Die Politik des Unpolitischen.
Zur Nietzsche-Rezeption in Deutschland — Eine Zwischenbetrachtung
Harders, Gerd: Politik des Unpolitischen. Zur Nietzsche-Rezeption in Deutschland — Eine Zwischenbetrachtung, Val Másino / Bärenklau September 1996—Mai 1997 (unveröffentlichtes Manuskript, Diplomarbeit bei Prof. Arnhelm Neusüss / Prof. Wolf-Dieter Narr im Mai 1997, Freie Universität Berlin, Fachbereich Politische Wissenschaft)
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abkürzungen und Hinweise zur Zitation
I. Unzeitgemässe Betrachtungen 26
Ganz grundsätzliche »Einstimmung« 26
Werthgesichtspunkte 29
Der Welt einen Sinn verleihen 37
Untergang oder Morgenröte 45
II. Psycholog der Guten, Freund der Bösen 49
Deutsches Deutschland — Rationaler Irrationalismus 49
Deutsches Exil — Aufklärung der Aufklärung 66
Im »Reich des Bösen« — Dogmatischer Dogmatismus 73
III. Hic et nunc: Nihilism — Ein vorläufiger Schluß 88
Die eigentliche Herausforderung 91
Der ganz alltägliche Nihilismus 101
Ein vorläufiger Schluß
Anhang
Anmerkungen
Nachweis der Abschnittstitel und -mottos
Literaturverzeichnis
Personenregister
Verzeichnis der Abkürzungen und Hinweise zur Zitation
Sämtliche Hervorhebungen in den Zitaten entsprechen — soweit nicht besonders angemerkt — dem Original. Auch die den heutigen Gepflogenheiten nicht immer entsprechende Orthographie wurde jeweils beibehalten. Nietzsche wird im folgenden zitiert unter Angabe des Werktitels, der Abschnitts- und Stücknummer sowie der Bandnummer und der Seitenzahl in der KSA (Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Her-ausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 21988 (Berlin / New York 1967—77)). Für die Werke Nietzsches werden die Siglen der KSA verwandt:
GT Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (11872, 21874 [1878]) = Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechen-thum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik (1886), KSA, Bd. 1, S. 1—156
HL =UB II (s. UB)
CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (1872), KSA, Bd. 1, S. 753—792
PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873), KSA, Bd. 1, S. 799—872
WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873), KSA, Bd. 1, S. 873—890
UB Unzeitgemässe Betrachtungen: Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller (1873). Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874). Drit-tes Stück: Schopenhauer als Erzieher (1874). Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth (1876), KSA, Bd. 1, S. 157—510
MA Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1879) = Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Bande. Neue Ausgabe mit einer einführen-den Vorrede (1886). Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) und Der Wanderer und sein Schatten (1880) = Mensch-liches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zwei-ter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1886), KSA, Bd. 2
M Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile (1881). Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1887), KSA, Bd. 3, S. 9—331
FW Die fröhliche Wissenschaft (1882); Die fröhliche Wissen-schaft (»la gaya scienza«). Neue Ausgabe mit einem An-hange: Lieder des Prinzen Vogelfrei. (1887), KSA, Bd. 3, S. 343—651
Za Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (1883, 1884, 1885), KSA, Bd. 4
JGB Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. (1886), KSA, Bd. 5, S. 9—243
GM Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), KSA, Bd. 5, S. 245—412
WA Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (1888), KSA, Bd. 6, S. 9—53
GD Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer phi-losophirt (1889), KSA , Bd. 6, S. 55—161
AC Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum (1888), KSA, Bd. 6, S. 165—254
DD DIONYSOS-DITHYRAMBEN (1888 – vgl. zur Entstehung Colli: Nachwort zu Bd. 6 der KSA, ebd. S. 447–458, insb. S. 454 ff. ), KSA, Bd. 6, S. 375—411
EH Ecce homo. Wie man wird was man ist (1908 (1889)), KSA, Bd. 6, S. 255—374
Aus den nachgelassenen Fragmenten (NgF) wird unter Angabe des Entstehungs-Zeitraums und der von den Herausgebern der KSA vorgenommenen Numerierung, sowie der Bandnummer und der Seitenzahl in der KSA zitiert (z. B.: NgF, Sommer 1886—Herbst 1887, 5 [9], KSA 12, S. 187).
Eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeiten zu Nietzsche bezieht sich auf die von dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche herausgegebene Kompilation Der Wille zur Macht (WM2). Hier wird nach Abschnitt (Buch) und Stücknummer der heute ›kanonischen‹ zweiten Auflage , die erstmals in der Taschen-Ausgabe von 1906 veröffentlicht wurde, zitiert (Nietzsche, Friedrich: Friedrich Nietzsche’s Werke. Taschen-Ausgabe, zehn Bände (zuzüglich einem späteren elften Band; alle herausgegeben von Elisabeth Förster-Nietzsche), Leipzig (2)1906; hier: Bd. IX—X); außerdem wurde, wo dies möglich war, zusätzlich die Fundstelle in den Nachlaßbänden der KSA angegeben.
