche mir einen guten ebenen Platz in der Nähe von ein paar Palmen, die allerdings praktisch keinen Schatten spenden. Der Campingplatz ist relativ weit von den großen Pyramiden in Gizeh entfernt, aber direkt hinter dem Camping ist in der Wüste eine Stufenpyramide zu sehen. Nachmittags kommt ein kleiner Renault aus Deutschland an, das junge Pärchen baut sein Zelt in meiner Nähe auf, während ich den Tank und den Gepäckträger kontrolliere. Natürlich beginnen wir sofort das übliche Woher-Wohin-Gespräch. Abends essen wir zusammen in dem Camping-Restaurant und verabreden lose ein Wiedertreffen in Luxor in ein paar Tagen.

Mo., 1. Juni 1987, Gizeh, Campingplatz
Tag 55, Dienstag

Di., 02. Juni 1987, Gizeh - Suez - Gizeh
Morgens gibt es zum ersten Mal seit zweieinhalb Monaten Filterkaffee zum Frühstück und ein Stück ägyptisches Fladenbrot mit Marmelade, je weiter ich nach Süden komme um so weniger Teig haben die Fladenbrote, hier bestehen sie nur noch aus zwei dünnen Schichten Rinde und einer flachen Luftblase dazwischen. Der Durchmesser ist seit der Türkei von LP- auf Single-Größe geschrumpft. Dazu gibt es aber ein Pläuschchen auf Deutsch mit Mrs. Saïd, der schweizerischen Campingplatzbesitzerin.
Danach mache ich mich nochmals auf den Weg nach Suez, um Andes Brief bei der Post abzuholen. Auf dem Weg zu den Pyramiden stelle ich fest, dass die Hupe nur noch manchmal funktioniert. Auf der Schnellstraße nach Kairo funktioniert sie dann gar nicht mehr. Ich fühle mich wie nachts auf der Autobahn ohne Licht. Wenn ich mir kein Gehör verschaffen kann, exisiere ich für andere Fahrzeuge praktisch nicht - jedenfalls kommt es mir so vor. Das ständige Hupen ist so zur Routine geworden, dass eine nicht funktionierende Hupe als ernsthafter Defekt des Motorrads gilt. Nach einer Stunde bin ich auf der Autobahn nach Suez und vermisse die Hupe nicht mehr. Heute empfängt Suez mich mit besserem Wetter, kein Regen, kein Sandsturm und es ist auch nicht zu heiß.
Die Post finde ich dann relativ schnell, aber sie ist heute geschlossen. Vor dem Postamt versuche ich die Hupe zu reparieren und entdecke eine lockere Schraube am Hupenknopf. Während ich die Schraube wieder vorsichtig in dem Aluguss-Teil festziehe, taucht ein älterer Herr auf, der mich auf Englisch fragt, ob er helfen kann. Ich verneine und drücke zum Beweis auf den Knopf. Die BMW ist wieder Kairo-tauglich. Er fragt, woher, wohin. Ich berichte kurz vom Grund meines erneuten Kurzbesuchs in Suez und er schlägt sofort vor, den Brief morgen für mich abzuholen und nach Kairo zu schicken. Ich bin begeistert, schlage aber vor, den Brief besser zum Hauptpostamt in Assuan zu schicken. Weil ich morgen schon wieder unterwegs Richtung Süden sein will. Ich biete an, ihm das Geld für das Porto zu geben, aber er sagt, das sei nicht nötig und Allah werde ihn belohnen. Wir schütteln uns die Hände und ich bedanke mich nochmals. Ich bin gerührt von dieser Geste der Freundlichkeit.
Auf dem Rückweg nach Gizeh nehme ich in den östlichen Vororten einen falschen Abzweig und lande auf einer immer kleiner werdenden Straße in einem ziemlich ärmlichen Wohnviertel. Ich frage ein paar mal nach dem Weg nach Gizeh, Al-Dschiza, aber egal in welche Richtung ich gucke, immer zeigt die wegweisende Hand in diese Richtung. Würde ich fragen, ob es ›da lang‹ nach Gizeh geht und in irgendeine Richtung zeigen, wäre die Antwort immer ›Ja‹. Die Leute erkennen mich natürlich als Europäer und glauben offenbar, wenn ich den Weg von Europa hierher gefunden habe, dann weiß ich auch wie man nach Gizeh kommt. Nach dem Weg zu fragen, hilft hier also gar nicht. Ich orientiere mich an der Sonne und fahre so gut es geht nach Süden, wo ich die große Allee in die Innenstadt vermute, nach zwanzig Minten bin ich wieder auf der Allee und finde von hier aus problemlos den Weg zu den Nilbrücken und nach Gizeh. Als ich an den Pyramiden links zum Campingplatz abbiege, winke ich der Cheopspyramide kurz zu, weil ich davon ausgehe sie nie wieder zu sehen.
Abends esse ich wieder mit Steffie und Klaus, dem Paar mit dem R4 aus Köln, und einem Schweizer, der mit einem großen selbstausgebauten Wohnmobil unterwegs ist. Den Schweizer werde ich wohl in Assuan wieder treffen. Steffie, Klaus und ich sind jetzt fest für nächsten Freitag auf dem ›Campingplatz der jungen Christen‹ in Luxor verabredet. In Mittelägypten bilden die koptischen Christen eine große Minderheit, die Mehrzahl von ihnen gehört der oberen Mittelschicht an und sie werden nicht nur – wie vom Koran gefordert - als Angehörige einer der ›Buchreligionen‹ toleriert, sondern sind meist hoch angesehen.
Tag 56, Mittwoch

Mi., 3. Juni 1987, Gizeh - Mallawi
Am nächsten Morgen packe ich früh meinen Kram zusammen und gehe komplett reisefertig zum Campingplatz-Café, um meine Rechnung zu bezahlen und für ein Frühstück mit frischem Filterkaffee. Ich plaudere noch etwas mit Mrs. Saïd und Steffie und Klaus, die kurz nach mir auftauchen. Schließlich fahre ich mittags vom Campingplatz, ich wende mich nach Südsüdwesten und fahre in die östlichen Ausläufer dessen, was in Ägypten Große Westliche Wüste heißt und tatsächlich die Ost-Sahara ist. Ich passiere ein paar Militär-Checkpoints, die jedesmal meine Daten in ein großes Querformatbuch eintragen. So wie die Fladenbrote kleiner werden, werden die Querformatbücher größer, hier sind sie aufgeschlagen inzwischen knapp anderthalb Meter breit. Am ersten Checkpoint gibt der Offizier vor, keinen Stift zu haben und erwartet offenbar, dass ich ihm einen Kugelschreiber ›leihe‹. Ich hatte auf dem Campingplatz den Vorrat in der Jackentasche aus dem Tankrucksack aufgefüllt. Nach einer knappen Stunde Fahrt auf der gut ausgebauten Fernstraße durch die gelben Dünen der Sahara wird die Landschaft wieder grüner, ich fahre in die weitläufige Oase von Al-Fayoum ein und nach ein paar weiteren Kilometern auch in die gleichnamige Stadt. Zehn Minuten südlich der großen Stadt zeigt ein Wegweiser links nach Beni Suwaf, die Straße bringt mich zurück ins Niltal. Ich bleibe auf der westlichen Seite des großen Flusses und fahre nach Süden. Der Kontrast zwischen den sandigen Dünen der Wüste und dem wuchernden Grün im Niltal ist beeindruckend, weil beides nur ein Dutzend Kilometer von einander entfernt ist. Hier ist die Straße von Palmenhainen gesäumt, links im flachen vom Nil bewässerten Gebiet sehe ich Getreidefelder und im Umkreis der Ortschaften weiden Schafe und Ziegen an den Straßenrändern, ganz selten auch ‘mal eine Kuh.