Die Briefe Nietzsches werden zitiert unter Angabe des Empfängers und des Datums, sowie der Bandnummer und der Seitenzahl in der KSB (Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Herausgege-ben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 1986 (Berlin / New York 1975—1984)).
Zu den Zitaten anderer Autoren werden, um das Auffinden in abweichenden Ausgaben zu erleichtern, zusätzlich zu den üblichen Angaben zwei Ebenen der Kapitel- und Abschnittsbezeichnungen in eckigen Klammern […] angegeben. Zitate aus Liedern werden unter Angabe des Autors, des Titels sowie des Interpreten, des Albums und des Erscheinungsjahres notiert. Der Name der Interpreten wird in KAPITÄLCHEN gesetzt.
Die Nachweise der für die Abschnittstitel und -mottos benutzten Zitate werden separat im Anhang erbracht.
Wer Etwas von mir verstanden zu
haben glaubte, hat sich Etwas aus
mir zurecht gemacht, nach seinem
Bilde —
He’s the one
who likes all our pretty songs
and he likes to sing along
and he likes to shoot his gun
but he don’t know what it means
Einleitendes
Zwei Jahrhunderte
zuerst nach oben
›Ich komme zu früh‹, sagte er
dann, ›ich bin noch nicht an der
Zeit […]‹
Die Rezeptionsgeschichte Nietzsches ist zugleich auch die Geschichte seiner politischen Inanspruchnahme. Linke wie Rechte, Konservative wie Revolutionäre, Christen und Juden ebenso wie Atheisten haben sich auf ihn berufen. Der unsystematische Charakter seiner Schriften erleichtert den interpretierenden Zu-griff, der eigentliche Nietzsche ist — wenn überhaupt — ohne weiteres nicht auszumachen. So dass immer verschiedenste, zum Teil diametral entgegengesetzte Deutungen Nietzsches möglich waren und sind, und: die allermeisten dieser Deutungen können mit gutem Recht beanspruchen, Nietzsche zu interpretieren. Die Heterogenität, ja Widersprüchlichkeit seines Werkes provoziert diese einander widersprechenden Interpretationen. Nicht immer fällt es leicht, Nietzsche hinter diesen Deutungen zu entdecken, doch auch die Instrumentalisierung zu fremden Zwecken wirft noch ein Licht auf den Instrumentalisierten. Trotzdem — oder: deshalb — gehört Nietzsche zu den einflussreichsten Denkern der letzten hundert Jahre. Und dies gilt nicht nur für den Bereich der Philosophie: die Sozialwissenschaften beziehen sich auf ihn ebenso wie die Psychologie und Psychoanalyse, Nietzsche wird als Altphilologe ebenso gelesen wie als Religionsstifter, er inspiriert Lyriker, Dramatiker und Romanciers ebenso wie nüchterne Juristen und Historiker.(1)
Insbesondere in Deutschland gehörte es viele Jahre zum guten Ton (und wurde als intellektuelle Verpflichtung empfunden), sich mit Nietzsches Gedanken auseinanderzusetzen; so wie es dann viele Jahre zum ›schlechten‹ Ton(2) gehörte. Nietzsche galt nun als moralisch gefährlich, der nationalsozialistischen Ideologie verwandt oder einfach als Protofaschist. Die Interpreten beschränkten sich nun darauf, den geraden Weg von Nietzsche zu Hitler aufzuzeigen oder im Gegenteil jede politische Deutung Nietzsches — sei es jene des Nationalsozialismus oder die seiner Gegner — zu verwerfen und Nietzsche als philosophisch-ästhetisches Phänomen zu beschreiben. Diese polare Deutung Nietzsches hielt — von wenigen Ausnahmen abgesehen — bis in die achtziger und neunziger Jahre an. Heute scheint diese polarisierende Kraft Nietzsches nachzulassen, sein Werk selbst verblasst hinter dessen Wirksamkeit. André Gide hat bereits 1898 die These vertreten, »daß Nietzsches Einfluß wichtiger ist als sein Werk, oder gar, daß sein Werk nur eines des Einflusses ist«(3). Heute — so könnte man hinzufügen — scheint auch die Auseinandersetzung mit diesem Einfluß wichtiger geworden zu sein, als die Auseinandersetzung mit dem Werk. Nicht mehr Nietzsche wird interpretiert, sondern seine Interpreten. Die Geschichte seiner Rezeption bestimmt die neuere Literatur.
Die vorliegende Arbeit will einen Gang durch diese Rezeptionsgeschichte unternehmen. Eine eindeutige Systematisierung oder Schematisierung (etwa in die lebensphilosophische oder die marxistische Interpretation) und chronologische, wie inhaltliche Einordnung der Nietzsche-Rezeption scheint aufgrund der Viel-fältigkeit der Deutungsrichtungen nicht möglich. Es lassen sich jedoch Wegmarken der Rezeptionsgeschichte bezeichnen: Die erste dieser Markierung ist der Moment, an dem »das Ingenium in Nietzsche mit Recht sich entschieden hatte, die Kommunikation mit der Welt abzubrechen«(4). Die zweite Wegmarke ist das Ende des Deutschen Kaiserreiches 1918, die dritte ist an den Übergang der geistigen, wie politischen Macht in Deutschland an den Nationalsozialismus gebunden. Die vierte Markierung schließlich ist das Erscheinen der neuen kritischen Gesamtausgabe von Colli / Montinari ab 1967.
Orientiert an diesen Wegmarken ist auch die vorliegende Arbeit gegliedert: In einem ersten Schritt sollen die verwendeten Begrifflichkeiten geklärt und der Rahmen dieser Arbeit damit abgesteckt werden. Das Erste Kapitel widmet sich der Rezeption in der Endphase der Wilhelminischen Ära im Übergang zur Weimarer Republik. Im zweiten Kapitel wird einerseits die nationalsozialistische Nietzsche-Deutung und ihre Vorläufer, andererseits die Reaktion auf diese Vereinnahmung dargestellt. Das dritte Kapitel widmet sich dann den neueren Nietzsche-Deutungen.
Da bis heute eine schier unendliche Fülle an Material zu und über Nietzsche und eine völlig unübersehbare Menge an von Nietzsche inspirierten Texten entstanden ist, müssen bei einem solchen Unterfangen zwangsläufig viele Autoren, ja ganze Zweige der Nietzsche-Rezeption ausgeblendet werden. Die politische Inanspruchnahme durch den deutschen Nationalsozialismus — die in ihrer Art wohl einzigartig in den Geisteswissenschaften gewesen sein dürfte(5) und immerhin so erfolgreich war, dass Nietzsche noch heute manchem als faschistischer Ideologe gilt — legt eine doppelte Eingrenzungen des untersuchten Materials nahe: Einerseits soll der Schwerpunkt der Betrachtung auf politisch inspirierten Deutungen Nietzsches liegen. In das Blickfeld werden also vornehmlich Autoren und Texte geraten, die Nietzsche als politisch relevant verstanden wissen wollen. Jedoch auch innerhalb dieser Eingrenzung kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, vielmehr soll hier wiederum der Fokus auf die deutsche Nietzsche-Rezeption gesetzt und jeweils prägnante Deutungen vertiefend betrachtet werden. Aus dem sich so entwickelnden Bild der unterschiedlichen Bilder, die von Nietzsche entworfen wurden, soll dann eine Zwischenbetrachtung dessen gezogen werden, was Nietzsche und sein Philosophieren heute bedeuten kann.
Paul Konrad Liessmann beantwortete diese Frage in einem Aufsatz zum 150. Geburtstag Nietzsches mit der Verschreibung als »Brechmittel« für all jene, denen »wieder einmal schlecht geworden sein sollte vor Betroffenheit und politischer Korrektheit«(6). Ob allein diese medizinische Indikation die weitere Auseinandersetzung mit Nietzsche bestimmen wird, er nur als prägnantes Phänomen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts zu bewerten ist oder sein Philosophieren wesentlich in unserem heutigen Denken fortwirkt, soll durch die Betrachtung seiner Rezeptionsgeschichte deutlicher werden.
Zugunsten der inhaltlichen Kontinuität der einzelnen Deutungsstränge muss dabei eine gewisse chronologische Diskontinuität hingenommen werden. In der Orientierung auf einzelne Denker beziehungsweise Denkrichtungen sollte aber die Entwicklung der unterschiedlichen Sichtweisen auf Nietzsche im Verlauf der letzten hundert Jahre insgesamt deutlich werden. Dabei soll jedoch die Angemessenheit oder Unangemessenheit der unterschiedlichen Deutungen und Lesarten nicht im Vordergrund der Fragestellung stehen, das heißt es ist dieser Arbeit nicht darum zu tun, über Richtig oder Falsch der Interpretationen zu urteilen. Vielmehr soll — ausgehend von der oben angedeuteten These, es liege im Wesen des Nietzscheschen Werkes, nahezu jede Interpretation mit einigem Recht zuzulassen — das aus Nietzsches Werk gezogene Gedankenmaterial in seiner jeweiligen Deutung dargestellt werden. Eine Bewertung der unterschiedlichen Deutungen kann und will diese Arbeit nicht vornehmen, dies muß Einzelbetrachtungen der jeweiligen Interpretationen in ihrem Verhältnis zu Nietzsche vorbehalten bleiben und setzt zudem eine Klärung der eigenen Nietzsche-Deutung voraus. Allerdings ist hinzuzufügen, was Norbert Kapferer in Bezug auf seine Darstellung der Feindbilder der DDR-Philosophie anmerkt: »Implizite Kritik erwächst allerdings auch durch den philosophischen Standort: Der Verfasser dieser Arbeit hält Philosophie, die durch staatliche, parteiliche, administrative Konstellationen in ihrer Entfaltung gegängelt wird, für defizitär.«(7) Dass darüber hinaus schon in Auswahl und Darstellung der Nietzsche-Deutungen auch — unausgesprochene — Bewertungen einfließen, muß hier nicht näher erläutert werden. Die Beschreibung der unterschiedlichen Deutungen ist selbstverständlich geprägt von einer untergründigen Wertung — im Sinne eines der Methode dieser Arbeit vorgelagerten Grundes. Denn wenn auch immer wieder die Unmöglichkeit eines eigentlichen Nietzsche betont wird, ist dennoch ein — dem Verfasser der vorliegenden Arbeit — eigentümlicher Nietzsche unabdingbar. Gerade die Wirkungsgeschichte Nietzsches zeigt überdeutlich, daß konkurrierende Interpretationen sich immer wieder ablösen, und zuletzt hat Nietzsche selbst die Verzögerung der vollen Verständlichkeit und der Wirksamkeit seiner Schriften um zwei Jahrhunderte angekündigt. Hier also soll lediglich der Status quo dargestellt und eine Art Halbzeit-Resümee gezogen werden.