Mi., 3. Juni 1987, Niltal südlich von Bani Suwaif
Christine und Allain hatten mir erzählt, dass sie in Mallawi auf dem Geländes eines von der UNICEF unterstützten Bildungsprojekts für Jugendliche übernachtet hatten. Ich solle in Mallawi einfach irgendwen nach ›Dr. Amber‹ fragen, jeder dort kenne ihn und würde mir gerne den Weg zeigen.
Alle paar Kilometer zeigt ein Wegweiser zu einem archäologisch oder historisch bedeutenden Bauwerk, wie immer lese ich die Schilder, fahre aber vorbei. Warum sollte mich ein Tempel von Ramses dem soundsovielten interessieren, wenn ich schon die Pyramiden nur kurz gegrüßt habe? Am späten Nachmittag fahre ich in Mallawi ein. Eine kleine staubige Stadt am Nilufer. Die Fernstraße führt in zwei rechten Winkeln hindurch. Nach dem ersten Knick nach links halte ich an einem Café und frage nach Dr. Amber. Als Antwort erhalte ich nur das in Ägypten übliche Drehen der nach oben gestreckten offenen rechten Hand und ein Zungenschnalzen. Übersetzt: ›Verstehe ich nicht. Nein!‹ Ich bin müde und ein bisschen gestresst von der Ungewissheit, wo ich hin muss und fahre durch den Ortskern weiter Richtung Nil. Fünfzig Meter vor mir biegt ein Radfahrer vom rechten Straßenrand aus langsam nach links ab. Ich hupe und bremse. Auf der staubigen Straße rutscht das Vorderrad blockierend nach rechts weg. Ich drücke die BMW herum und nach ein bisschen hin-und-her Geeiere fällt sie nach rechts, aber der breite Kofferträger setzt auf und das Motorrad stellt sich wieder auf. Inzwischen habe ich die 350 Kg wieder einigermaßen unter Kontrolle und rutsche mit blockiertem Hinterrad gerade auf den mich mit aufgerissenen Augen anstarrenden quer mitten auf der Straße stehenden Radfahrer zu. Fünfzehn Meter vor ihm bleibt die BMW stehen. Der junge Mann in staubig-weißer Gallabija starrt mich immer noch bewegungslos an wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Ich mache mit der linken Hand eine Geste, dass er aus dem Weg gehen soll und merke im selben Moment, dass mein linkes Bein wehtut. Offenbar bin ich mit der Wade gegen den linken Kofferträger geknallt. Eigentlich bin ich stocksauer auf den jungen Radfahrer, denke aber gleichzeitig an die strikte Verkehrsregel in Saudi-Arabien, dass Ausländer grundsätzlich an Verkehrsunfällen, in die sie verwickelt werden, Schuld sind, denn wären sie nicht ins Land gekommen, wäre der Unfall nicht passiert – ganz einfach, ganz logisch. Ich hätte, wie alle Reiseführer sagen, bei Ortsdurchfahrten besonders aufmerksam und vorsichtig sein müssen. Und schließlich ist ja fast nichts passiert. Nach dem zweiten Knick, der die Straße nun wieder nach Süden weisen lässt, sehe ich links ein großes Tor mit dem UNICEF-Symbol. Ich halte und frage dort nach Dr. Amber. Ich bin genau richtig, buche einen Platz für mich, die BMW und mein Zelt. Ich begutachte die Schäden am rechten Kofferträger und verarzte meine linke Wade mit Desinfektionsmittel und einem lockeren Mullverband. Scheinbar hat sich der äußere linke Längsträger mit seinem offenen vorderen Ende in die Wade gebohrt, wie das genau passiert ist, weiß ich nicht mehr, aber es hat nach meinen Socken und Schuhen zu urteilen recht ausgiebig geblutet, was gut ist, weil so Staub und Schmutz gleich aus der Wunde herausgespült wurden. Der rechte Träger ist nun an der gleichen Stelle verbogen, wie schon der linke seit dem Umfaller auf der Raststätte kurz vor München. Nachdem BMW und Bein verarztet sind und das Zelt steht, gehe ich in das kleine Restaurant und frage nochmals nach Dr. Amber, der sich zu mir setzt und nach meinen Reiseplänen fragt. Ihm mute ich die ganze Reiseplanung zu. Er lächelt und sagt, ich sei ein ›brave young man‹. Dann frage ich nach seinem Projekt und er beginnt ausführlich von sozialer Ungleichheit, mangelnder Bildung und daraus resultierender weiterer Ungleichheit zu sprechen. Auf dem Gelände sind einige Werkstätten, in denen die Jugendlichen, Jungs und Mädchen, die Grundlagen verschiedener handwerklicher Berufe lernen können. Eine Kfz- und eine Tischlerwerkstatt und natürlich das Restaurant mit der Küche. Er plant, im nächsten Jahr auch ein kleines Hotel aufzubauen. Während er erzählt, glühen seine Augen vor Begeisterung. Der Mann ist Feuer und Flamme für sein Projekt und ich bin begeistert von seinem Engagement.
Die Ausbildung in der Küche funktioniert jedenfalls gut, das Essen ist sehr lecker und der Service beeindruckend professionell. Trotz meines ersten richtigen Unfalls auf den bisher knapp 10.000 km Reise, geht der Tag dank Dr. Amber versöhnlich zu Ende.
Tag 57, Donnerstag

Do., 4. Juni 1987, Mallawi - Luxor
Weil ich gestern an einem halben Tag die Strecke Gizeh-Mallawi geschafft habe, traue ich mir heute die 400 km bis Luxor problemlos zu. Ich bin nach einem schnellen Frühstück bei Dr. Ambers Schützlingen früh wieder unterwegs. Die Straße führt weiter am westlichen Nilufer entlang, aber nun nicht mehr im fruchtbaren Flusstal, sondern an der Kante der Wüste. In Nag Hammadi folge ich den Wegweisern nach Qena und überquere den Fluss auf der Krone eines alten Stauwerks. Am östlichen Ufer des Nils geht es wieder durch grüne Büsche und unter Palmen auf der stark befahrenen Straße nach Luxor und Assuan weiter. An einer Tankstelle halte ich an einem kleinen Fernfahrer-Restaurant und esse einen Eintopf mit Lammfleisch, Paprika und Bohnen.

Do., 4. Juni 1987, Niltal südlich von Mallawi
Ich bin inzwischen ziemlich genervt von der Dummheit und Ignoranz der meisten Ägypter hier im mittleren Niltal. Natürlich weiß ich, dass das kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Die Leute sind sehr nett, verstehen aber nicht, was ich hier mache und wollen es auch gar nicht wissen. Die Mehrzahl lebt einfach ihr bäuerliches Leben vor sich hin, ohne Ambitionen und Ziele, die über das nächste Abendessen hinausgehen. Jedenfalls kommt es mir so vor. Wahrscheinlich ist es unfair und wird den Menschen nicht gerecht, aber ich erlebe Mittelägypten als ein Land von ignoranten allem Neuen und Fremden total verschlossenen Leuten. Dr. Amber mit seinem starken Willen zu Veränderung und Verbesserung ist die einzige Ausnahme, die ich bisher getroffen habe.
Die BMW macht mir Sorgen. Die Zylinder klappern wie ein Sack Schrauben. Morgen ist mal wieder eine große Wartungsrunde dran – und ein Ölwechsel.
Am späten Nachmittag habe ich die 400 km bis Luxor geschafft und finde den YMCA-Campingplatz leicht. Eine große gepflegte Wiese mit blühenden Büschen und Palmen. Der Platz ist umgeben von einer hohen Mauer und mit einem großen Metalltor verschlossen. Die Leute hier sind freundlich und wollen meine Geschichte hören. Abends wird der Platz von fröhlichen Lichterketten und dem violetten Sonnenuntergangshimmel beleuchtet. Ich esse in dem Campingplatz-Restaurant, das vorläufig noch in einem großen Zelt untergebracht ist.

Do., 4. Juni 1987, Luxor, YMCA-Campingplatz
Tag 58, Freitag
Morgens treibt die Hitze mich früh aus dem Zelt. Ich trinke im Restaurant einen Filterkaffee mit Milch und mache mich an die Motorradwartung. Der Tank ist abgebaut und lehnt schräg an einer Palme. Die Ventildeckel liegen unter den Zylinderköpfen und fangen die letzten Tropfen Öl auf. Auf den ersten Blick ist der Grund für das schreckliche Klappern von gestern klar: das linke Einlassventil hat statt 0,4 ca. 4,0 mm Spiel. Klar, dass das klappert! Offenbar hat sich die Einstellschraube los vibriert. Ich stelle die Ventile wieder korrekt ein und mache einen Öl- und Ölfilterwechsel, kontrolliere die Zündkerzen und stelle die Zündung ein. In Assuan muss ich neues Öl kaufen. Mein Vorrat aus Syrien ist jetzt verbraucht.