Die Politik des Unpolitischen nach oben
Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen.
Bis 1889, bis zu Nietzsches »Turiner Himmelfahrt«(8) wurde sein Werk öffentlich praktisch nicht wahrgenommen. Vereinzelte Besprechungen in Zeitschriften und der Zuspruch seiner wenigen Freunde waren alles, was an Wirkung zu verzeichnen war. Fritz Giese berichtet, daß er von den 40 für seine Freunde und Förderer bestimmten Exemplaren des als Privatdruck erschienen vierten Teiles des Zarathustra nur ganze sieben verschenken konnte; »so einsam waren der Verfasser und sein Buch noch 1885!«(9) Einzig Georg Brandes hielt 1888 an der Universität Kopenhagen eine Vorlesung über Nietzsches »Aristokratischen Radicalismus«(10), die jedoch erst 1890 in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Ab diesem Jahr jedoch wurde deutlich, was Nietzsche schon 1887 vermutet — oder gehofft — hatte: »Ich habe einen ›Einfluß‹, sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht.«(11) Dieser ›Einfluß‹ schien sich nun auszuwirken: Steven Aschheim zeigt, »daß buchstäblich alle an der literarischen Öffentlichkeit Interessierten sich während der neunziger Jahre einer Konfrontation mit Nietzsche — mit dem Mann, mit seinem Bild und seinem Werk — stellen mußten.«(12) Hier erst beginnt eigentlich ›Zarathustras Untergang‹.
Die Wirkungsgeschichte Nietzsches ist wesentlich die seiner politischen Wirksamkeit. Daß ein nicht unerheblicher Teil der Nietzsche-Auseinandersetzung sich als explizit unpolitisch bezeichnet, ist nur Ausdruck dieser politischen Wirksamkeit. Denn einerseits hat eine öffentlich sich ausdrücklich unpolitisch nennende Stellungnahme — wenn sie sich denn Gehör zu verschaffen in der Lage ist — mindestens gesellschaftliche, kulturelle Folgen; wenn sie aber gerade ihre Unpolitik zum wesentlichen Grund der Stellungnahme erklärt, auch politische Folgen. Andererseits — und dies soll im folgenden näher betrachtet werden — enthält jene sich unpolitisch nennende Haltung der Wilhelminischen Ära aus Sicht eines heutigen Politikbegriffes eindeutig politische Analysen, Folgerungen und Forderungen. Wie ungeklärt der Begriff des Politischen auch immer sein mag, haben doch heute — zumindest — im deutschen Sprachraum noch immer die Definitionen Max Webers Geltung: politisch orientiertes Handeln bezweckt die Beeinflussung des Handelns politischer Verbände; diese wiederum werden definiert als Herrschaftsverbände, die ihren Bestand und die Geltung ihrer Ordnungen innerhalb eines bestimmbaren Gebietes »kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen Zwangs seitens des Verwaltungsstabes« garantieren.(13) Für den Betrachtungszeitraum und -ort gilt also jede Äußerung (jedes soziale Handeln) als politisch, das sich auf die Veränderung oder Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnungen richtet. Und: auch in diesem Sinne unpolitische Äußerungen erlangen politische Relevanz, wenn sie zu jenem Zweck instrumentalisiert werden; hierin eingeschlossen sind selbstverständlich auch sozial- und kulturwissenschaftliche Äußerungen. Dies soll gemeint sein, wenn hier von der Politik des Unpolitischen und der politischen Wirksamkeit Nietzsches gesprochen wird.
Tatsächlich waren die ersten zwei bis drei Jahrzehnte der Nietzsche-Rezeption bestimmt von sich als unpolitisch bezeichnenden Deutungen. Dass daneben auch eindeutig und offen politisch orientierte Interpretationen bestanden, wurde oben angedeutet; sie fallen allerdings paradoxer Weise zum größten Teil in ihrer politischen Wirksamkeit hinter die unpolitischen zurück.(14) Wichtig für diese erste Phase war vor allem die Rezeption in den künstlerischen, literarischen Zirkeln der neunziger Jahre und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts.
»In ihrer Abkehr von der Kultur des Establishments und in ihrem Verlangen nach Überwindung des 19. Jahrhunderts sah sich die Avantgarde durch Nietzsche bestärkt. Er gab ihr die Kraft zur radikalen Kritik des Positivismus und zur Revolte gegen den Materialismus. Er bestärkte sie in ihrer Neigung zur Lebensphilosophie, in ihrem Irrationalismus und ihrer feierlichen Verabschiedung der Aufklärung.«(15)
Als die einflußreichste dieser Gruppen muß der Kreis um Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George betrachtet werden. Nicht nur weil wichtige Vertreter der deutschsprachigen Dichtung, Literatur und Geisteswissenschaft sich hier versammelten, sondern auch weil, über die hier ihren geistigen Mittelpunkt findende ›Schwabinger Szene‹, eine ganze Generation deutscher Künstler und (Geistes- und Kultur-) Wissenschaftler zumindest indirekten Kontakt zu diesem Kreis hatte.(16) So unterschiedliche Männer wie der Chemiker, ›Seelenforscher‹ und Antisemit Klages, der Lyriker George, der jüdische Lyriker Karl Wolfskehl oder der später mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Philosoph Ernst Bertram waren Mitglieder dieses Zirkels. Und wenn auch die Mitglieder des Georgekreises von Herkunft und sozialem Stand recht unterschiedlich waren und was ihre damaligen, vor allem aber ihre späteren politischen Präferenzen anging kaum hätten unterschiedlicher sein können, nahmen sie doch alle gleichermaßen für sich in Anspruch Nietzsche unpolitisch zu deuten, gerade das Unpolitische an Nietzsche hervorzuheben. Nietzsches Übermensch diente als Vorbild des schaffenden Künstlers, des künstlerischen Schöpfers. Nietzsches Wille zur Macht wurde nicht als einer der politischen Macht, sondern als »die Macht des Sehers, der die Nation vor allem mit Hilfe der Schönheit […] verändern würde«(17) verstanden. Nicht Politik oder Wissenschaft galten ihnen als Wegweiser zu Wahrheit und Erlösung, sondern die schöpferische, prophetische Kraft der Kunst: »Der Dichter als Wegweiser für die Zukunft.«(18) Nietzsche wurde als neuer Mythos gefeiert, als Religionsstifter und heiliger Wahnsinniger, der seinen Geist der großen Sache geopfert hatte. Diese große Sache aber war das Leben selbst.
»Von Nietzsche übernahmen die Mitglieder des Georgekreises zumeist ihre wissenschaftsfeindliche Einstellung und ihren vitalistischen Ästhetizismus. Schablonenhaft bedienten sie sich der nietzscheanischen Konzeptionen des Heroischen und Mythischen — die sie dann ihrerseits auf Nietzsche anwendeten.«(19)
Doch die direkte Wirkung des Georgekreises beschränkte sich zunächst auf eine sich selbst als geistige Elite verstehende kleine Gruppe von Intellektuellen, und auf diese eingeschränkt wollte er auch Nietzsche verstanden wissen. Im Sinne dieses geistigen Aristokratismus konnte Rudolf Pannwitz — ebenfalls Mitglied des Georgekreises — schreiben: »er ist kein prophet fürs volk sondern ein pro-phet für die propheten«(20). Und diese Einschätzung sollte sich in bestimmter Weise durchaus bestätigen: erst durch die Vermittlung anderer Denker — unter anderem eben auch aus dem Georgekreis — erlangte Nietzsche seine Bedeutung über die engen Zirkel der Avantgarde hinaus. Insbesondere die Darstellung Ernst Bertrams(21), aber auch die Interpretation Ludwig Klages’ bestimmte wesentlich das deutsche Nietzsche-Bild der zwanziger und dreißiger Jahre.
Eine andere einflußreiche, explizit unpolitische Sicht auf Nietzsche vermittelt Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen(22). Auch hier wird Nietzsche als Gewährsmann für den Kampf gegen die Ideale der Moderne in Anspruch genommen. Die ›Politik‹, das ist für Mann die Demokratie, der Sozialismus, das Stimmrecht, das sind die Ideale der französischen Revolution. Die Politik ist der natürliche Feind all dessen, was Mann für wertvoll hält: Politik ist der Gegensatz von Geist.
»Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivili-sation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.«(23)
Kampf der germanischen Stämme gegen das Imperium Romanum, der Protest Luthers gegen die römische Kirche, der Krieg des Wilhelminischen Kaiser-reiches gegen das romanische Frankreich.(24) Deutschland gegen Rom, das ist wesentlich Thema der Betrachtungen, und Rom, das ist Frankreich, das ist die westliche Welt insgesamt, das ist auch Amerika — »jenseits des Ozeans, wo das neue Kapitol steht«(25) —, ja gerade auch Amerika. Das Musterland der Demokratie und des Utilitarismus: wo fände sich die französische Revolution umfassender verwirklicht? Doch die Feindschaft zwischen der romanischen und der deutschen Welt gilt Mann als eine natürliche, von Beginn an gegebene Feindschaft. Schlimmer, verachtungswürdiger sind jene Deutschen, die sich nach dieser romanischen Welt sehnen, die Deutschland demokratisieren und zivilisieren wollen. Die den Geist gegen die Politik eintauschen wollen, es für sich selbst schon getan haben und nun ganz Deutschland romanisieren wollen.(26)
Hier spricht das alte, das konservative Deutschland. Thomas Mann war sich der Aussichtslosigkeit seines Kampfes gegen die westlichen, demokratischen Ideale durchaus bewußt. Am Ende des Krieges schien auch ihm eine ›Politisierung‹ Deutschlands unausweichlich. Sein Protest dagegen markiert das Ende des alten Konservatismus(27). Für ihn hatte Nietzsche den Anfang dieses Endes eingeläutet. Dabei war die Sicht Thomas Manns auf Nietzsche ambivalent wie das Werk Nietzsches selbst. Einerseits konnte er sich auf Nietzsche unumwunden beziehen, in seiner Polemik gegen die Gleichmacherei der Demokratie und des Sozialismus, konnte die ursprüngliche gedankliche Einheit von Christentum und Humanitarismus(28) bei Nietzsche bestätigt finden:
»[…] die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die ›freie Gesellschaft‹ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der autonomen Heerde«(29)
Dies ist der Nietzsche des Thomas Mann, des sozial gedeuteten Willens zur Macht. Hier wird »die ungeheure Männlichkeit seiner Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratismus«(30) deutlich. Nietzsche ist Mann der Kronzeuge seines Antidemokratismus. Und hier ist Nietzsche deutsch:
»— was wäre deutscher? Was wäre deutscher, als seine Verachtung der ›modernen Idee‹, der ›Idee des achtzehnten Jahrhunderts‹, der ›französischen Idee‹, auf deren englischen Ursprung er besteht: die Franzo-sen, sagt er, seien nur ihre Affen, Schauspieler, Soldaten gewesen — und ihre Opfer«.(31)
Wenn Mann Nietzsche den größten und erfahrensten Psychologen der Dekadenz nennt,(32) dann steht auch hier die geistige Verwandtschaft mit ihm selbst, dem Verfasser der Buddenbrooks, dieser Chronik des Verfalls der bürgerlichen Welt des neunzehnten Jahrhunderts, im Vordergrund. Doch in seiner Haltung eben dieser Welt des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet, muß Thomas Mann nun — 1918 — das Ende dieses Verfalls, das Ende dieser Welt konstatieren. Die Dekadenz der bürgerlichen Epoche geht zu Ende, da die bürgerliche Epoche zu Ende geht, überholt wird von einer neuen westlichen, demokratischen, eben politischen Zeit. Und an diesem Prozess ist auch Nietzsche beteiligt, er ist für Mann zugleich deutsch und antideutsch, er ist Antidemokrat und hat doch »zur Demokratisierung Deutschlands stärker beigetragen, als irgend jemand.«(33) Mann hat Nietzsche durchaus in all seiner Ambivalenz aufgenommen, in ihm auch die eigene Ambivalenz und Widersprüchlichkeit entdeckt. Er kann Stefan George zu recht vorwerfen, Nietzsche zu verkennen und zu verkleinern, wenn er in ihm nur den großen Poeten, einen neuen Hölderlin sieht, wenn er sagt, »daß diese Stimme hätte singen mögen, statt ›bloß‹ zu reden«(34). Denn, wenn er auch den ›singenden‹ sehr zu schätzen wusste, für Mann zeigte sich der ›wichtige Nietzsche‹ gerade in jenem Reden. Der »Prosaist und Psychologe«(35) war es, den er bewunderte und der doch durch »seine äußerst westliche Methode«(36) die Europäisierung und Radikalisierung Deutschlands voran- und damit Deutschland selbst der Politik, der die konservative Bürgerlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts bedrohenden Demokratie entgegentrieb. Anders also als die Mitglieder des Georgekreises — wie etwa der langjährige Freund Ernst Bertram — hat Thomas Mann sich gegen eine Mythologisierung Nietzsches gesperrt und sich gegen seine Ästhetisierung abgegrenzt. Er betont, mit dem von Nietzsche inspirierten, besonders um die Jahrhundertwende blühenden Ästhetizismus weder damals noch heute etwas zu schaffen zu haben, »— womit nicht gesagt ist, daß er mir nicht ›zu schaffen gemacht‹ hätte.«(37)
Insbesondere in den Betrachtungen eines Unpolitischen zeigen sich die Widersprüchlichkeiten Nietzsches und seiner Interpreten, aber auch die Schwierigkeiten der Begrifflichkeit: Thomas Manns Unpolitik erscheint aus einer heutigen Sicht als eindeutig politische Haltung. Wenn er den »Romanen« vorwirft, »die Politisierung Nietzsches, das ist die Verhunzung Nietzsches, nichts anderes«(38) , so wird man heute nicht umhinkönnen, auch Manns Inanspruchnahme Nietzsches zugunsten einer konservativen Bürgerlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts politisch zu nennen.
Die Dichotomisierung ›politisch / unpolitisch‹ ist also mit erheblichen Schwierigkeiten belastet. Für die Auswahl der im folgenden besprochenen Nietzsche-Deutungen wurde jeweils die politische Wirksamkeit als Maßstab genommen. Hier kann unter Umständen auch ›nur‹ ein sozialwissenschaftlicher Anschluß in-begriffen sein, insofern dieser wiederum politische Wirkungen verursacht oder doch zumindest intendiert. Dies besonders unter dem Gesichtspunkt, daß erst durch die Einbettung Nietzsches in sozial- und geschichtswissenschaftliche Theorien eine umfassende Politisierung und politische Indienstnahme seiner Gedanken tatsächlich möglich wurde, wie es sich etwa im Gang der unterschiedlichen In-terpretationen von Simmel über Klages zu Baeumler (und damit zur praktischen Politisierung Nietzsches für die Propaganda des Nationalsozialismus) zeigt.