Fr., 5. Juni, Luxor, YMCA-Campingplatz
Mittags kommen Steffie und Klaus auf dem Campingplatz an. Sie hätten es gestern fast noch nach Luxor geschafft, haben dann aber als es dunkel wurde im Auto an einer Tankstelle übernachtet. ›Fahr nie im Dunkeln!‹
Wir vertrödeln den Nachmittag mit Kaffeetrinken und Plaudern. Steffie hat irgendwo gelesen, dass es im Etapp-Hotel am Nil jeden Freitagabend ein offenes Büfett für 11 £ gibt. Wir beschließen, heute Abend für kleines Geld fürstlich zu speisen. Um halb sieben machen wir uns in ihrem R4 auf den Weg. Das Büfett ist sehr vielfältig und wir schlagen uns die Bäuche voll. In meinen Jackentaschen landen ein paar Brötchen für das Frühstück morgen und nachdem klar ist, dass auch die Getränke in den 11 £ inklusive sind, auch noch ein paar Dosen Bier für heute Nacht. Für mich ist es das erste beinahe europäische Essen seit fast zwei Monaten und ich geniesse es sehr. Gegen elf nach Nachtisch, Früchten und Kaffee fährt Klaus uns zurück zum Campingplatz. Wir setzen uns vor unsere Zelte auf den Boden und trinken das abgezweigte Dosenbier aus dem Hotel. Die beiden wollen morgen das Tal der Könige am anderen Nilufer besichtigen und müssen nach ein paar weiteren Tagen in Luxor zurück nach Alexandria, um ihre Fähre nach Venedig zu bekommen.
Tag 59, Samstag
Morgens fühle ich mich ein bisschen erkältet, vielleicht die trockene Luft oder zuviele Zigaretten und zuviel Bier gestern Abend. Wir frühstücken mit Filterkaffe vom Camping-Restaurant und Brötchen aus dem Hotel. Während Steffie und Klaus die vieltausend Jahre alten Tempel und Begräbnisstätten auf der Westseite des Nils besichtigen, verbringe ich einen faulen Tag auf dem Campingplatz. Zwischendurch gehe ich für eine Stunde in die Innenstadt und sehe mir den überdachten mittelalterlichen Markt an. Vor einem der großen Hotels am Nil kaufe ich Postkarten, die ich nachmittags dann auch gleiche beschreibe und nach Hannover verschicke.
Tag 60, Sonntag

So., 7. Juni 1987, Luxor - Assuan
Ein beschaulicher Pfingstsonntag auf dem Weg nach Assuan. Irgendetwas ist heute anders. Ich oder die Ägypter? Entspannt fahre ich durch eine beschauliche grüne Landschaft am rechten Nilufer, mache sogar immer wieder kurze Stopps für Photos. Auf einer schnurgeraden Landstraße vor Kom Ombo kommt mir eine 600er XT in Zebra-Lackierung entgegen. Im Rückspiegel sehe ich das rot-gelbe in Ägypten obligatorische Ausländer-Nummernschild. Die XT hält aber nicht, ich fahre ebenfalls weiter. Später sehe ich während einer Zigarettenpause, dass am Hinterreifen einer der Gummistollen fehlt, die Bruchkante sieht aus, als wäre der Stollen einfach herausgerissen. Hartes Gelände hatte ich bisher noch nicht, ebenfalls keine schnellen Autobahnetappen.

So., 7. Juni 1987, Niltal vor Kom Ombo
Vielleicht ist die Kombination von stundenlangem Landstraßentempo und der andauernden Hitze von über 40° dem Trial-Reifen einfach zuviel und das Gummi wird spröde. Obwohl ich zuerst geschockt bin, sehe ich beim weiteren Nachdenken keinen Grund für tiefere Beunruhigung. Ein fehlender Stollen von ein paar Hundert ist kein Problem. Allerdings muss ich das bei der weiteren Fahrt aufmerksam beobachten und zu starke Beanspruchung des Hinterreifens wo möglich vermeiden. Für Khartoum ist sowieso der nächste Reifenwechsel geplant, schon um dann mit weniger Gepäck auf der Hinterachse unterwegs zu sein. Am späten Nachmittag komme ich in Assuan an und finde den empfohlenen Campingplatz auf dem Gelände des antiken Steinbruchs für die Obelisken, die überall in Ägypten stehen – und einer von Napoleon aus Luxor gestohlener auch auf dem Place de la Concorde in Paris. Auf dem Campingplatz sind viele Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer aus Deutschland, einer aus Frankreich und ein weiterer aus Großbritannien. Mit zwei der Deutschen habe ich abends ein mittelmäßiges, aber teures Abendessen im Cleopatra-Hotel im nördlichen Stadtzentrum und vergesse zum ersten Mal meine Pillen zur Malariaprophylaxe.
Tag 61, Montag
Mit 18 Stunden Verspätung nehme ich mein Resochin und mache mich auf den Weg in die Stadt. Ich finde ein kleines Café auf einer Terrasse direkt am Nilufer. Das Café dient als Anlegestation für die kleinen Motorboote, die die Touristen auf das andere Ufer übersetzen oder Besichtigungstouren am diesseitgen Ufer aufwärts bis zu den Stromschnellen am Cataract Hotel machen, außerdem ist das Café der Platz, wo die Bootsführer auf Fahrgäste warten, ihre Pausen verbringen und mittags essen. Nach einem Milchkaffe mit Fladenbrot und Marmelade mache ich mich auf die Suche nach der Hauptpost von Assuan, finde ein Postamt, aber das falsche, nach einer Weile auch das richtige. »Where is ›Poste Restante‹?« - »Next window.« Fünf- oder sechsmal schickt man mich von rechts nach links, von drinnen nach draußen und wieder zurück. Bis einer der Postangestellten erklärt, der Abholschalter hätte vor 20 Minuten zu gemacht, sei aber morgen früh wieder geöffnet und - ach, ja – heute Abend ab sechs.
Ich gehe zurück zu meinem Café, wo die BMW wartet. Trinke noch eine Cola und beschließe, heute nach der Post hier mit Andes Brief zu essen. Wieder einen Lammeintopf. Ich habe Halsschmerzen und Schnupfen. Das trockene heiße Wüstenklima ist scheinbar doch nicht so gesund wie gedacht.

Mo., 8. Juni 1987, Assuan
Tag 62, Dienstag
Morgens treibt mich die Hitze und ein Ameisenvolk, das mein Zelt über Nacht erobert hat, früh raus. Ich räume das Zelt aus, schüttele alles, was drin war, und das Zelt selbst sauber und baue es ein paar Meter weiter wieder auf und hoffe, die Ameisen finden es nicht wieder. Danach fahre ich direkt zur Post und hole den Brief von Ande aus Suez und einen weiteren direkt nach Assuan geschickten ab. Ich lese die Briefe beim Frühstück in meinem Café am Nil. Als es am späten Nachmittag etwas kühler wird, gehe ich zum Büro der Nile Navigation Company, die die Fähre nach Wadi Halfa betreibt. Dort arbeitet ein sehr freundlicher älterer Mann, der empfiehlt zuerst zum Hafen zu fahren und ein ›Port-Permit‹ von der Port Police zu beschaffen, damit ich mit dem Motorrad überhaupt in den Hafenbereich hinein komme. Meine Aufgabe für morgen. Abends esse ich wieder in meinem Cafe am Nil. Wegen der Hitze haben die Tage hier eigentlich nur vier Stunden, in denen irgendetwas erledigt werden kann.
Zwischen Sonnenaufgang um sechs und ca. neun Uhr morgens ist es noch kühl von der Nacht und nachmittags ab fünf geht es wieder, um sechs schließen alle offiziellen Stellen dann schon. Zwischen 9 und 5 kann ich außer im Café zu sitzen und Cola zu trinken, nicht viel machen.
Tag 63, Mittwoch