Deutschthümliche Bestrebung nach oben
hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit für den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann — in meinen höchsten Augenblicken
Eine Nietzsche-Interpretation zeichnet sich in besonderer Weise vor allen anderen aus: die seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Der von Elisabeth »willkürlich und zufällig« ausgewählte und »nach Nietzsches Tod aus seinem Nachlaß zusammengestückelt[e]«(39) Wille zur Macht ist spätestens seit der kritischen Gesamtausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari zu den Akten der Nietzsche-Interpretation zu legen. Doch nicht nur jene Kompilation auch die beiden von seiner Schwester vorgelegten Biographien Nietzsches und die von ihr in zahlreichen Aufsätzen und Briefen verbreiteten Details aus seinem Leben gehören zur Interpretationsgeschichte — wo nicht gar zur Fälschungsgeschichte. Die These eines unvollendeten Hauptwerkes Der Wille zur Macht wurde bereits 1906/07 von den Brüdern Horneffer — beide Mitarbeiter des von Elisabeth Förster-Nietzsche geleiteten Nietzsche-Archivs in Weimar — widerlegt und soll hier nicht weiter erörtert werden.(40) Wichtiger scheint hier der Einfluß, den die Kompilation mindestens bis in die siebziger Jahre hinein auf die Rezeptionsge-schichte Nietzsches hatte. Zusammen mit den Weglassungen, Umdeutungen und puren Fälschungen der Fakten seines Lebens und der ›eigenwilligen‹ Publikation seiner Briefe sollte der Wille zur Macht Nietzsche hoffähig machen — und zwar im Sinne des Wortes. Es ging darum, einen familien- und kaisertreuen, pa-triotischen, kriegerischen, kurz: einen deutschen Nietzsche zu zeigen.(41) Der Nietzsche, der »durch seinen ›Militarismus‹ und sein Macht-Philosophem« die »deutsche Geistigkeit beeinflußt«(42) hat, war zu einem guten Teil der Nietzsche Elisabeths — wenn sie ihn auch nicht erfinden mußte, so war doch diese öffentliche (politische) Wirkung ihrer Selektion und (Um-) Deutung geschuldet. Wie erfolgreich sie jedoch ihr Bild des Bruders in der Öffentlichkeit präsentiert hat, mag durch die erstaunliche Dauerhaftigkeit dieses Bildes dokumentiert sein. Auch lange nachdem sie sich durch ihre Aktivitäten selbst in Verruf gebracht und nahezu der Lächerlichkeit preisgegeben hatte — Aschheim zitiert zeitgenössische Berichte von den »›Übermenschenkaffeekränzchen‹«, die zur Feier ihrer Geburtstage im Nietzsche-Archiv in Weimar abgehalten wurden(43) —, blieben doch die von ihr vorgelegte Biographie und vor allem Der Wille zur Macht eine wichtige — für viele die wichtigste — Quelle der Auseinandersetzung mit Nietzsche. Und dass dies nicht nur für die deutsch-nationale oder nationalsozialistische Nietzsche-Deutung etwa eines Alfred Baeumler galt, belegen Autoren wie Martin Heidegger, Georg Lukács oder Albert Camus.
Wie auch immer die Aktivitäten Elisabeth Förster-Nietzsches im einzelnen einzuschätzen sind, sie waren im allermindesten geeignet, die politischen Wirkungen Nietzsches zu verstärken. Der Wille zur Macht war, obgleich philologisch lange widerlegt, faktisch für rund zwei Generationen Nietzsches Hauptwerk.
Anmerkungen
(1) Dass die Aufzählung einzig sich in Sprache ausdrückende Wirkungen Nietzsches enthält, ist meiner eigenen Fixiertheit auf dieses Medium geschuldet; sicherlich wäre auch der Einfluß Nietzsches auf die Musik (etwa auf Gustav Mahler), den modernen Tanz oder die bildenden Künste und das Kulturleben insgesamt nachzuweisen. An exponierter Stelle wäre hier der Futurismus zu nennen, aber auch der Jugendstil beruft sich explizit auf Nietzsche — und der Surrealismus (jeder Kunstrichtung): Ernst Bloch sagt von ihm: »Hier ist dauernde Überschneidung des eingestürzten Vorher, Nachher, Unten, Oben und dahinter Finsternis.« Dies scheint die Kunst des ›tollen Menschen‹ (Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 1985 (1935), S.241 [Romane der Wunderlichkeit und montiertes Theater]; vgl. FW, Drittes Buch, 125., KSA, Bd. 3, S.480 f.).
(2) Mit Nietzsche müsste richtiger vom ›bösen‹ Ton gesprochen werden.