Mi., 10. Juni 1987, Aussuan, Campinplatz
Die Ameisen haben mein Zelt heute Nacht wiedergefunden, also wiederhole ich die Prozedur von gestern morgen wieder, diesmal gehe ich mehr als zwanzig Meter weiter. Danach rasiere ich mich vor dem Motorradrückspiegel und fahre südlich aus der Stadt zum großen Staudamm, überquere ihn auf der Krone und stehe vor dem mit Maschendraht abgezäunten Hafenbereich. Ich sage dem Posten am Tor, dass ich zur Port Police will, um ein Port Permit zu bekommen. Er zeigt auf das weitläufige Hafengelände und sagt ›Port Police‹ - und, dass ich ohne Port Permit nicht auf das Gelände darf. Das Port Permit bekomme ich bei der Border Police in Assuan. Der Hafen gilt als Grenzgebiet, also ist die Border Police zuständig. Da hat sich der freundliche Mann von der Nile Navigation wohl geirrt.
Ich fahre zum Frühstück in mein Café und durchdenke die Situation. Wenn ich in bis zum 27. Juni nicht auf die Fähre komme, müsste ich mein Visum verlängern und noch mal 120 US-$ Zwangsumtausch leisten, außerdem müsste ich dazu zurück nach Kairo. Das muss bis 23. Juni entschieden sein, damit ich den Weg noch schaffe. Ich beschließe, es bis zum 20. weiter zu probieren und dann im schlimmsten Fall mit der Fähre von Alexandria über Venedig oder Athen nach Hause zu fahren. Dass ich jetzt einen realistischen Plan B habe, beruhigt mich so sehr, dass ich sogar eine detaillierte Route für Plan A aufschreibe.
Nachmittags bin ich dann wieder bei der Nile Navigation und ein anderer jüngerer Mann bietet mir ein Ticket nach Wadi Halfa für den 20. Juni an. Ich rechne noch mal den Zeitplan durch und buche die Fahrt. Ich bin total glücklich. Andererseits kann ich jetzt nicht mehr so großzügig mit meinem Reisebudget umgehen, wie heute Mittag noch gedacht. Wenn die Reise nicht nächste Woche zuende geht, sondern erst Mitte August, muss ich weiterhin mit den durchschnittlich 20 DM pro Tag auskommen, die von Anfang an geplant waren.
Abends esse ich trotzdem mit einem Paar aus Freiburg, die auf einer Honda unterwegs sind, in einem schönen und guten Restaurant am Nilufer. Da Bücher und Hefte auf Arabisch rechts gebunden sind und nicht links wie bei uns, sind die Speisekarten, wenn man sie mit der Bindung links aufschlägt in Englisch, wenn man sie mit der Bindung rechts aufschlägt in Arabisch geschrieben. Beim Warten in Samandağ habe ich viel Zeit damit verbracht, die arabischen Zifferzeichen zu lernen. Beim Durchblättern der Speisekarte stelle ich fest, dass in der Arabischen Abteilung alles etwas weniger kostet als in der Englischen. Die Gerichte sind für uns Europäer aber ohnehin so billig, dass der Unterschied nur wenige Pfennige ausmacht.
Zum Essen bestellen wir Dosenbier. Das Flaschenbier wird in Kairo abgefüllt und auf offenen LKW die tausend Kilometer nach Assuan geschafft, da kann es leicht passieren, dass ein Kronenkorken der Hitze und dem Gerüttel nicht standhält und das Bier ohne Kohlensäure hier ankommt. Blechdosen sind einfach haltbarer.
Tag 64, Donnerstag
Vormittags bin ich wieder bei der Nile Navigation, heute ist wieder der ältere Travel-Agent da. Die Buchung für den 20. Juni ist falsch - die Fähre geht erst am 2. Juli! Das ist für mich natürlich viel zu spät. Nach ein bisschen hin-und-her sagt der Travel-Agent aber, dass ich mit meinem Ticket auch schon nächsten Samstag fahren kann, wenn ich die Bürokratie mit der Hafenaufsicht geregelt bekomme.
Ab Mittag sitze ich wieder in meinem Café. Während ich lange Briefe an Ande und meine Eltern schreibe, versucht direkt neben mir auf dem Wasser ein junger Mann den Außenbordmotor seines Bötchens zu repaieren. Der Zweitakter will nicht anspringen, er hat aber nicht mal einen Kerzenschlüssel, um die Zündkerze zu überprüfen. Ich spreche kurz auf Englisch mit ihm, gehe zum Motorrad und hole ein paar Basis-Werkzeuge. Ich klettere auf das kleine Boot und versuche noch mal den Motor anzuwerfen. Aus dem Vergaser tropft ein wenig Benzin. Treibstoff ist also da. Ich drehe die Zündkerze heraus, sie ist total nass und ziemlich schwarz. Ich trockne die Kerze mit einem Lappen und bürste den Ruß herunter. Als die Zündkerze wieder im Zylinderkopf steckt, springt der kleine Zweitaktmotor sofort an. Der junge Ägypter ist überglücklich und tanzt auf seinem Boot, er umarmt mich immer wieder, bedankt sich auf Arabisch und Englisch und fragt, was er mir bezahlen soll für das Wunder, das ich vollbracht habe. Ich sage den Satz, den ich von dem netten Mann in Suez gelernt habe, dass Allah mich belohnen wird.
Ab sofort werde ich in meinem Café jedenfalls noch freundlicher behandelt als sowieso schon. Alle Bootsführer begrüßen mich mit einem respektvoll lächelnden Nicken. Am Nachmittag kommt ein junger, sehr teuer und sauber angezogener Tourist in das Café. Er bestellt Espresso, den es hier natürlich nicht gibt. Ich rate ihm auf Englisch entweder Nescafé mit Milch oder Tee zu bestellen. Er sagt automatisch »Danke« und bestellt Milchkaffe. Als sein Kaffee kommt, fragt er mich auf Deutsch, ob die BMW oben an der Straße mir gehört. Wir plaudern ein bisschen. Er kommt aus Frankfurt, ist nach Kairo geflogen und dann mit dem Zug nach Assuan. Samstag will er mit der Fähre nach Abu Simbel und von dort mit dem Bus zurück nach Assuan. Nächste Woche fährt er mit einem Kreuzfahrtschiff den Nil herunter nach Kairo. Und übernächstes Wochenende ist er wieder zu Hause. Wie ich hat auch er heute die Hälfte seiner Tour hinter sich.
Abends essen wir zusammen im Restaurant im obersten Stockwerk des Oberoi-Hotels. Die Aussicht über die Stadt, den Fluß und die Wüste hinter dem Fluß ist noch beeindruckender als das sehr gute Essen.

Do., 11. Juni 1987, Aussuan
Tag 65, Freitag
Morgens bin ich wieder im Hafen und rede dort mit dem obersten Chef der Nile Navigation Company. Dass ich noch immer kein ›Port Permit‹ für die BMW habe, beantwortet er mit einem lächelnden »No problem«. Ich glaube ihm, dass seine Company sich um die Formalitäten kümmern wird und fahre beschwingt zurück nach Assuan, auf dem Weg sehe ich wieder das Hinweisschild zum ›Old-Cataract-Hotel‹, von dem der Reiseführer so schwärmt. Ich biege ab, parke das Motorrad neben dem Eingang des prächtigen Gebäudes aus dunkel-orangenem Stein. Vom Eingang aus sehe ich über einer großen Doppeltür ein Schild ›Terrace‹ und gehe in diese Richtung. In meinen staubigen und ziemlich abgerissenen Motorradklamotten komme ich mir an diesem alt-ehrwürdigen teuren Hotel deplatziert vor, die Angestellten behandeln mich aber freundlich und respektvoll. Auf der Terrasse suche ich mir einen Platz mit Blick auf die schmale Schlucht, durch die der Nil hier stürzt, und bestelle standesgemäß einen Gin Tonic. Das Hotel, die Angestellten und die Aussicht haben den Charme des britischen Weltreiches am Anfang des 20. Jahrhunderts. In einem der Korbsessel an den Bambustischen könnte Agatha Christie sitzen und das Schlusskapitel von ›Tod auf dem Nil‹ schreiben. Ich trinke langsam meinen Gin Tonic und rauche Camels dazu. Als das Glas fast leer ist, kommt ein Kellner und fragt, ob ich noch etwas wünsche. Ich bestelle einen zweiten Gin Tonic und genieße die entspannte Kolonialatmosphäre.
Auf dem Rückweg nach Assuan versuche ich irgendwo Motoröl zu kaufen. Alle Geschäfte haben heute am Freitag geschlossen, auch die meisten Tankstellen. Schließlich finde ich eine, die geöffnet ist, aber kein Motoröl verkauft. Beim Abendessen in meinem Café überlege ich, ob ich ohne Ölvorrat die Abreise morgen in den Sudan wagen soll. Laut Reiseführer ist die Versorgungslage in Wadi Halfa nur mäßig. Einen Motordefekt wegen zu geringem Ölstand kann ich mir auf der schwierigen Piste nach Khartoum nicht leisten. Ich beschließe, nicht morgen, sondern erst mit der nächsten Fähre am kommenden Samstag, den 20. zu fahren. Ich hoffe, dass dem Big Boss der Nile Navigation am Montag erklären zu können. Als es anfängt zu dämmern, fahre ich zurück zum ›Campingplatz am unvollendeten Obelisken‹, weil ich noch das Zelt von den Ameisen befreien und an einen anderen Platz stellen muss. Der Schweizer mit seinem großen Wohnmobil, den ich in Gizeh getroffen habe steht mit zwei anderen Deutschen mit einem ziemlich abgerockten Mercedes-Bus in der Nähe von meinem Zelt. Die drei wollen morgen zusammen nach Abu Simbel fahren. Weil ich die Samstags-Fähre in Gedanken schon abgeschrieben habe, beschließe ich mit den dreien mitzufahren.
Tag 66, Samstag

Sa., 13. Juni 1987, Assuan - Abu Simbel
Die drei wollen mittags losfahren, dann sind es 45° im Schatten, allerdings gibt es nirgends Schatten. Mal sehen, wie das wird. Ich fahre erstmal in mein Café, wo wir uns gegen 14 Uhr treffen wollen. Tatsächlich kommen die drei pünktlich um halb zwei fröhlich die Treppe zum Café herunter. Wir trinken noch jeder eine kalte Cola und sind um zwei unterwegs. Wir fahren südlich, Richtung Hafen, aus der Stadt hinaus, vor dem Staudamm biegen wir an einem halb von den Dünen begrabenen Wegweiser auf die Abu Simbel Road ab.

Sa., 13. Juni 1987, Assuan, Abzweig zur Abu Simbel Road
Es ist unerträglich heiß. Zum Glück habe ich heute zwei Begleitfahrzeuge mit Kühlschränken dabei, so dass es bei den kurzen Stopps wenigstens kaltes Wasser zu trinken gibt. Ich habe meinen Photoapparat einem der beiden Schwaben gegeben, damit ich auch mal ein paar Photos von mir während der Fahrt habe. Nach ca. 50 km sehe ich rechts der Straße die Trasse der alten Piste. Ich signalisiere den anderen zu halten und sage ihnen, dass ich ein Stück auf der alten Piste fahren will. In einer leichten Kurve kreuzt die neue Asphaltstraße die Piste und ich zweige ab. Der Untergrund ist relativ hart, also leicht zu fahren. Trotzdem stelle ich mich auf die Fußrasten, presse die Knie an den Tank und versuche hauptsächlich mit den Knien zu lenken. An manchen Stellen hat die Piste tiefe Spurrinnen mit weichem Sand darin, die ich versuche zu umfahren, wo das nicht geht, fahre ich mit Druck auf dem Hinterrad hindurch und lasse dem Vorderrad so weit es geht die Freiheit, sich selbst den besten Weg zu suchen. Größtenteils fnktioniert das ganz gut. Einmal kommt die schwere Fuhre aber sehr ins Schlingern. Ich muss noch Erfahrung sammeln, um in solchen Situationen nicht in Panik zu verfallen und, gelassen durch Gasgeben die Kontrolle zurückzugewinnen.

Sa., 13. Juni 1987, Piste neben der Abu Simbel Road

Sa., 13. Juni 1987, Piste neben der Abu Simbel Road
Nach einer Stunde fahre ich auf die Asphaltstraße zurück und brauche jetzt erstmal eine Pause. Ich gieße mir eine halbe Flasche Wasser über den Kopf und mache das Halstuch nass, damit ich wenigstens ein bisschen Kühlung bekomme. Wir sitzen zu viert schweigend am Straßenrand und blicken in die Wüste. Plötzlich höre ich ein sehr lautes Knacken, und noch eines. Wir sehen uns an und zucken alle mit den Schultern. Als es noch mal knackt, kann ich das Geräusch zuordnen. Es ist das Knacken eines abkühlenden heißen Motors, das normalerweise aber so leise ist, dass man es kaum hört. In der totalen Stille der Wüste erscheinen auch sonst leise Geräusche unerhört laut. Hinter ein paar Hütten links der Straße durchqueren wir einen trockenen Wadi, kurz danach zweigt rechts die Straße nach Wadi Halfa ab. Ein paar hundert Meter weiter Richtung Sudan sehen wir einen großen Polizei-Checkpoint. Die Landgrenze zwischen Ägypten und Sudan ist seit Jahren gesperrt.
Bei Sonnenuntergang kommen wir an unserem heutigen Lagerplatz auf dem Parkplatz eines großen Hotels an. Ich baue mein Zelt zwischen den beiden Wohnmobilen auf und der Schweizer bereitet uns ein Abendessen aus Lammkoteletts und Bratkartoffeln zu. Ich gehe zu dem Hotel, um Bier zu kaufen. Ich nehme eine Hintertür und lande in dem Aufenthaltsraum der Köche und Kellner, einer der Kellner geht an die Bar und bringt drei Halbliter-Dosen Bier. Umgerechnet kostet jede Dose 16 DM. Wahrscheinlich das teuerste Bier meines Lebens.
Tag 67, Sonntag

So. 14. Juni 1987, Abu Simbel, Camp am Nasser-See
Ich wache sehr früh auf und mache Dutzende Photos vom Sonnenaufgang über der Wüste jenseits des Stausees. Nach einem kleinen Frühstück mit frisch gekochtem Kaffee gehen wir zu Fuß die paar Hundert Meter zu dem großen Ramses-Tempel, für den Abu Simbel berühmt ist – besonders seit er in den 1960er Jahren auf Betreiben der UNESCO am ursprünglichen Standort, der inzwischen vom Nasser-See überflutet ist, ab- und auf dem Hochplateau von Abu Simbel wieder aufgebaut wurde. Die Tempelanlage ist tatsächlich sehr schön und beeindruckend. Der internationale Touristenauflauf bestätigt mich allerdings in meiner bisherigen Entscheidung, die großen Sehenswürdigkeiten zu meiden.