(3) Gide: Briefe an Angèle, 10. Dezember 1898, in: ders.: Prétextes, o. O. u. J. (übersetzt von Werner Hamacher; zitiert nach: Hamacher: Echolos. Vorbemerkung, in: ders. (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main / Berlin 1986, S.5)
(4) Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main (22)1994 (1951), S. 279 [Dritter Teil. 1946—1947, 133]
(5) Von der schauerlichen ›Einzigartigkeit‹ des deutschen Nationalsozialismus ganz zu schweigen!
(6) Liessmann: »Nur Narr! Nur Dichter!«. Friedrich Nietzsche zum 150. Geburtstag, in: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 42, 14.10.1994, S.10
(7) Kapferer: Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945—1988, Darmstadt 1990, S.7 [Einleitung]
(8) Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1990 (1989), S.726 [Turiner Himmelfahrt]
(9) Giese: Nietzsche — Die Erfüllung —, Tübingen 1934, S.57 [V. Menschen der Großen Gesundheit]
(10) In Deutsch zuerst: Brandes: Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche, in: Deutsche Rundschau, Bd. LXIII (1890), S.67—81; heute in Auszügen leicht zugänglich in: Guzzoni (Hg.): 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1991 (1981), S.1—15
(11) An F. Overbeck, 24.03.1887, KSB, Bd. 8, S.48
(12) Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Aus dem Englischen von Klaus Laermann, Stuttgart / Weimar 1996 (1992), S.18 [Deutschland und der Kampf um Nietzsche]
(13) Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen (5)1972 (1921), S.29 f. [Erster Teil. Soziologische Kategorienlehre, Kapitel I. Soziologische Grundbegriffe]
(14) Zu dem kleineren Teil der durchaus wirksamen s.u. S.26 ff.,
I. Unzeitgemässe Betrachtungen.
(15) Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., S.51 [Nietzscheanismus der Avantgarde]
(16) Dieser indirekte Kontakt reichte bis zu Thomas Mann, Carl Gustav Jung und Max Weber (vgl. Green: Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern, München 1996 (1974)).
(17) Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., S.73 [Nietzscheanismus der Avantgarde]
(18) MA, II., 1. Vermischte Meinungen und Sprüche, 99., KSA, Bd. 2, S.419
(19) Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, a. a. O., S.74 [Nietzscheanismus der Avantgarde]
(20) Pannwitz: Einführung in Nietzsche, München-Feldafing 1920, S.4
(21) Vgl. Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin (5)1921 (1918).
(22) Vgl. Mann, Th.: Betrachtungen eines Unpolitischen. Mit einem Vorwort von Hanno Helbling, Frankfurt am Main 1988 (1918)
(23) Ebenda, S.23 [Vorrede]
(24) Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind zwischen 1915 und 1918 entstanden und Thomas Mann selbst nennt die Arbeit daran einen »Gedankendienst mit der Waffe« (ebenda, S.1 [Vorrede]).
(25) Ebenda, S.41 [Das unliterarische Land]
(26) Es ist bekannt, daß Mann hier seinen Bruder Heinrich im Visier hat.
(27) Auch seines eigenen. Mann selbst hat Idee und Begriff der ›konservativen Revolution‹ mitgeprägt: »Seine [Nietzsches] Synthese ist die von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, ›Gott‹ und ›Welt‹. Es ist, künstlerisch ausgedrückt, die von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservativismus und Revolution. Denn Konservativismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein, als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in den ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, nichts anderes als konservative Revolution.« (Mann, Th.: Zum Geleit (1921), in: ders.: Essays. Nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt am Main 1993, Bd. 2, Für das neue Deutschland, S.37). Die Herausgeber der zitierten Ausgabe sprechen davon, daß Mann hiermit den Begriff der ›konservativen Revolution‹ als erster in Deutschland bekannt machte (vgl. Kurzke / Stachorski: Kommentar, in: Mann, Th.: Essays, a. a. O., Bd. 2, Für das neue Deutschland, S. 309 [Zum Geleit, 37 (32) konservative Revolution]).
(28) Mit Humanitarismus soll im folgenden immer ein politischer Humanismus bezeichnet sein. In Abgrenzung also zu Begriffen wie etwa dem der humanistischen Bildung, ist hiermit immer eine politisch-moralische Haltung gemeint, die ein grundsätzlich optimistisches Menschenbild in der Tradition der Aufklärung impliziert (›liberté, égalité, fraternité‹).
(29) JGB, Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral, 202., KSA, Bd. 5, S.125
(30) Mann, Th.: a. a. O., S.75 [Einkehr]
(31) Ebenda.
(32) Vgl. ebenda, S.71 [Einkehr].
(33) Ebenda, S.78 [Einkehr]
(34) Ebenda; vgl. GT, Versuch einer Selbstkritik, 1., KSA, Bd. 1, S.15; vgl. George: Gedichte. Herausgegeben von Robert Boehringer, Stuttgart 1984, S.28 f. [Nietzsche (zuerst in: Blätter für die Kunst, Fünfte Folge (Mai 1901))]
(35) Mann, Th.: Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S.75 [Einkehr]
(36) Ebenda, S. 79 [Einkehr]
(37) Ebenda, S.531 [Ästhetizistische Politik].
(38) Ebenda, S.203 [»Gegen Recht und Wahrheit«].