So., 14. Juni 1987, Abu Simbel, Tempel für Ramses II.
Hinterher packen wir unser Zeug zusammen. Im Ort suchen wir erfolglos eine Post, um unsere Postkarten, die wir am Tempel gekauft und geschrieben haben, abzuschicken. Gegen halb drei sind wir wieder unterwegs nach Assuan. Irgendwann gestern oder heute habe ich meinen Ohrring verloren.
Es ist schon dunkel, als wir wieder an unserem Campingplatz am Obelisken-Steinbruch ankommen. Die drei wollen in Assuan in einem Restaurant essen, ich schließe mich ihnen an nachdem ich mein Zelt wieder aufgebaut habe. Die drei fahren im Mercedes-Bus der Schwaben in die Innenstadt von Assuan, ich auf der BMW, wir finden ein nettes Restaurant am Nilufer. Nach dem Essen fahren die drei zum Campingplatz, ich bleibe noch und schreibe in mein Notizbuch:
›Wieder Zweifel. Gestern bin ich ein paar Kilometer die alte Piste gefahren (von Assuan nach Abu Simbel): anstrengend, aber nicht unmöglich. Auch Sand stellt – schnell genug – kein Hindernis dar. Ich war schon überrascht wie einfach die Sache war. 200 km in 6 Stunden, das scheint kein Problem zu sein. ABER: wie sieht es aus mit der Orientierung. Ich habe später von der Asphaltstraße aus die Wüste und die Piste beobachtet, immer wieder verschwindet die Hauptpiste fast völlig oder neue Pisten zweigen und kreuzen. Wenn das immer so ist, werde ich tatsächlich Probleme kriegen. Aber viel schlimmer ist, dass ich schon wieder (vielleicht deswegen) nah Hause will. Ich werde mit 98% Sicheheit niemanden für die Strecke bis Khartoum bekommen und auch weiter bis N’Djamena ist es recht unwahrscheinlich. Was ist, wenn irgendwas passiert, etwa auf der Desert-Road nach Atbara. Ich glaube psychisch wäre ich der Einsamkeit gewachsen. Aber jetzt bekomme ich zum ersten Mal Angst um mein Leben. Was, wenn ich mich verirre?! Das liebste wäre mir, wenn sich Mittwoch rausstellt, dass ich die Fähre nicht nehmen kann. Ich hätte vielleicht doch gestern Morgen fahren sollen. Da war ich noch optimistischer. Ich glaube, ich muss es auf alle Fälle versuchen. Und schließlich ist Heimweh der beste Antrieb, vorwärts zu kommen, wenn die Richtung stimmt. »Der kürzeste Weg nach Hause führt durch den Tchad.« Und doch: Die Angst bleibt da. So ganz wohl fühl ich mich dabei nicht, zumal der Hinterachsantrieb Spiel hat und beim Drehen des Rades hörbar »KLACK« macht. (jeweils beim Richtungswechsel, Start und Stopp). Beim plötzlichen Gaswegnehmen und Beschleunigen ist ebenfalls was zu hören. Ein weiterer Punkt (oder vielleicht der Grund für meine miese Stimmung?) ist, dass mir die Hitze heute ganz schön zu schaffen macht. Es ist jetzt kurz vor zehn [abends], aber immer noch 35°C warm. In der Wüste waren heute sicher 45–55° ›im Schatten‹ (was natürlich rein hypothetisch ist, denn Schatten gibt's da keinen, nur unter deinen Füßen).
Tag 68, Montag
Kurz nach Sonnenaufgang weckt mich die heiße stickige Luft im Zelt. Die Zeit bis die drei anderen aus ihren Wohnmobilen kommen, verbringe ich damit, endlich meine Jeans zu flicken.
Nach einem schnellen Frühstück mit den dreien fahre ich zum Büro der Nile Navigation und versuche, mein Ticket auf den nächsten Samstag umzubuchen. Wieder heißt es, ich müsse vorher ein Permit der Port-Police und - wie ich inzwischen weiß - vorher eines der Border-Police beschaffen, damit das Motorrad in den Hafen und auf die Fähre kommt. Irgendwie dreht sich die Bürokratie im Kreis.
Die Mittagshitze verbringe ich in meinem Café am Nil und trinke Cola. Ich studiere die Afrikakarte und gehe mein Roadbook für die Etappe bis Algerien durch. Die Skepsis, ob die Tour für mich und meine BMW überhaupt machbar ist, gewinnt mehr und mehr die Oberhand. Am frühen Nachmittag beschließe ich, abzubrechen und nach Hause zu fahren.
Im Laufe des heutigen Tages ist sie gereift, von der Möglichkeit zur Wahrheit, die Entscheidung für die Heimat! Nach 68 Tagen hab' ich genug. Ich fahre nach Hause, damit das Abenteuer kein Horror-Trip wird. Ich habe viel gelernt, aber für Afrika, das wirkliche Afrika fühle ich mich noch nicht reif genug. Ich muss die Freiheit haben, »Stopp« sagen zu können. Ich will nicht aufgeben, aber den Termin verschieben. Im Hochsommer Sahel und Sahara zu traversieren mag von Deutschland, besonders keck wirken, aber hier erscheint es eher als Dummheit. Außerdem ist es mir wirklich objektiv zu gefährlich. Ich möchte es gerne noch ein mal versuchen. Zu zweit, im Winter und in der anderen Richtung. Nur die Freiheit umzukehren hat Leute wie Reinhold Messner ihr Ziel erreichen und überleben lassen. Ich glaube nicht, dass mich in Afrika der Tod erwartet, aber lauert dort vielleicht näher am Weg als in Europa. Niemals werde ich Afrika vergessen. Ich komme zurück, bzw. komme hin, denn Ägypten ist sowenig Afrika wie die USA Amerika sind. Ich will es schaffen dieses bloody mediterranean zu umrunden. Ich werde es schaffen vielleicht beim nächsten Mal oder übernächsten Mal. Aber aufgeben werde ich mein Ziel nicht.
Es geht mir gut dabei. Kein bisschen Zorn oder Frust. Ich bin froh, so ehrlich »Nein« sagen zu können. Alles was jetzt zu tun bleibt ist eine heillose Flucht zu verhindern und den geordneten Rückzug zu organisieren. Zwei Tage bis Cairo, dann Alex, von dort ein Boot, am besten nach Venedig. Und dann in wohl nicht mehr als zwei Tagen nach Hause. Es stellt sich die Frage, soll ich mich ankündigen? Es wäre sicher fairer. Aber die Verlockung ist groß, die Überraschung und Freude selbst und ungeformt zu erleben. Eitelkeit und Stolz auf die Leistung (Trotzdem!) 8-10 Tage wenn ich relativ schnell ein Schiff kriege. D.h. am 26. Spätestens könnte ich zu Hause sein. Ich muss mich wohl mindestens bei meinen Eltern melden. Die denken ja ich bin seit Samstag im Sudan. Spätestens von Khartoum aus hätte ich mich melden wollen, also am 18./19. spätestens, d. h. ich wäre eine Woche überfällig, das geht nicht bei aller Liebe zu mir selbst. Also rufe ich von hier aus noch zu Hause an. Ich habe mir heute Nachmittag schon meine Filme wiedergeben lassen (von zwei Deutschen, die am 28. Nach Hause fliegen). Außerdem ist heute der zweite Reißverschluss am Zelt kaputtgegangen...
›Ich habe gerade einen Engländer gefragt, was mit der Wahl in England war. » Mrs Thatcher won again.« Er sagt das mit einer Stimme, die genauso unberührt hätte sagen können: »We’ve got a nuclear war alover the world.« Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes, aber zu alltäglich, zu genau analysiert um wirkliche Bestürzung auszulösen. – Dann die Sache mit dem Hinterachsantrieb. Der verlorene Ohrring, vielleicht ein Zeichen, dass es mit dem Glück zu Ende geht. Zeit jedenfalls an Hannover zu denken. An Ande und Maj, an meine Eltern, das Haus, an Heiko und die Werkstatt, an Flensburger und Tristram-Kaffee, an Waschi und Chrischi und an Ben, dem ich jetzt 'ne Kiste Champagner schulde, an das BAD, an Jack Daniels und Pascal, an Bruce, Mick, Lou und Pete, an Led Zeppelin und The Clash, an die große Baustelle am Berliner Platz und das Hochwasser im BAD, an Regen und Frost, an kalte Sommertage und Nieselregen am Morgen des Weihnachtstages, an grüne Wiesen und grauen Himmel, an warme Nächte im BAD, an grüne Strumpfhosen und orange, an mich im Abenteurer-Outfit, an Ernüchterung bei der Wahrheit, an tote Helden und an Rolli, an alles was ich vermisse und nie vergesse, an die Heimat, denn Heimat ist stärker als alle Ideologie und wer das verleugnet war noch nie in der Fremde, an Frauen, die ich dachte zu lieben und an die, die ich liebe, an Künstler und Kinder, an Teppichboden und heiße Duschen, an Schnitzel und orange Soßen, an O-Saft und Vollmilch, an Schokolade und Gummibärchen, an Streit und Nerv mit Menschen die ich mag, an mich und meine Veränderungen, davon ob sie Bestand haben oder nur hier gültig sind, an boring afternoons mit lauem Kaffee und zu lauter Musik, an Platten mit und ohne Aussage, an all die vielen Kleinigkeiten, die einen immer wieder wegtreiben aus diesem Land (jenem Land, Deutschland), an all die Stümper, die zu Hause von Afrika reden und die wenigen Profis, die wissen worum es geht, an Überheblichkeit und Bescheidenheit (meinerseits), an Nichtigkeiten, die die Welt bewegen, an Leute die so wichtig waren und die man doch vergisst, an Schweizer in überdimensionalen Wohnmobilen, an Jan und Wowa und Tom und an Murat und Ian, an Touristen, die sich ständig streiten, an…‹
Donnerstag früh will ich nach Assiyut fahren, damit ist etwas mehr als die Hälfte der Strecke bis Kairo geschafft. Freitag fahre ich dann zum Campingplatz in Gizeh und lasse mir Samstag von Mr. Saïd mit dem Ticket für die Venedig-Fähre helfen. Ende nächster Woche bin ich dann zu Hause – zwei Monate früher als geplant, aber die Entscheidung ist gefallen! Ich fühle mich total erleichtert. Außerdem bin ich plötzlich unvorstellbar reich: mein restliches Geld, das eigentlich noch zwei Monate hätten ausreichen müssen, kann ich jetzt in knapp zwei Wochen auf den Kopf hauen.
Abends erzähle ich dem Schweizer von meinem neuen Plan. Er stimmt zu, dass meine BMW für eine Ost-West-Durchquerung des Sahels wohl zu schwer ist, und meint, mein kleiner Pistenausflug vorgestern hätte ihn nicht vom Gegenteil überzeugen können. Er will morgen nach Luxor und von dort durch die Östliche Wüste zum Roten Meer, wohin die beiden Schwaben heute Vormittag schon aufgebrochen sind.
Tag 69, Dienstag
Ich frühstücke noch mit dem Schweizer und wir verabschieden uns. Ich ziehe heute in ein Hotel um, werde nachher nach einem guten preiswerten Zimmer suchen. Den Vormittag verbringe ich schreibend und lesend in meinem Café. Kurz nach Mittag gehe ich auf den Markt und suche nach einem neuen Ohrring. Silber mit Türkis soll es werden, ich finde aber nichts passendes. Nachmittags checke ich im Abu Simbel Hotel am Nilufer ein. Ein Zimmer im achten Stock mit Blick auf den Nil und die Westliche Wüste, mit eigenem kleinen Badezimmer und Klimaanlage: 10 £, Frühstück und Mittag- oder Abendessen inklusive.
Nachdem ich vom Hotelzimmer aus dutzende Photos vom Sonnenuntergang über der Wüste gemachte habe, esse ich vom Hotel-Büfett.

Di., 16. Juni 1987, Sonnenuntergang über dem Nil, Assuan
Tag 70, Mittwoch
Vormittags versuche ich noch einmal einen neuen Ohrring zu kaufen, wieder erfolglos, dafür finde ich einen preiswerten silbernen Ring, der perfekt an meinen rechten kleinen Finger passt. Dann fahre ich nach einem guten kleinen Mitagessen in meinem Hotel wieder ins Old Cataract Hotel für einen oder zwei Gin Tonic auf der Terrasse. Nach einer halben Stunde steht ein breiter ca. 50-jähriger Mann vor meinem Tisch und fragt auf Englisch, ob er sich zu mir setzen dürfe. Er stellt sich als Mike aus Chicago vor und erzählt, dass er die neue Eisenbahn-Schnellstrecke von Kairo nach Assuan baue. Seine Großmutter sei 1899 von Schlesien in die USA ausgewandert, habe dort einen Iren geheiratet und die Familie lebe seit den Zwanziger Jahren in Chicago. Ich erzähle kurz von meiner Reise und, dass heute mein letzter Tag in Assuan sei und ich so schnell wie möglich auf die Fähre nach Venedig wolle. Er lacht und sagt, dass man Ägypten unbedingt gesehen haben müsse, aber dass es keinen Grund gäbe wieder zu kommen.
Abends esse ich zum letzten Mal in meinem Café am Nil. Um zehn bin ich im Bett.
Tag 71, Donnerstag

Do., 18. Juni 1987, Assuan - Gizeh
Der anstrengendste und wahrscheinlich gefährlichste Tag der ganzen Reise. Um halb neun ist die BMW reisefertig und ich fahre Richtung Luxor aus Assuan heraus. Um elf mache ich in Qena in einer klimatisierten Tankstellen-Raststätte eine ausgedehnte Mittagspause. Um eins bin ich wieder auf der Straße. Weil ich schon um halb vier kurz vor Asyut bin, beschließe ich, bis Gizeh weiter zu fahren. Bei einem kurzen Stopp putze ich mit dem Halstuch meine Brille. Ein kleiner Junge guckt mir zu und macht die übliche drehende Bewegung mit der rechten Hand, die Unverständnis signalisiert. Vor El Minya wird es dunkel, ich fahre nun nur noch maximal 80 km/h und erwarte jeden Moment einen unbeleuchtetes Fahrzeug oder irgendein Tier auf der Straße. Erschwert wird alles von der Angewohnheit der anderen Fahrzeuge alle paar Sekunden das Fernlicht für einen Moment einzuschalten. Als vor mir ein VW Käfer auftaucht, der ca. 100 km/h fährt, hänge ich mich mit Sicherheitsabstand hinten ‘ran. Falls tatsächlich irgendwo ein Esel oder ein Fahrrad ohne Licht unterwegs ist, sehe ich es an der Reaktion des Käfers hundert Meter vor mir. In Bani Suwaif, 150 km vor Gizeh, biegt der Käfer leider ab. Das Fahren wird wieder zur Tortur. Zwanzig Kilometer weiter überholt mich ein Tankwagen zügig. Dankbar nehme ich das unfreiwillige Angebot an und folge nun dem bis zu 120 km/h schnellen rot-gelben Sattelschlepper. Kurz vor zwölf komme ich völlig erschöpft auf dem Campingplatz von Mrs. und Mr. Saïd an. Ich sehe einige der Motorräder, die ich schon in Assuan getroffen habe. Ich baue nur noch nachlässig das Zelt auf und lege mich erschöpft schlafen.
Tag 72, Freitag
Ich wache früh, aber erholt auf. Natürlich muss ich erstmal allerhand Fragen beantworten. Ich sollte ja eigentlich schon seit fast einer Woche im Sudan sein.
Die beiden Freiburger auf ihrer Honda sind auch da. Auf der Rückfahrt hatten sie ein ernstes Motorproblem, das aber in Luxor repariert werden konnte. Und die zwei unangenehmen Karlsruher auf ihren teuren Reiseenduros sind inzwischen auch hier. Außerdem ein Paar aus Holland auf einer BMW, die vor ein paar Tagen auf der Straße von Al-Fayoum in einen Esel hinein geknallt sind. Wegen der Hitze hatte der Mann keine Lederjacke an und bezahlt dafür nun mit schlimmen Schürfwunden am linken Arm und Rücken. Der Unterarm ist außerdem eingegipst und hängt in einer Schlaufe vor seinem Bauch. Glücklicherweise kann seine Frau auch Motorrad fahren, so dass sie auf eigenen Rädern nach Hause können. Die kleine Tourenverkleidung der BMW hat den Zusammenstoß mit dem Esel größtenteils abgefedert. Das GFK hängt in Fetzen an seinen Befestigungsstreben, aber ansonsten hat die BMW nicht viel abbekommen - für den toten Esel mussten sie bei der Polizei 50 US-$ zahlen, die angeblich an die Eigentümer-Familie weitergeleitet werden.
Auf dem Platz steht eine weitere BMW aus Bremen alleine vor einem Zelt, abends kommt der Besitzer genervt mit dem Taxi an. Seine Lichtmaschine ist durchgeschmort und er kämpft seit einer Woche mit dem ADAC und dem ägyptischen Zoll. Erst wollte der ADAC das Ersatzteil nur nach schriftlicher Bestätigung einer Fachwerkstatt schicken, dann haben sie es geschickt, aber nicht mit den richtigen Zollerklärungen, nun liegt seine Lichtmaschine sicher verpackt beim Zoll am Flughafen von Kairo und er darf sie nur abholen, wenn er ca. 1.000 £ zum Staatskurs Einfuhrzoll bezahlt, also fast 900 DM. Dreimal mehr als das Ding in Deutschland kostet. Heute hat er aber mit dem Boss des Flughafenzolls aushandeln können, dass er die Lichtmaschine zu seinem Carnet de Passage hinzufügen kann. Der Zoll also nur fällig wird, wenn er das Motorrad in Ägypten lässt. Eigentlich wäre der ADAC für den zollfreien Versand zuständig gewesen. Aber scheinbar fehlte in München die Zeit oder die Energie sich um solche Details zu kümmern.
Abends essen wir alle zusammen im Restaurant von Mrs. Saïd. Und morgen kümmert sich Mr. Saïd um mein Ticket nach Venedig.
Tag 73, Samstag
Nach dem Frühstück bittet Mr. Saïd mich in sein Büro und ruft einen Freund in einem Reisebüro an. Die meisten Reisenden auf der einzigen Autofähre von Europa nach Ägypten buchen die billigere Überfahrt bis Athen und fahren von Griechenland aus auf eigenen Rädern nach Hause. Für die Passage bis Venedig reserviert die Reederei immer ein bestimmtes Kontingent, auf das ich jetzt zurückgreifen kann, denn die kürzeren Überfahrten sind bereits vollständig ausgebucht.
Mr. Saïd bucht für mich das Ticket nach Venedig. 700 £, zu bezahlen in US-$ oder einer anderen frei konvertierbaren Währung. Zum Staatskurs entspricht das 3.000 französischen Francs, also fast 1.000 DM. Ein starkes Stück, aber damit bin ich nächsten Donnerstag zu Hause. Die Fähre verlässt Alexandria morgen Abend um halb neun.
Jetzt bin ich wirklich fast zu Hause. Die meisten anderen Gäste auf dem Campingplatz fahren auch mit der Sonntag-Fähre bis Venedig. Am Nachmittag fahre ich noch ein letztes Mal nach Kairo, sitze ein bisschen an der Uferpromenade der Diplomateninsel im Nil und esse abends in dem angeblichen italienischen Restaurant in der Talaat Harb Street. Gegen neun bin ich wieder auf dem Campingplatz. Inzwischen hat der Platz sich mit mehr Motorrädern und ein paar Wohnmobilen gefüllt. Der Bremer kann morgen endlich endlich seine Lichtmachine einbauen, die er heute vom Flughafenzoll abgeholt hat.
Ich schenke ihm meinen extra für diesen Zweck abgeflexten Inbusschlüssel, um den Rotor von der Kurbelwelle abzudrücken. Der grundlegende Aufbau der BMW-Motorradmotoren hat sich seit 1973 nur geringfügig verändert, so dass ich ihm genau erklären kann, was zu tun ist. Er bedankt sich und steckt den Abdrückstift in seine Brieftasche. Nach einer halben Stunde kommt er mit zwei Dosen Bier zurück auf die Terrasse. Er öffnet eine und drückt mir gleichzeitig die andere in die Hand. »Hab ich von ‘nem Wohnmobil geschnorrt. Danke für das Spezialwerkzeug. Prost!«
Alle, die morgen die Fähre nehmen, wollen morgen Mittag zusammen nach Alexandria fahren. Wir haben uns für die ›Desert Road‹ entschieden, die an der Grenze zwischen fruchtbarem Nildelta und Wüste nach Nordwesten verläuft. Dort herrscht weniger Verkehr als auf der ›Agricultural Road‹ durch das Nildelta, die Chance auf Radfahrer oder Esel zu treffen ist auf der Desert Road geringer.

So., 21. Juni 1987, Gizeh - Alexandria
Ich bin früh wach und mache mich an die letzte Wartungsrunde. Diesmal gilt es, die BMW auf zwölfhundert Kilometer Autobahn vorzubereiten. Ich begutachte den Hinterreifen nochmals skeptisch. Aber, wenn ich erstmal wieder in Europa bin, kann sich meinetwegen auch der Hinterreifen auflösen.
Trotz der vielen Teilnehmer fährt die Karawane einigermaßen pünktlich los. Die Reederei empfiehlt um 18 Uhr am Hafen zu sein, um die Ausreiseprozedur zu beginnen. Um eins fahren wir ein letztes Mal an den großen Pyramiden von Gizeh vorbei und biegen später nach links auf die Desert Road ab. Wir erreichen Alexandria um vier Uhr nachmittags und trinken noch in aller Ruhe einen Kaffee mit Blick auf den Containerhafen.
Um sechs steht eine lange Schlange von Wohnmobilen, Geländewagen und Motorrädern vor der Abfertigungsanlage im Hafen. Es ist immer noch brütend heiß und geht nur sehr langsam voran. Schließlich winkt mich ein Polizist mit der Oberarmbinde der Port-Police nach rechts aus der bis hier gemischten Warteschlange in die Spur für Motorräder. Die Port-Police kontrolliert, ob ich über die notwendigen Papiere verfüge und übergibt mich an die Border-Police. Die Ausreiseprozedur geht vergleichsweise schnell. Um acht ist eigentlich alles erledigt: Pass und Carnet sind abgestempelt, das ägyptische Nummernschild zurückgegeben.
Da erscheint ein neuer Uniformierter und sagt mir auf Englisch, dass das zweite ägyptische Nummernschild noch fehlt. In Nueiba hatte ich wie alle anderen Einreisenden zwei Nummernschilder bekommen, war aber davon ausgegangen, dass Motorräder normalerweise nur eines bekommen und die Einreise in Nueiba einfach nicht auf Motorräder vorbereitet sei. Kurz: ich hatte das zweite Nummernschild zwischen den beiden Hälften des Tankrucksacks versteckt und gehofft, ein kleines Souvenier mit nach Hause schmuggeln zu können.
Ich behaupte, nur eines bekommen zu haben. Der Uniformierte besteht aber darauf, dass alle Fahrzeuge zwei Nummernschilder bekämen und sie das zweite schon finden würden, wenn sie nur gründlich suchten. Dabei blickt der auf seine Armbanduhr und die Fähre, die mit geöffnetem Ladebord hundert Meter entfernt steht. Ich spiele Erstaunen und erinnere mich ›plötzlich‹. Ich öffne den Verbindungsreißverschluss zwischen den beiden Tanrucksackhälften und überreiche ihm lächelnd das rot-gelbe Nummernschild. Er nickt nur und winkt mich in Richtung Fähre.
Ich kicke die BMW an und fahre zum Ladebord der Fähre. Auf dem Ladebord - also offiziell in Italien - steht ein Schiffsoffizier in einer unwirklich weißen Uniform mit allerhand goldenen Verzierungen. Er winkt mich auf die Backbordseite des Fahrzeugdecks, wo bereits ein paar Dutzend andere Motorräder festgezurrt sind. Im Moment als ich den Motor ausschalte, fühle ich mich wieder in Europa.
Ich packe meinen Kram für 3 Nächte in meinen Rucksack und schließe den Helm am Motorrad an.
Zuerst gehe ich auf das Aussichtsdeck, um das Losmachen und Auslaufen zu beobachten. Das Deck ist mit einigen Hundert Reisenden gefüllt. Backbord am Heck steht meine Gruppe aus Gizeh. Wir stehen plaudernd und rauchend zusammen, irgendwer hat ein Tablett mit Espresso beschafft. Wir sind in Italien!
Wir verlassen den Hafen von Alexandria während die Sonne über der ägyptischen Mittelmeerküste untergeht. Hinter der Hafenausfahrt dreht das Schiff nach Nordnordwest und ich begebe mich auf die Suche nach meiner Kabine. Mr. Saïd hat eine billige innen liegende 3-Bett-Kabine für mich gebucht. Meine zwei Zimmergenossen sind deutsche Motorradfahrer, sie teilen sich das rechte Doppelstockbett, die linke Seite der Kabine gehört mir. Ich werfe meinen Kram auf das Bett und gehe zurück nach oben. Auf dem Oberdeck gibt es ein großes Selbstbedienungsrestaurant. Auch hier tragen alle Crewmitglieder sehr weiße Uniformen. Hinter dem Tresen steht eine große chromblitzende Espressomaschine, in einer Abteilung des Rückbüfetts stapeln sich alle internationalen Zigarettenmarken. Zum ersten Mal seit Monaten habe ich die freie Wahl, welche Marke ich kaufen will, und muss nicht nehmen, was es gerade gibt. Ich kaufe eine zollfreie Stange Camel ohne Filter, setze mich an den Tresen und rauche eine Zigarette zum Espresso während ich die Speisekarte an der Wand hinter dem Tresen durchsehe. Es gibt Sandwiches, Salate, diverse Nudelgerichte und – natürlich – Pizza, von 11 bis 17 und von 18 bis 22 Uhr und von 6 bis 11 Uhr gibt es zusätzlich verschiedene Frühstückskombinationen. Meine Gizeh-Gruppe sitzt auf zwei der roten Bänke auf der Steuerbordseite. Eines der Gesichter kenne ich noch nicht. Ich setze mich zu ihnen und stelle mich dem neuen vor. Er heißt Peter und hatte einen ziemlichen schlimmen Motorradunfall auf der Nil-Straße bei Luxor. Seine überladene BMW hatte sich auf ein paar Bodenwellen so aufgeschaukelt, dass er die Kontrolle verloren hatte und mit 100 km/h abgeschmiert ist. Der rechte Arm ist eingegipst und der linke eine einzige große Schürfwunde. In Venedig wartet ein Sattelschlepper des ADAC auf ihn und seine BMW. Wir bestellen etwas zu essen und ein paar Flaschen italienischen Rotwein. Die langweiligen Karlsruher gehen früh in ihre Kabine und der Rest von uns bleibt im Restaurant bis die Kellner uns rausschmeißen, damit sie aufräumen und putzen können. Wir ziehen mit einer weiteren Flasche Rotwein auf das Außendeck um und genießen die ruhige warme Sommernacht auf dem Mittelmeer.
Tag 75, Montag
Am nächsten morgen frühstücke ich Pfannkuchen mit frischem Obst am Tresen des Restaurants. Nachmittags kommt eine große Insel in Sicht. Wir fahren an der Ostspitze der Insel vorbei und an der Nordküste entlang. Das Schiff legt für zwei Stunden im Hafen von Heraklion auf Kreta an. Nur wenige Fahrzeuge verlassen die Fähre, keine neue werden verladen. Eine Schulfreundin von mir, hat hier praktisch das gesamte letzte Jahr in einer Art Hippie-Kommune an einem Strand verbracht.
Nach Sonnenuntergang, der bereits über eine Stunde später als in Ägypten ist, sehen wir auf beiden Seiten des Schiffs immer wieder die Lichter von Inseln oder anderen Schiffen, wir nähern uns dem europäischen Festland.
Tag 76, Dienstag

Di., 23. Juni 1987, Piräus
Mittags läuft das Schiff Piräus, den Hafen von Athen, an. Etliche Fahrzeuge gehen von Bord und ein paar Reisende nutzen den Aufenthalt für einen Landgang, ich bleibe an Bord und beobachte das Treiben des Ent- und Beladens im Hafen. Auf dem Aussichtsdeck ist es ungewohnt ruhig. Neben uns liegt das italienische Kreuzfahrtschiff ›Achille Lauro‹, das vor zwei Jahren von palästinensischen Terroristen entführt worden war. Ein US-amerikanischer Passagier wurde getötet. Nachmittags verlassen wir Piräus wieder und nehmen Kurs auf den Kanal von Korinth. Die Schiffe in Westrichtung müssen warten bis ein Konvoi aus Westen den schmalen Kanal verlassen hat. Im Kanal sind die steilen Felswände buchstäblich zum Greifen nahe.

Di., 23. Juni 1987, Kanal von Korinth
Den Sonnenuntergang erleben wir dann schon in der Adria. An Backbord sind die Lichter der italienischen Küste zu sehen.
Tag 77, Mittwoch

Mi., 24. Juni 1987, Venedig - Langenhagen
Ich genieße das wahrscheinlich letzte Frühstück meiner Reise. Wieder Pfannkuchen mit Obst und einem großen Glas heißer Milch mit einem Espresso darin. Vormittags läuft das große Schiff in Venedig ein. Ungläubig stelle ich fest, dass wir mitten durch die historische Stadt fahren müssen, um zum Fährhafen zu gelangen.

Mi., 24. Juni 1987, Venedig, Markusplatz
Es geht am Markusplatz mit Dogenpalast und Campanile vorbei und weiter an der Hauptinsel entlang zum Hafen an der Westseite von Venedigs Stadtkern. Unsere Gizeh-Gruppe verabschiedet sich von einander. Die meisten fahren direkt nach Hause, nur zwei der Geländewagen wollen noch ein paar Tage in Italien bleiben. Es werden ein letztes Mal Adressen und Telefonnummern ausgetauscht.
Das Ausschiffen und die Einreise nach Italien dauert nur wenige Minuten. Um halb elf stehe ich wieder auf europäischem Boden. Direkt an der Ausfahrt des Hafens beginnt die Autobahn. Eine lange flache Brücke bringt mich zum italienischen Festland. Ich habe mich für den schnellen Weg nach Hanover entschieden und nehme die Autobahn über Verona, Bozen, den Brenner, Innsbruck und dann auf der A 7 nach Hause.
In Südtirol staut sich der Verkehr ein bisschen, weil die linke Spur für eine große Maschine gesperrt ist, die das Gras auf dem Mittelsteifen mäht. In den letzten Woche war es für mich normal, dass die Menschen Mühe und Energie aufbringen, um Vegetation zu ermöglichen und zu erhalten, hier muss gegen das Grün gekämpft werden.
Nachmittags esse ich in einer deutschen Autobahnraststätte das übliche Schweinegulasch mit Nudeln. Hinterher sehe ich auf der Beschleunigungsspur eine Brieftasche, ich halte an und öffne sie. Die zwei 50-Mark-Scheine nehme ich heraus und stecke sie ein, die übrigen Papiere lasse ich drin und lege die Brieftasche gut sichtbar an den Rand der Beschleunigungsspur.
Ich verbringe die Fahrt damit, ständig die aktualisierte Ankunftszeit in Langenhagen zu berechnen. Weil ich immer mal wieder Pausen für Kaffee und Zigaretten mache und ich von Anfang an mit einer unrealistisch hohen Durchschnittsgeschwindigkeit gerechnet habe, verschiebt sich die berechnete Ankunftszeit während des Tages von 24 auf 2 Uhr. Schließlich stehe ich um halb drei Uhr nachts vor dem kleinen Reihenhaus meiner Eltern, die noch wach sind und auf mich warten, weil ich nachmittags von der Autobahnraststätte aus angerufen hatte.